Konstruktiver Sozialismus V + VI

Das Familistère zu Guise

Aus: Die Internationale, Jahrgang 1, Nr. 7 (1928)

Von den zahlreichen Versuchen, welche der Fourierismus in Europa unternommen hatte, war nur einer von Erfolge gekrönt — das Familisètre, das Jean Baptiste Andre Godin in Guise errichtete und das heute noch besteht, obwohl es durch den Krieg schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde. Allerdings wurde dieses Unternehmen auf einer ganz anderen Basis errichtet, wie sie Fourier vorschwebte, aber dies war nach den obwaltenden Umständen kaum zu vermeiden.

Ueber das Unternehmen Godins ist sowohl von bürgerlicher als auch von sozialistischer Seite viel geschrieben worden, wobei die Ansichten der verschiedenen Autoren oft weit auseinandergehen. Manche von ihnen verherrlichen Godin als einen der größten Wohltäter der Menschheit, andere, darunter auch Sozialisten, bezeichneten ihn als einen schlauen Charlatan, der nur auf seinen persönlichen Vorteil bedacht gewesen sei und seine Profitsucht unter der Toga des sozialen Reformers zu verbergen verstanden habe.

Vergleicht man alles, was für und wider seinen Versuch spricht, so kommt man wohl zu dem Ergebnis, daß es Godin sehr ernst mit seinem Versuche gewesen ist. Wenn sein Experiment im Laufe der Jahre allmählich Formen angenommen hat, die auch er nicht voraussehen konnte, so geschah dies unter dem Drucke von äußeren Verhältnissen, denen er sich nicht entziehen konnte.

Man mag ein noch so begeisterter Anhänger solcher Experimente sein, doch darf man eben nie vergessen, daß jedes gesellschaftliche Gebilde sozusagen die Gesetze seiner inneren Ordnung in sich trägt, die seinem innersten Wesen entspringen und in jedem Zweige seines materiellen und geistigen Lebens wiederkehren. Der Mensch mag im Laufe der Jahre die soziale Ungerechtigkeit und wirtschaftliche Unzulänglichkeit und Verkehrtheit eines Systems begreifen lernen und aus dieser Erkenntnis heraus darauf bedacht sein, dieses System zu beseitigen und durch eine bessere soziale Ordnung zu ersetzen. Allein es wird ihm nie gelingen, inmitten einer auf brutaler Massenausbeutung begründeten Gesellschaftsordnung eine abgeschlossene sozialistische Miniaturwelt zu errichten, deren inneren sozialen Gesetze von denen ihrer kapitalistischen Umwelt vollständig wesensverschieden sind. Wir müssen uns vielmehr mit dem Gedanken abfinden, daß jeder Versuch, der innerhalb der kapitalistischen Welt im Sinne des Sozialismus unternommen wird, ungeachtet unserer besten Wünsche mit tausend Fäden an das heutige System gebunden ist und sich von demselben nicht willkürlich befreien kann. Aus diesem Grunde werden solche Unternehmungen immer nur mit bedingten Möglichkeiten rechnen können. Ihr Erfolg kann sich immer nur auf bestimmten Gebieten des gesellschaftlichen Zusammenlebens auswirken; aber er wird nie imstande sein, die gesamten wirtschaftlichen und sozialen Fundamente des heutigen Systems von Grund auf umzugestalten. Dazu bedarf es ausgesprochener revolutionärer Mittel, die in der sozialen Expropriation ihren höchsten Ausdruck finden.

Hat man aber das einmal erkannt, so wird man auch den Versuch Godins gerechter beurteilen und wird ihn nicht verantwortlich machen für gewisse Seiten seines Experiments, die sich im Rahmen des heutigen Systems schlechterdings nicht umgehen lassen.

