Wenn versucht wird, über Syrisch-Kurdistan etwas Neues herauszufinden, indem in der neueren Literatur über die PKK und über die syrische Revolution seit 2011 herumgesucht wird, stößt man auf eine Reihe von Fragen, die immer wieder auftauchen, immer miteinander verbunden sind und vermutlich immer wieder, auf andere Weise, auftauchen werden.
Ein Versuch sie herauszusortieren. (Die Literaturliste findet ihr unter dem Artikel.)
1. Zur sogenannten „kurdischen Frage“
Die PKK ist entstanden in der an Verrückten gar nicht armen türkischen radikalen Linken der 1970er. Ihre innere Struktur wird oft als stark zentralistisch beschrieben. Der komplexe Prozess, in dem sie sich herstellt, ist aber viel bemerkenswerter, als dass er damit beschrieben wäre. Die Konflikte um die Führung innerhalb der PKK bringen Abdullah Öcalan an die Spitze; die Konflikte innerhalb der türkischen Linken bringen gleichzeitig die PKK in eine Art Isolation, aber sie räumt um sich herum gleichzeitig großflächig ab. Die bevorzugte Methode, konkurrierende Organisationen zu bekämpfen, ist der Meuchelmord. Ziemlich lange wird mit der PKK niemand zusammenarbeiten wollen, bis zu dem Tag, als man dazu gezwungen ist; aber da war es zu spät.
Die Strategie war kompromisslos und kühn und es gehört Glück dazu, dass sie aufgeht. Es ließen sich wahrscheinlich unzählige Organisationen aufzählen, die nicht dieses Glück hatten und für die eine ähnliche Strategie in der Bedeutungslosigkeit geendet hat; aber die meisten sind natürlich völlig vergessen worden. Dem Glück, das die PKK hatte, kam entgegen, dass sie vielleicht etwas erkannt hatte, was der Rest nicht erkannt hatte, nämlich was die Bedeutung der sogenannten kurdischen Frage betrifft. Umgekehrt hatte die PKK die kurdische Frage auch nicht als rein nationale Frage aufgefasst und das trennte sie wiederum von den kurdisch nationalen Parteien. Das gab ihr freie Hand, sich wahlweise auf das nationale Sentiment oder auf das soziale Dynamit zu stützen. Das heißt praktisch alles auszunutzen, was die kemalistische Verfassung in der Türkei an Schwierigkeiten aufgehäuft hatte.
Dieser Vorrat einander widerstreitender Ideen ist an sich nichts Ungewöhnliches. Die SSNP in Großsyrien oder die arabische Ba’ath-Partei haben ähnlich angefangen. Anders als diese hatte die PKK nicht die Wahl, ihren Weg durch Unterwanderung des Militärs und einem Staatsstreich zu gehen. Es gab keinen für sie tauglichen bestehenden Staatsapparat. Stattdessen gingen sie den Weg, den die Maoist:innen den „Volkskrieg“ nennen. Diesen begann sie 1983.
Für solch einen „Volkskrieg“ ist die Beseitigung jeder Konkurrenz die erste Voraussetzung. Deswegen brüten gerade solche Systeme maoistisch-militärische Aufstände geradezu aus, die der Guerilla diese Arbeit zu einem Teil abnehmen. Der Staatsstreich in der Türkei 1980 zerstörte die legale Linke und die ohnehin notleidende politische Szenerie des türkisch-kurdischen Südostens. Die illegalen Organisationen, die die Verfolgung durch den Staat überlebten, waren der Verfolgung durch die PKK ausgesetzt. Zuletzt stand die PKK als völlige Herrin über den einzigen vorhandenen Weg politischer Veränderung da.
