Hintergrund

Konstruktiver Sozialismus II

Auf wie weit diese Versuche im Kleinen überhaupt einen bestimmten Wert im Sinne des Sozialismus haben können, dies zu erklären und darzulegen soll unsre Aufgabe sein.

Die Saint-Simonisten in Menilmontant

Aus: Die Internationale, Nr. 3, Jg. 1 (1928)

Von den praktischen Versuchen der alten Experimentalsozialisten in Frankreich erregte das Experiment der saint-simonistischen Schule im Jahre 1832 großes Aufsehen, obwohl es für die konstruktive Kraft der sozialistischen Idee wohl am wenigsten Bedeutung hatte. Aber die Regierung hatte gegen Enfantin und seine Anhänger eine Staatsaktion eingeleitet, die ebenso brutal wie lächerlich war, und durch dieses unsinnige Vorgehen wurde erst recht die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Unternehmen der Saint-Simonisten gelenkt.

Saint Simon war bereits sieben Jahre tot und seine Schule hatte manche tiefgehende Wandlung durchgemacht, als der Versuch unternommen wurde. Wir haben schon früher bemerkt, daß Saint-Simon kein Experimentalsozialist im üblichen Sinne gewesen ist; streng genommen war er sogar kein Sozialist, denn er hielt an dem Eigentumsrecht fest, doch erkannte er die Notwendigkeit einer Modifizierung der Eigentumsverhältnisse. Ein bedeutender Geist und Abkömmling eines der ältesten französischen Adelsgeschlechter, hatte er des Lebens Höhen und Tiefen kennengelernt und seinen Erscheinungen ein geradezu wissenschaftliches Interesse entgegengebracht, das sich auch nicht verminderte, als er sein Vermögen verloren, in bitterster Armut lebte und bis an den Rand der Selbstentleibung getrieben wurde.

Saint-Simon war einer der ersten, welcher die gewaltige Bedeutung der Industrie, die sich damals erst in ihren Anfangsstadien befand, vollständig erfaßte, während das Gros seiner Zeitgenossen über die gewöhnlichen Schlagworte der Tagespolitik nicht hinauskam. Er sah in der Industrie das Mittel, das die Menschheit aus wirtschaftlicher und politischer Versklavung erlösen sollte; deshalb hatte er sich als Motto für seine Ideen die Worte erkoren: „Alles durch die Industrie, alles für sie!“ In seiner Analyse der gesellschaftlichen Zustände bewies er oft einen erstaunlichen Scharfblick, und seine Fähigkeit, den historischen Zusammenhang der Ereignisse und ihre wirtschaftliche Bedingtheit zu erkennen, ließ ihn viele Dinge voraussehen, an die andere nicht dachten. Aber einen bestimmten Plan zur Heilung der sozialen Uebel hatte er nicht. In seinem Hauptwerk, „Le Nouveau Christianisme“, hatte er den Standpunkt vertreten, „daß es die Aufgabe aller sozialen Einrichtungen unseres Jahrhunderts sein müsse, stets die physische und moralische Verbesserung der zahlreichsten und ärmsten Klassen im Auge zu behalten,“ und diese Erkenntnis lag allen seinen Ideen und Vorschlägen zugrunde.

Aus diesem Grunde bekämpfte er jedes arbeitslose Einkommen und alle Privilegien in der Gesellschaft und erstrebte eine Vereinigung der Künstler, Gelehrten und Gewerbetreibenden, um der gesellschaftlichen Ordnung eine neue Grundlage zu geben. Nach seiner Meinung wechselten in der Geschichte stets organische und kritische Perioden, Perioden des Aufbaus und des Abbruchs, da die Grundlage der Gesellschaft bisher stets der Krieg gewesen sei. Erst wenn die Arbeit das Fundament der sozialen Ordnung bilde, werde der Krieg dem Frieden weichen müssen und die Gesellschaft werde sich nach dem Grundsatz organisieren: „Jedem nach seiner Fähigkeit; jeder Fähigkeit nach ihren Werken!“

Die praktischen Vorschläge Saint-Simons interessieren uns hier nicht, da sie nicht in den Rahmen dieser Studie fallen. Erwähnt sei nur sein Eintreten für ein industrielles Parlament, ein Vorschlag, aus dem schon der Gedanke durchschimmert, die diplomatische Routine durch wirtschaftliche Notwendigkeiten zu ersetten und alle Politik durch die Verwaltung der Industrie abzulösen.