Godin war der Sohn eines armen Dorfschmieds und wurde 1817 zu Esquéhéries geboren. Nachdem er eine Zeitlang als Arbeiter ganz Frankreich durchwandert hatte, gründete er 1840 in seinem Heimatsdorfe eine kleine Werkstätte für die Herstellung von Heizvorrichtungen, die er sechs Jahre später nach Guise verlegte. Eine erfolgreiche Erfindung machte ihn zum vermögenden Manne und gab ihm die Möglichkeit, seinen Betrieb als einen der wichtigsten in der Eisenindustrie Frankreichs auszubauen. Aber Godin war nicht nur Unternehmer. Begabt mit einem tiefen sozialen Instinkt, erinnerte er sich der mannigfachen Leiden, die er als Arbeiter zu erdulden hatte, und war nunmehr bestrebt, die Lage seiner eignen Arbeiter in jeder Weise zu bessern. Er zahlte ihnen höhere Löhne, verkürzte die Arbeitszeit, führte verschiedene Hilfskassen ein; aber alle diese Mittel gaben ihm keine rechte Befriedigung, da er wohl erkannte, daß sie den eigentlichen Grund des sozialen Uebels nicht berührten. Bei seinen ruhelosen Bestrebungen nach einer besseren Erkenntnis der gesellschaftlichen Beziehungen konnte es nicht ausbleiben, daß er auch mit den Schriften der großen Sozialreformer in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts bekannt wurde. Zunächst waren es die Lehren Saint Simons, die ihn zu tieferen Studien anspornten. Danach las er die Literatur der verschiedenen kommunistischen Richtungen, konnte sich aber weder für den friedlichen Kommunismus Etienne Cabets noch für die gewalttätigen Methoden der Babouvisten erwärmen. Er sah ein, daß all diesen Ideen ein guter Kern zugrunde lag, erkannte aber in derselben Zeit die Unzulänglichkeit der Lösungen.

Da fielen ihm die Schriften Victor Considerants, des bedeutendsten Schülers Charles Fouriers, in die Hand, durch welche er zum ersten Male mit den Ideen des Meisters bekannt wurde. Fouriers Lehre wirkte auf Godin wie eine Offenbarung. Er wurde einer der ergebensten Schüler der Bewegung und unterstützte dieselbe nach besten Möglichkeiten. Als Victor Considerant sich anschickte, ein großangelegtes Experiment in Texas zu versuchen, und zu diesem Zwecke die Oeffentlichkeit durch Aufrufe zur Unterstützung aufforderte, stellte ihm Godin sofort 100 000 Franken zur Verfügung. Er selbst aber beschloß in Guise ein Phalansterium zu gründen, um die Ideen des Meisters praktisch zu erproben. So begann er im Jahre 1859 mit dem Bau des sogenannten Familistère. Er hat später seine Erfahrungen in einer Reihe von Schriften niedergelegt, die noch heute für die Anhänger konstruktiver sozialistischer Versuche von großem Interesse sind. Genannt seien hier nur seine wichtigsten Schriften „Solutions sociales“ (1870), „La richesse au service du peuple, le familistère” (1876), „Mutualité sociale” (1880), „Mutualité nationale contre la misère” (1853) usw.

Bei einer vorurteilslosen Beurteilung des Versuches Godins in Guise darf man verschiedene Dinge nicht außer acht lassen. Vor allem muß man sich vorhalten, daß es einer der bedeutendsten Betriebe war, auf den sich das Unternehmen stützte. Die Fabrik Godins hatte sich im Laufe langer Jahre und durch mancherlei Zufälle begünstigt zu einem der hervorragendsten Eisenwerke Frankreichs emporgearbeitet. Auf diese Weise hatte das Experiment eine gesicherte wirtschaftliche Grundlage, auf der man erfolgreich weiterbauen konnte. Das war ein gewaltiger Vorteil, den es anderen ähnlichen Versuchen gegenüber voraus hatte, die stets vor die schwere Frage gestellt waren, sich vor allem eine wirtschaftliche Basis zu erringen auf der ein solches Unternehmen überhaupt gedeihen konnte.