Was die PKK mit den konkurrierenden Organisationen außer ihr machte, machte ihr aufstrebender Anführer mit seinen Konkurrent:innen innerhalb. Für ihn war die Partei identisch mit ihm selbst und er arbeitete rastlos, dass sie es wurde. Er wurde ein Meister darin, Funktionäre, vor deren Fähigkeiten er sich fürchtete, in Schwierigkeiten zu bringen und sie zu Schritten zu zwingen, die als Verrat ausgelegt werden konnten. Wer nicht erschossen wurde, den bekam er so in die Hand. Bald wagte niemand, seinen zunehmend realitätsfernen Befehlen zu widersprechen. Wenn die türkische Armee ganze Landstriche entvölkert und die Bauern umsiedelt, weil die PKK mit Unterstützung dieser Bauern operiert hat, dann kommt von der Zentrale der Befehl, dass man ab jetzt eben nicht mehr wie eine Guerilla kämpfen soll, sondern wie eine reguläre Armee. Wie soll man das machen?
„Öcalan brüstete sich gerne, dass er, obwohl er nie auch nur einen Schuss getan hatte, mehr vom Krieg verstünde als seine erfahrensten Offiziere“. [1]Aliza Marcus: Blood and Belief. The PKK and the Kurdish Fight for Independence, New York University Press, 2007, S. 240. Es ist schon bemerkenswert, dass man solchen ahnungslosen Angeber an dieser Position geduldet hat. Doch Bewegungen dieser Art bringen immer wieder solche Erscheinungen hervor. Vielleicht ist es Zeit, dass sie nicht für ein bug, sondern für ein feature gehalten werden. Marcus interviewt derart viele, die dabei waren und solche, die davongelaufen sind, die alle ein ums andere Mal das gleiche sagen: für Kurdistan kämpfen, für die Befreiung kämpfen (der Bauern, der Frauen oder wessen auch immer), gegen das türkische Militärregime kämpfen etc. – das ging nur mit der PKK und in der PKK. Dass das ein ziemlich verrückter Verein sei, muss man hinnehmen und nimmt man lange hin. Das ist der Preis, den man zahlen muss.
Davon gibt es auch eine enthusiastischere Variante. Anfang der 1990er begann im Südosten und überall in den Städten eine große Welle von Protesten, massiven Demonstrationen und beinah Aufständen. Es ist merkwürdig und instruktiv, wie und warum die revoltierende Jugend jetzt beginnt, ihre Loyalität auf die PKK zu richten – zwar auf der einen Seite hingebungsvoll, auf der anderen Seite aber keineswegs bedingungslos. Auf die vergleichsweise kleine Organisation übt der riesige Zustrom von Anhänger:innen durchaus einen gewissen Druck aus. Ab einem bestimmten Punkt der Popularität ist eine Organisation paradoxerweise auf einmal gezwungen, auf die öffentliche Meinung unter ihren Anhänger:innen Rücksicht zu nehmen. Umgekehrt aber steigert sich der Machtkampf in genau dieser Phase paradoxerweise bis zum Fieberwahn. Denn der Massenanhang reißt an der Einheit der Partei und setzt die vorhandenen Fliehkräfte frei. Die Organisation wird also keineswegs offener, sie wird nur immer straffer; ich möchte sagen Meuchelmord, gemäßigt durch Opportunismus. Die Bühne, nämlich die türkisch-kurdische Politik, die die Partei zu monopolisieren unternommen hat, wird größer. Ebenso wie die Anstrengung, sie zu monopolisieren.
Das Verhältnis ist überhaupt nicht eindeutig. Die Partei kalkuliert mit den Belangen der Gesellschaft und ihrer Anhänger:innen genauso kalt, wie es der feindselige Staat tut. Ihre Logik ist an sich dieselbe. Doch es drängt sich umgekehrt der Eindruck auf, wenn man durch die Arbeiten von Marcus, auch Schmidinger, geht, dass die Anhänger:innen versuchen, die Partei zu benutzen, ihr ihre Zwecke aufzuzwingen und sie zu ihrem Organ zu machen. Es ist erstaunlich, weil es so gut dokumentiert ist und weil es auf etwas hinausläuft, das eigentlich unmöglich ist. Kann es sein, dass nicht bloß die Partei die Gesellschaft zum Staat organisieren, sondern umgekehrt die Gesellschaft die Partei? Ich stelle die Frage nur zur Probe, ich habe keine Antwort.