Nach dem Tode des Meisters blieben der neuen Lehre nur wenige Anhänger, alles Leute aus den Reihen der besitzenden und intellektuellen Schichten der Gesellschaft. Saint-Simon hatte seinen Schülern eine große Anzahl fruchtbarer Ideen zurückgelassen, aber kein bestimmtes System. Dieses wurde erst später von den Saint-Simonisten entwickelt, die dabei zu bestimmten Schlußfolgerungen gelangten, die mit den ursprünglichen Lehren des Meisters wenig oder gar nichts zu tun hatten.

Seit 1827 hatte das politische Leben in Frankreich wieder radikalere Formen angenommen; die Juli-Revolution warf bereits ihre Schatten voraus. Durch rührige Arbeit war es den Saint-Simonisten gelungen, eine ganze Reihe neuer Anhänger zu gewinnen, wie denn überhaupt eine ganze Anzahl von Männern, die später jeder in seiner Weise berühmt wurden, in der Schule des Saint Simonismus ihre erste soziale Erziehung empfangen haben. Es seien hier nur genannt A. Comte, der Begründer des Positivismus. F. Lesseps, der spätere Erbauer des Suezkanals, A. Thierry, der bekannte Historiker, P. Leroux, Buchez, die Brüder Pereire usw. Diejenigen aber, welche auf die weitere Entwicklung des Saint-Simonismus den größten Einfluß hatten, waren Bazard und Enfantin. Beide gaben den Ideen Saint-Simons erst eine sozialistische Grundlage, aber in derselben Zeit auch ihren streng autoritären und hierarchischen Charakter. Bazard hatte in der Rue Taranne (1829—1830) eine Serie von Vorträgen gehalten, die viel Aufsehen erregten, und in denen er zu beweisen versuchte, daß sich die Menschheit einer neuen organischen Periode nähere, welche alle Völker zu einer großen geistigen Einheit und einem Glauben zusammenfassen werde. Als Ergebnis dieser Einigung verkündete er: 1. Allgemeine Verbrüderung auf die Liebe gegründet; folglich keine Konkurrenz mehr. 2. Jedem nach seiner Fähigkeit, jeder Fähigkeit nach ihren Werken; folglich kein Erbrecht mehr. 3. Organisation der Industrie; folglich keinen Krieg mehr. Bazard entwickelte dann den Plan einer hierarchisch gegliederten Wirtschaftsverwaltung, die in einem industriellen Papsttum gipfelte, während Enfantin hauptsächlich die Entwicklung des Saint-Simonismus zu einer neuen Religion mit den strengen Regeln einer Kirche und ihrem Zeremoniell im Auge hatte.

Durch die Juni-Revolution bekam der Saint-Simonismus einen mächtigen Anstoß. Zu den täglichen Versammlungen fanden sich oft bis 1500 Personen ein. Mit der Hilfe reicher Gönner war es der Schule sogar gelungen, eine tägliche Zeitung, „Le Globe“, zu kaufen, um ihre Ideen unter die Massen zu bringen. In derselben Zeit versuchte die Schule auch einen praktischen Schritt, um die Vorzüglichkeit des gemeinschaftlichen Lebens anschaulich zu erweisen. In der Rue Monsigny organisierte sich die sogenannte „saint-simonistische Familie“, um dem Kultus der Brüderlichkeit zu huldigen. Es handelte sich hier um einen gemeinschaftlichen Haushalt, wo die „Eingeweihten“ der Schule ihre Prinzipien praktisch zu betätigen versuchten. Allerdings konnte dies nur soweit geschehen, als ein gemeinschaftliches Zusammenleben in Frage kam, denn nur auf dieses war der Familienherd in der Rue Monsigny zusgeschnitten. Man wohnte zusammen, nahm die Mahlzeiten gemeinschaftlich ein, arrangierte gemeinschaftliche Feste, Vorlesungen, Diskussionsabende usw.