Godin war ein äußerst praktischer Mensch, der mit großen organisatorischen und wirtschaftstechnischen Fähigkeiten begabt war. Er erkannte daher auch sehr wohl, daß eine vollständige Verwirklichung von Fouriers Plänen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht möglich sei. Die Erfahrungen der Vergangenheit waren an ihm nicht spurlos vorübergegangen wie bei so manchen anderen; deshalb klebte er auch nicht sklavisch an den Auffassungen des Meisters, sondern zog seine eignen Erkenntnisse mit zu Rate. Er begriff vollständig, daß sich sein Unternehmen den bestehenden Verhältnissen wirtschaftlich anpassen müsse und daß es sich für ihn nur darum handeln könne, bestimmte Ideen Fouriers praktisch zu erproben und zur Anwendung zu bringen.

Vor allem wandte er dem Menschenmaterial, auf das er angewiesen war, seine größte Aufmerksamkeit zu. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, daß manche früheren Versuche nicht nur an der Unerbittlichkeit der bestehenden Verhältnisse, sondern sehr oft an der Unzulänglichkeit der beteiligten Menschen gescheitert waren. Aus diesem Grunde suchte er vorzubeugen. Er wußte, daß die Menschen, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft geboren und erzogen wurden, nicht von heute auf morgen mit höheren sozialen Empfindungen und Bestrebungen bedacht werden konnten. Dazu war eine längere Erziehung vonnöten, die ihnen das Verständnis für neue soziale Lebensbedingungen beibringen mußte.

Godin war sich auch vollständig darüber klar, daß er ein Phalansterium im Sinne Fouriers nicht ins Leben rufen konnte. Schon deshalb nicht, weil er seinem Unternehmen vornehmlich eine industrielle Basis geben mußte, während Fourier die Agrikultur in den Mittelpunkt der Produktion gestellt hatte. Dadurch aber wurden den Bewohnern des Familistère in Guise von vornherein engere Grenzen ihrer Betätigung gezogen. Fourier träumte von möglichst selbständigen Gemeinden mit 1500 bis 2000 Einwohnern, deren Bedürfnisse zum großen Teile durch die eigene Arbeit gedeckt werden sollten. Gemäß seiner Theorie von der „atraktiven Arbeit“ wollte er durch häufigen Wechsel in der produktiven Betätigung dem einzelnen die Arbeit zur Freude und zu einem notwendigen Bedürfnis machen. Godin, der sich ganz auf seinen Betrieb gestellt sah, konnte den Arbeitern nicht diesen Wechsel bieten und mußte daher nach anderen Mitteln suchen, um ihnen die Arbeit angenehm und freudevoll zu machen. Er glaubte dies am besten dadurch erreichen zu können, indem er die Arbeitszeit möglichst verkürzte und jedem Arbeiter oder Angestellten ein angenehmes und freundliches Heim zur Verfügung stellte. Auf diesem Gebiete hat Godin geradezu bahnbrechend gewirkt. In jener Zeit gab es nur ganz wenige, die an eine ernstliche Reform der Arbeiterwohnung dachten. Bildet doch die Wohnungsfrage noch heute eines der vielumstrittensten Probleme. Jede Großstadt und jeder Industriebezirk verfügt auch heute noch über menschliche Wohnstätten, die sogar für Tiere zu schlecht sind; und doch müssen wir anerkennen, daß sich die Verhältnisse auf diesem Gebiete, wenn man sie mit denen der frühkapitalistischen Periode vergleicht, wesentlich gebessert haben. Die fürchterliche Verbreitung des Alkoholismus und der Prostitution unter der Arbeiterbevölkerung der frühkapitalistischen Zeit wurde zum großen Teil durch die entsetzlichen Wohnungsbedingungen direkt gefördert. Godin hatte das wohl erkannt und das berühmte Buch Eugen Burets „De la misère des classes laborieuses en Angleterre et en France“ (Ueber das Elend der arbeitenden Klassen in England und Frankreich) hatte ihm vollends die Augen geöffnet. So erklärte er schon 1870 in seiner Schrift „Solutions sociales“: „Jeder Versuch, eine Reform der Arbeit durchzuführen, wird unwirksam und ergebnislos bleiben müssen, wenn er nicht in derselben Zeit begleitet wird von einer Reform des Wohnungswesens. Es muß ein wohnliches Milieu für die werktätigen Klassen geschaffen werden, das ihren Bedürfnissen entspricht und ihnen die Freuden des gesellschaftlichen Lebens, auf die jedes menschliche Wesen einen Anspruch hat, zugänglich macht.“ (Schluß folgt.)