Merkwürdig sind z. B. die Ereignisse um den 4. Kongress der PKK in Haftanin, Irak, im Dezember 1990. Öcalan hatte Mehmet Sener damit beauftragt, auf diesem Kongress die obligatorischen Säuberungen durchzusetzen – das heißt Anklagen gegen einzelne Funktionäre vorzubringen, ihre Verfehlungen anzuprangern, Öcalans Meinung dazu zu referieren und ihre Verurteilung zu erzwingen. Das tat er auch, [2]Ebd., S. 146 ff. in einer „Atmosphäre des Terrors“. Aber dann tat er noch etwas viel Weitergehendes. Er ging über die einzelnen taktischen Fehler hinaus und stellte nicht die üblichen untergeordneten Funktionäre, sondern die Führung und Strategie im Ganzen in Frage, also den großen Vorsitzenden selbst und zwar ebenso wie immer unter ausgiebiger Berufung auf diesen selbst. Die Delegierten fanden die Vorschläge vernünftig und stimmten dafür, weil es aussah, als wolle Öcalan es so. So brachte Sener eine grundlegende Kritik der Führung durch den Kongress und verteidigte sie in einem offenen Brief innerhalb der Organisation. Ein paar Wochen später wurde er in Damaskus umgebracht. Die Basis hatte ihm zwar Recht gegeben, aber zuletzt hatte sie die Einheit der Organisation bevorzugt und das musste heißen: Öcalan folgen und Sener fallen lassen; wohl wissend, dass Sener Recht gehabt hatte.
Nicht anders geht die weitere Anhängerschaft auch mit Öcalan um. Manchmal hat man den Eindruck, dass man ihn zu einer Art Gott macht, bloß damit man seine irdische Existenz, seine Unfähigkeit, Arroganz und Egozentrik überhaupt erträgt. Man kann den himmlischen Öcalan nehmen, um ihn gegen den auf Erden zu halten. Als die Türken ihn zuletzt gefangen nehmen, muss seine Partei seine geradezu kriecherischen Proklamationen vor Gericht ertragen, wo er den Kemalismus und den türkischen Staat preist; um seinen unersetzlichen Arsch zu retten und seine große Idee selbstverständlich, die an diesen gebunden ist. Und die Partei muss es schaffen, sich zu diesem Zeug irgendeine große Strategie zu denken. Es zeugt von übermenschlicher Fähigkeit der Selbsttäuschung, dass es ihr gelang. Denn es entstand danach tatsächlich so etwas wie eine neue Strategie; der große Rat der PKK übersetzt sie aus Öcalans peinlichen oder kryptischen Proklamationen wie der delphische Priester die Orakelsprüche aus dem Lallen der Pythia.
Seit er gefangen in Imrali sitzt, scheint Öcalan von allen Hindernissen befreit zu sein. Er ist nun wie ein Heiliger oder ein Entrückter Imam seinen Anhänger:innen noch näher. Seine Person ist abstrakt geworden. Der Kult ist auf groteske Weise vollendet. In seiner Entrückung aber liest der Chef und er liest Murray Bookchin und sein Herz wird weich. Der oberste Rat aber, der ihn auf Erden vertritt, liest die Zeichen der Zeit. Die türkisch-kurdische Gesellschaft zwingt der PKK einen merkwürdigen Kompromiss auf. Auf einem Kongress nach dem anderen gründet sie aus ihrem treu ergebenen Umfeld groß angekündigte gesellschaftliche Koalitionen, KADEK, Kongra-Gel usw., unter deren Schirm sie in Zukunft zu operieren verspricht; in der Struktur nicht anders als die klassisch leninistischen Frontorganisationen – gesteuerte Simulationen der gesellschaftlichen Tätigkeit. Und regelmäßig gehen diese Organisationen wieder zu Bruch und am anderen Ende erscheint wieder die identische PKK, unter ihrem angestammten Namen. Die Einbettung in die Gesellschaft misslingt, weil die Führung das Heft nicht aus der Hand geben kann. Aber sie muss es doch jedes Jahr aufs neue versuchen.