Die ganze Einrichtung des Haushalts wurde von den „Brüdern“ und „Schwestern“ selbst bestritten. Manche stellten der „Familie“ ihr ganzes Mobiliar zur Verfügung, andere wertvolle Bibliotheken; jeder gab etwas, so daß die Familie für ihre Einrichtungsgegenstände keinen Pfennig zu zahlen hatte. Ebenso wurden die meisten notwendigen Arbeiten gemeinschaftlich verrichtet, und zwar in den freien Stunden, welche den einzelnen zur Verfügung standen, wenn sie von ihrer täglichen Beschäftigung aus der bürgerlichen Gesellschaft in die „Familie“ zurückkehrten. Die Verwaltung des „Familienherdes“ war nach saint-simonistischen Prinzipien streng hierarchisch geordnet. Die „Brüder“ und „Schwestern“ erwählten selbst ihre „Väter“ und „Mütter“ und fügten sich freiwillig ihren Anordnungen.

Die Saint-Simonisten waren auch schon dazu übergegangen, einige Werkstätten auf der Grundlage des Assoziationsprinzips ins Leben zu rufen, in denen Arbeiter beschäftigt wurden, die sich ihren Ideen angeschlossen hatten. Allein alle diese Versuche gingen zugrunde, als sich innerhalb der Bewegung eine Spaltung vorbereitete. Anlaß dazu gaben Enfantins Ideen über die „Emanzipation des Weibes“, welche er den Schriften Fouriers entnommen hatte. Er hatte diesen Gedankengängen den Charakter eines erotischen Mystizismus gegeben, war aber damit auf den Widerstand vieler alter Schüler und besonders auf den Bazards gestoßen. Der Streit wurde in endlosen Diskussionen ausgetragen und führte zuletzt zu einer vollständigen Spaltung, wodurch die Bewegung so geschwächt wurde, daß sie nicht nur ihre Zeitung, sondern auch alle anderen Einrichtungen liquidieren mußte.

Enfantin zog sich darauf mit etwa vierzig Schülern, alles Techniker, Aerzte, Juristen, Dichter usw., nach seinem Familiengut in Menilmontant, nicht weit von Paris, zurück, um eine neue Lebensgemeinschaft zu begründen. Mit großer Begeisterung unterzogen sich die Kolonisten den härtesten und ungewohntesten Arbeiten. Das Haus wurde repariert, gemeinschaftliche Säle und Zimmer eingerichtet, Land urbar gemacht und einige Hausindustrien in Angriff genommen. Das ganze Leben war nach bestimmten Formen geregelt und nach Art einer Kirchengemeinde gegliedert, an deren Spitze der „Vater“ Enfantin stand. Die Arbeit begann morgens um sechs Uhr, nachdem der „Vater“ vorher seine Gemeinde zum Gebet vereint und mit ihr das Mahl gemeinsam eingenommen hatte. Felicien David hatte einige Hymnen der Schule in Musik gesetzt, die bei den gemeinschaftlichen Zusammenkünften und festlichen Gelegenheiten gesungen wurden. Ein anderer „Bruder“, E. Talabot, hatte eine besondere Kleidung für die Mitglieder der neuen Gemeinde entworfen, die aus einem blauen Ueberrock, einer eigenartigen Weste, die nur hinten geöffnet werden konnte, weißen Beinkleidern, einem ledernen Gürtel und einer Faltenmütze bestand. Die Kleidung mußte überall getragen werden, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und dadurch die Gelegenheit zu mündlichen Auseinandersetzungen mit Außenstehenden zu erleichtern. In Menilmontant war überhaupt alles auf die propagandistische Seite zugeschnitten.