 

 

Das Familistère zu Guise (Schluß)

Aus: Die Internationale, Jahrgang 1, Nr. 7 (1928)

Als Godin sich 1859 anschickte, seinen Sozialpalast oder sein Familistère, wie es genannt wurde, zu erbauen, ging er von zwei wichtigen Voraussetzungen aus: Er wollte den Beweis erbringen, daß eine größere Anzahl von Menschen auf einem gedrängten Raume zusammen leben könnte, ohne daß dadurch die persönlichen Bequemlichkeiten und die Anforderungen des individuellen Geschmackes beeinträchtigt würden. Und weiter wollte er beweisen, wie durch ein solches Zusammenleben eine leichte und bequeme Art der Organisation des täglichen Konsums geschaffen werden konnte, die wirtschaftlicher und rentabler arbeitete, als dies heute der Fall ist.

Die ganze Niederlassung des Familistères erstreckte sich auf 33,73 ha Land. Davon nahmen die Eisenwerke 4,5 ha, die öffentlichen Gärten und Anlagen 10,1 ha ein. Der Rest wurde von verschiedenen Baulichkeiten eingenommen, die Wohn-, Erziehungs- oder Unterhaltungszwecken dienten. Das Land, auf dem die verschiedenen Gebäude errichtet wurden, kostete 50 000 Franken. Der linke Flügel des Familistères, der zunächst in Angriff genommen wurde, erforderte die Summe von 300 000 Franken. Das Hauptgebäude, das 1864 vollendet wurde, kostete 400 000 Franken. 1864 wurde das Gebäude für Erziehungszwecke fertiggestellt, dessen Herstellungskosten sich auf 40 000 Franken beliefen. Die Schulen und das Theater, die 1869 in Betrieb genommen wurden, kosteten rund 125 000 Franken. Dazu kamen später noch Bäder und Waschhäuser im Werte von 25000 Franken, so daß sich die Gesamtkosten auf etwa eine Million Franken stellten.

Die Zahl der Zimmer der einzelnen Wohnungen war natürlich ver­schieden, aber alle Zimmer waren sowohl in architektonischer als auch in hygienischer Weise gleichmäßig ausgestattet, einerlei ob es sich um die Räumlichkeiten von Angestellten oder Arbeitern handelte. In bezug auf Reinlichkeit und hygienische Vorrichtungen usw. wurde im Familistère wirklich Musterhaftes geboten. Die Wohnungen wurden an die Angestellten und Arbeiter des Betriebes vermietet zum Preise von durchschnittlich 25 Centimes je Quadratmeter. Der Preis war in den oberen Stockwerken um 10 Centimes teurer als in den unteren. Außer den Wohnungen verfügte das Familistère über zahlreiche Gesellschaftsräume: Lesezimmer, Restaurant, Räumlichkeiten für Unterhaltungszwecke usw., die jedem frei zur Verfügung standen. Ebenso die Bade- und Waschgelegenheiten. Die innere Ausstattung der Zimmer wurde jedem einzelnen selbst überlassen, damit der persönliche Geschmack zur Geltung kommen konnte.

Alle Gegenstände des täglichen Bedarfs konnten im Familistère selbst bezogen werden und wurden auch zum großen Teile dort selbst hergestellt. Nur Dinge, die von draußen billiger bezogen werden konnten, wurden eingeführt. Godin dachte zuerst daran, die Einzelfamilie im ganzen aufzuheben und die Speisungen usw. gemeinschaftlich vorzunehmen. Aber er gab diesen Plan bald wieder auf, um den persönlichen Neigungen der einzelnen nicht zu nahe zu treten; so daß jeder die Möglichkeit hatte, im Restaurant zu speisen oder sich sein Mahl selber zu bereiten. Die Herstellung einzelner Artikel und die Verwaltung des Konsums lag zum größten Teile in den Händen der Frauen der angestellten Arbeiter.