2. Die Frage der Doktrin oder die „objektive Existenz“ einer Partei
In syrisch-Kurdistan zeigen sich an der Art, wie die PKK vorgeht, insgesamt erschreckende Ähnlichkeiten mit ihrem früheren Vorgehen in der Türkei. Das wirft eine grundsätzliche Frage auf. Denn die PKK hat ja allem Anschein nach dazugelernt und ihre Parteidoktrin völlig geändert. Aber vielleicht ist es gar keine Frage der Doktrin einer Partei, sondern der objektiven Existenz einer Partei?
Die PKK hat eine Präsenz in Syrien seit den 1980ern. Wer von Syrien irgendetwas weiß, weiß, dass man nicht einfach so eine Präsenz in Syrien hat. Das Regime hat jede Organisation, die es geduldet hat, benutzt und wen es nicht benutzen konnte, hat es zerstört. Man frage einmal die PLO, wie es ihr ergangen ist, als sie sich geweigert hatte zu tun, was Assad nach 1981 verlangt hatte. Assad ließ von ergebenen Leuten einfach eine neue PLO gründen, bewaffnete sie und ließ die richtige PLO aus dem Land treiben. Danach begann er, die palästinensischen Flüchtlingslager des Libanon zu belagern, um die PLO zu vertreiben und seine eigene PLO zu installieren. Der berüchtigte Lagerkrieg von 1983 war die Folge.
Der führende syrische Geheimdienst, der Geheimdienst der Luftwaffe, pflegt seit jeher Organisationen, die er unterstützt zu instrumentalisieren, auszuhöhlen und in Werkzeuge zu verwandeln – so ganze Parteien der libanesischen und palästinensischen Politik, die Amal, die PFLP-G, die armenische Dashnaktsuyun oder selbst die SSNP, die in Syrien abwechselnd verboten und in der Regierung ist. Er züchtet sich sogar eine eigene Scheinopposition. Verbündete, die eigenen Willen entwickeln, werden zerstört, wie Kamal Junblatt 1978 oder die libanesische KP 1987. Die PKK betätigte sich in Syrien als ein verlängerter Arm des Luftwaffengeheimdiensts wie jede andre zugelassene Organisation. Dass sie vor 2011 sich in Opposition zum Regime organisiert hätte, soll man Leuten erzählen, die vom syrischen Regime und dem libanesischen Krieg niemals Muh oder Mäh gehört haben.
2011 gab es gemeinsame kurdische und arabische Demonstrationen in Nordsyrien gegen das Regime. Das Regime hat damals beschlossen, der Revolution in den arabischen Landesteilen militärisch entgegenzutreten. Aber – früher hätte man es „Frontbegradigung“ genannt – in den kurdischen Landesteilen übergab es die Verwaltung an die PKK. Die linke syrisch-kurdische politische Bühne wurde von aller Konkurrenz geräumt, wie früher die türkisch-kurdische, durch Meuchelmord (so der an Michel Tammu). Übrig geblieben sind wohlweislich nur die konservativen Parteien, die in der sozialen Bewegung keine Konkurrenz sind. Auf wessen Konto gehen die Morde, auf das der PKK oder des Regimes; und welchen Unterschied macht es?