So hatte jeder freien Zutritt zu der Gemeinde und konnte persönlich Anteil nehmen an allen religiösen Zeremonien, Feierlichkeiten und sonstigen Betätigungen der Kolonisten. Neugierige fanden sich denn auch öfter ein, nicht nur aus der nahen Umgebung, sondern auch aus Paris und anderen Städten. Auch die Presse brachte des öfteren Berichte über die ,,Sonderlinge von Menilmontant“, die häufig mit gehässigen und hämischen Unterstellungen gespickt waren und anscheinend den Zweck verfolgten, die Regierung gegen sie scharf zu machen. In der französischen Kammer hatten die Deputierten Dupin und Mauguin schon früher die Saint-Simonisten angeklagt als „eine Sekte, welche die Gemeinschaft der Güter und der Frauen predige“. Nunmehr, wo die Regierung des „Bürgerkönigs“ fester im Sattel saß, holte man zu einem Schlage gegen Enfantin und seine Anhänger aus. Nachdem die Polizei des öfteren den Kolonisten von Menilmontant unwillkommene Besuche abgestattet hatte und mit gezückten Bajonetten ihre Zeremonien störte, forderte die Regierung die Hauptführer der Schule, Enfantin, Chevalier, Duveyrier, Barrault und Rodrigues, am 27, August vor die Assisen. Die Anklage lautete wegen Verstoß gegen den Artikel 291 des Strafgesetzbuches, welcher Verbindungen von mehr als zwanzig Personen untersagte: und wegen des Verbrechens der Beleidigung der öffentlichen Moral und der guten Sitten.

Der ganze Prozeß war einer der gewöhnlichen Tendenzprozesse, wie sie gerade unter der Regierung Louis Philipps so häufig waren. Die Angeklagten waren sozusagen schon im voraus verurteilt und die beste Verteidigung konnte ihnen nicht helfen. Sie waren in ihrer besonderen Kleidung demonstrativ vor Gericht erschienen und vertraten ihre Grundsätze mit großem Geschick und männlicher Ueberzeugung. Das Gericht verurteilte Enfantin, Chevalier und Duveyrier zu je einem Jahr Gefängnis und 100 Franken Geldbuße, Barrault und Rodrigues — der letzte hatte sich bereits früher von Enfantin getrennt und hatte mit dem Experiment in Menilmontant überhaupt nichts zu tun — zu je 50 Franken Geldstrafe.

Damit war die Sache der Kolonie in Menilmontant besiegelt. Die ganze Schule löste sich auf, allein ihre Ideen wirkten noch längere Zeit auf die Entwicklung der sozialistischen Bewegung in Frankreich. Der Versuch von Menilmontant wurde sozusagen bald in seinen Anfangsstadien gewaltsam unterbrochen; aus diesem Grunde läßt sich schwer über seine weitere Entwicklungsmöglichkeiten urteilen. Man weiß nur, daß in Lyon und einigen anderen Städten ähnliche Versuche geplant waren, die aber nach der Verurteilung der Häupter der Schule nicht mehr zur Ausführung kamen. In der Einteilung und den Methoden der Arbeit hatte Enfantin manches dem Fourierismus entnommen, aber die Zeit war eben zu kurz, als daß man sich über den Wert und die Bedeutung dieser Methoden ein richtiges Bild machen könnte.

Bei der streng autoritären Einstellung der saint-simonistischen Schule wäre auch die Kolonie in Menilmontant wohl kaum von inneren Spaltungen auf die Dauer verschont geblieben. Trotz der religiösen Einstellung seiner Anhänger läßt sich die menschliche Natur doch nicht auf längere Zeit in bestimmte Formen pressen. Das haben die früheren Spaltungen innerhalb der saint-simonistischen Schule zur Genüge bewiesen und auch in Menilmontant wäre das Ergebnis wohl kaum anders gewesen. Auf wie weit diese Versuche im Kleinen überhaupt einen bestimmten Wert im Sinne des Sozialismus haben können, dies zu erklären und darzulegen soll unsre Aufgabe sein, nachdem wir uns über die weiteren Versuche des alten Experimentalsozialismus ein anschaulicheres Bild gemacht haben.

Rudolf Rocker

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Rudolf Rocker

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