Der “Verkauf wurde entweder durch Barzahlung oder durch Eintragungen in ein Scheckbuch geregelt. Zu Ende jedes Jahres wurden den Käufern 85% des erzielten Gewinnes ausgehändigt, die unter ihnen den Einkäufen gemäß verteilt wurden. 15% des Gesamtgewinns flossen der Genossenschaft zu.

Nachdem Godin sich nach und nach einen tüchtigen Stamm Arbeiter und Angestellter herangezogen hatte, die seinen Plänen Verständnis entgegenbrachten, ging er 1880 dazu über, seinen ganzen Betrieb in ein genossenschaftliches Unternehmen zu verwandeln. Natürlich hatte er schon von Anfang an die Arbeiter am Gewinn seines Unternehmens mit partizipieren lassen. Als der Betrieb zur Genossenschaft erklärt wurde, betrugen die Guthaben der Arbeiter 209 800 Franken, der Anteil Godins drei Millionen Franken. Diesen Anteil sollten die Arbeiter und Angestellten des Unternehmens durch Rückkauf des von Godin vorgeschossenen Kapitals nach und nach selbst er­werben, wodurch das ganze Unternehmen vollständig in ihre Hände übergehen würde, was in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts auch geschah. Der Gewinn wurde bis dahin so verteilt, daß 25% in die Reservekasse flossen, 25% der Direktion zufielen und 50% unter den Arbeitern ihrer Remuneration gemäß verteilt wurden. Dieser Teil wurde aber den Arbeitern erst nach der Abtragung des Godinschen Kapitals ausgehändigt.

Godin hatte zunächst die innere Verwaltung des Betriebs durch freie Wahi regeln lassen, aber die Erfahrung lehrte ihn bald, daß auf diese Weise nicht immer die geeigneten Personen an die Plätze kamen, denen vorzustehen sie verdienten. Dieses rein politisch-demokratische Prinzip erschien ihm für die Verwaltung eines komplizierten Betriebs wenig geeignet, da es das Unternehmen allen möglichen Schwankungen aussetzte, die sich unter Umständen verhängnisvoll auswirken konnten. So machte er die Aufstellung der Kandi­daten zunächst von ihrem persönlichen Können und ihren besonderen Fähig­keiten abhängig und stellte dieselben erst nach der vorgenommenen Aus­siebung zur Wahl. Damit verhinderte er, daß absolut unfähige Elemente, die sich vielleicht nur durch eine gewisse Zungengeläufigkeit das vorübergehende Zutrauen ihrer Kameraden erworben hatten, an einen Platz gestellt wurden, den zu bekleiden sie nicht imstande waren. Nur das Können sollte ent­scheiden, nicht Zungenfertigkeit und billiges Phrasentum.

Mit der Zustimmung seiner Kameraden im Familistere hatte Godin die Bestimmung getroffen, daß bei der Gewinnbeteiligung fünf besondere Klassen geschaffen wurden: 1. Beteiligte, die mindestens fünf Jahre im Betrieb stehen und ein Kapital von 500 Franken besitzen. Diese nahmen für den doppelten Betrag ihrer Löhne an der Gewinnverteilung Anteil. 2. Beteiligte, die über 21 Jahre alt und mindestens drei Jahre im Betrieb beschäftigt waren. Sie nahmen für den einundeinhalbfachen Betrag ihres Lohnes an der Verteilung des Gewinnes teil. 3. Beteiligte, die mindestens ein Jahr im Betriebe tätig waren und deren Gewinnanteil durch den Betrag ihres einfachen Lohnes be­stimmt wurde. 4. Hilfsarbeiter, die noch kein Jahr im Betrieb waren und nur das Recht hatten, die Annehmlichkeiten der sozialen Einrichtungen des Familistères frei genießen zu können. Dazu kam dann noch eine andere Kategorie ehemaliger Arbeiter, die durch Erbschaft usw. Mitanteilnehmer geworden waren.