Natürlich kann die PKK in Syrien nicht nur von der Kollaboration mit dem Regime aus beurteilt werden. Was sie tut, ist ja nun nicht vorherbestimmt dadurch, dass sie früher lange mit dem Assad-Regime zusammengearbeitet hat! Ein Apparat wie die PKK ist eine black box, dessen Inneres, dessen Absichten und Pläne man nur aus den Umständen und Folgen erraten kann, statt die Umstände aus diesem Inneren erklären zu können. Die PKK ist natürlich nicht einfach ein Instrument, sie hat sich stattdessen mit der syrisch-kurdischen Gesellschaft in derselben konflikthaften Weise zu arrangieren, wie mit der türkisch-kurdischen früher schon und das schließt eine widerspruchsvolle Anerkennung der Errungenschaften der Revolution mit ein.
Alles das, wofür „Rojava“ so berühmt wurde, wurde in der syrischen Revolution entwickelt, noch ehe die PKK überhaupt eine besondere Rolle spielte. Schon in der frühesten Phase der Revolution, in der landesweiten Protestbewegung, haben Anarchist:innen, wie Omar Aziz, aus den unmittelbaren Bedürfnissen der Bewegung lokale Koordinationskomitees gegründet und diese landesweit koordiniert – als Organe nicht nur der gegenseitigen Selbsthilfe, sondern als Organe der Revolution selbst. Mit weiterem Fortschreiten der Revolution dehnte sich die Tätigkeit dieser Organe immer weiter in die früher vom Staat beherrschte Sphäre aus und zerschnitt dessen Machtbasis fortschreitend, während sie die Organisierung der revolutionären Gesellschaft immer weiter befestigte. Die PKK hat die Selbstverwaltung in Syrien nicht erfunden, sondern sie vorgefunden, eingerahmt und benutzt sie natürlich zu ihrer Propaganda.
Die erstaunliche Zähigkeit der revolutionären Strukturen zeigt sich daran, dass es dem Regime in fünf Jahren Krieg nicht gelungen war, wieder Herr der Lage zu werden. Der arabisch-syrische Anarchist Omar Aziz sagte im November 2012, kurz vor seinem Tod in einem syrischen Gefängnis: „Wir sind nicht schlechter als die Arbeiter der Commune. Die hielten 70 Tage stand. Wir sind nach eineinhalb Jahren noch da.“ Und er hatte Recht. Es war noch lange nicht vorbei. Bis 2019 haben die letzten dieser Organe ausgehalten und schon zeigen sich die Umrisse eines neuen Anlaufs.
Die PKK hat, genau in dem Moment, als das Regime sich zu einer militärischen Lösung entschlossen hat, die Entscheidung getroffen, den Norden aus dem Krieg herauszuhalten. Sie hat dem Regime die militärische Lösung bedeutend erleichter. Assad hätte es schwer gehabt, den Krieg gegen den Süden und den Norden gleichzeitig zu gewinnen. Ist es also ein Verdienst der PKK, dass die gewaltsame Niederwerfung, der ungeheure Konterrevolutionskrieg, den Norden großenteils verschont hat? Dazu haben sie jedoch den Rest Syriens den Wölfen vorgeworfen und das bleibt ein Makel, der nicht abgewaschen werden kann. Ja noch mehr, es zwingt sie dazu, über diese Geschichte zu lügen und es zwingt ihre Anhänger:innen zu der gleichen Lüge. Man hat die Araber:innen Syriens als islamistische Terrorist:innen bezeichnet und zum Abschuss freigegeben. Diese Komplizenschaft wird die globale Linke insgesamt noch sehr lange vergiften.
Die grundlegende Dynamik in Syrisch-Kurdistan ist keine andere als die in der Türkei früher: Ein ungeheures Segment der Gesellschaft ist in Bewegung geraten und versucht, an einer wirklichen Veränderung zu arbeiten. Aus dem einen oder anderen Grund muss es akzeptieren, dass der einzige Weg dahin über die PKK führt. Die PKK lässt, völlig treu ihrer langjährigen Politik, gesellschaftliche Organisierung zu; sogar konkurrierende Parteien, solange sie nur klein, irrelevant und leicht zu beeinflussen sind. Aber als die Seele und einzige Garantin der Einheit der Gesellschaft, als Trägerin der politischen Idee steht die PKK da und sie wird es nicht ändern lassen.