Wir sehen, daß Godin hier rein geschäftsmäßig vorging, was unter den gegebenen Umständen nicht weiter verwunderlich erscheint und in derselben Zeit eine Majorisierung durch später Hinzugekommene, die nur kurze Zeit in dem Unternehmen tätig waren, möglichst verhinderte.
1874 betrug die Einwohnerzahl des Familisteres 900 bis 1000 Personen: 1884 war sie bereits auf 1452 gestiegen. Wie immer man sich zu den Einzelheiten von Godins Plänen stellen mag, auf alle Fälle hat er den Beweis er­bracht, daß ein großes industrielles Unternehmen auch unter anderen Ver­waltungsverhältnissen und besseren sozialen Bedingungen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft bestehen kann.

Einen wichtigen Teil im Familistère zu Guise nahm die Erziehung der Kinder ein. Hier hielt sich Godin möglichst eng an die Ideen Fouriers. Es be­standen acht verschiedene Abteilungen, welche sich mit der Erziehung der Kinder abgaben: 1. Die Warteanstalt, woselbst die Kinder von der Geburt an bis zum Alter von 26 oder 28 Monaten untergebracht wurden; 2. das Pupponat, wo man sich mit den Kindern beschäftigte, die bereits gehen konnten bis zum Alter von vier Jahren; 3. das Bambinat für Kinder von vier bis sechs Jahren; 4. die kleine Schule mit Kindern von sechs bis acht Jahren; 5. die zweite Schule mit Kindern von acht bis zehn Jahren; 6. die erste Schule, wo die Kinder von 10 bis 13 Jahren untergebracht waren; 7. die höhere Lehranstalt für Zöglinge, die ganz besondere Fähigkeiten bekundeten; 8. das Institut der Lehrlinge, wo die Schüler einen Beruf frei nach ihrer Wahl ergreifen konnten.

Das Grundprinzip der Erziehung bestand darin, die Kinder sich möglichst durch sich selbst, das heißt durch ihren ständigen Umgang unterein­ander erziehen zu lassen, eine Methode, die in der Tat die Kinder zur frühen Selbständigkeit heranzog. Nach den Ideen Fouriers gab man den Kindern ein Mitbestimmungsrecht beim Unterricht, der durch geeignete Frauen und Männer geschickt geleitet wurde und den Kindern durch direkte Anschauung die Dinge näher brachte. Vieles, was heute als ein erfreuliches Ergebnis moderner Pädagogik gepriesen wird, fand im Familistère zu Guise bereits seit Jahrzehnten praktische Anwendung.

Godin starb im Jahre 1888, aber sein Unternehmen bestand als genossen­schaftlicher Betrieb weiter und machte sogar nicht unerhebliche Fortschritte im Laufe der Jahre. Besonders günstig war die Periode von 1900—1914. wäh­rend der bedeutende Vergrößerungen vorgenommen wurden. Da kam der Krieg, durch welchen das Familistère von Guise an seinem Lebensnerv getroffen wurde wie so viele andere industrielle Unternehmungen in jener schweren Zeit. Da Guise in der Kriegszone lag, so hatte auch das Unternehmen Godins viel zu leiden. Der Betrieb wurde zerstört und ein Teil des Sozialpalastes niedergebrannt. Doch ging man nach dem Kriege bald wieder daran, die erlittenen Schäden auszubessern und den Betrieb wieder aufzubauen. Das Familistère zählte im Jahre 1912 über 2000 Einwohner. Die Hälfte davon ist heute wieder auf der alten Scholle beschäftigt, und es hat den Anschein, daß die Folgen des großen Völkermordens in einigen Jahren wieder vollständig ausgemerzt sein dürften. Ob das Familistère, das bisher den Geist seines Schöpfers hochhielt, auch fernerhin im selben Geiste weiterwirken wird, muß allerdings noch abgewartet werden.

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