Die Vorschläge, die Macht mit oppositionellen kurdischen Parteien zu teilen, die Barzani und der KDP nahestehen, muss einmal genau betrachten werden: Es war die Rede von einem obersten Gremium, das paritätisch von der PKK und den Satellitenparteien der KDP besetzt wird. So etwas wird nie passieren. Aber es zeigt, aus welcher Vorstellungswelt diese Leute kommen. Hier die gerühmte Selbstverwaltung, von der alle Macht ausgeht – aber darüber die Partei, die ganz selbstverständlich die oberste Hoheit hat und diese sogar mit einer anderen Partei teilen könnte. Dieses Friedensangebot ist natürlich absichtlich undurchführbar. Aber die gegnerischen bewaffneten Gruppen wissen natürlich alle, dass sie nicht mit der Selbstverwaltung Verhandlungen führen, also einem Haufen von Gemeinderäten, sondern mit der PKK.
Die PKK hat ihre Doktrin oft genug geändert: von kurdischem Separatismus und Sozialismus leninistischen Typs zu etwas, das sie demokratischen Konföderalismus nennt. Aber über diese Häutungen hinweg ist sie doch in einem Punkt die gleiche geblieben. Sie wechselt das, was man ihre politischen Ideen nennt, nach Belieben aus und greift bei Bedarf übrigens auch gerne noch auf die alten zurück. Aber was ist denn die Konstante, genau? Das Eigeninteresse der Organisation? Doch die Kader werden genauso plötzlich ausgetauscht wie die Ideen, entmachtet, Säuberungen unterworfen und hin- und hergeschickt. Selbst die oberste Führung steht auf schwankendem Boden und ständig an der Grenze zum Hochverrat. Denn die Kommandos des Orakels von Imrali sind ja nicht plötzlich weniger undurchführbar, unvorhersehbar und unlogisch geworden.
3. Die militärischen Fragen
Betrachten wir unter diesem Aspekt einige militärische Fragen der syrischen Revolution in den verschiedenen Landesteilen. Wie organisiert eine Gesellschaft in Revolution ihre Verteidigung? Das Problem ist eine verschärfte Fassung des allgemeinen Problems. Die Gesellschaft bringt nicht ohne Weiteres von sich aus einen Punkt hervor, an dem sie ihre Einheit hat. Das Problem der Koordination ist nicht rundheraus zu lösen.
Als der sogenannte Islamische Staat (Daesh) auf Kobane marschierte, musste das von den Kurd:innen als eine tödliche Bedrohung wahrgenommen werden. Der Wille sich zu verteidigen, erzeugt aber nicht von alleine die Mittel sich zu verteidigen. Denn dazu gehört eine funktionierende Organisation. Die PKK besaß als einzige eine fertige Organisation; sie hatte auch keine anderen bestehen lassen. Die Lage ist analog zu den bürgerkriegsähnlichen Zuständen im türkischen Südosten der 1990er Jahre: Die einzige bestehende Organisation, das einzige Werkzeug der kollektiven Verteidigung war die Organisation der PKK. Der Deal, der gemacht werden muss, ist dieser: Die PKK bietet der Gesellschaft sich als Organisation an, und die Gesellschaft hat dies mit Loyalität zu bezahlen.
Die Allgemeinheit, die sie dadurch gewinnt, ist erschlichen und erzwungen. Sie hat als ihre Grundlage nicht die Gesellschaft und ihre Veränderung, sondern sie steht ihr eigentlich äußerlich gegenüber. Auch was sie für die Gesellschaft tut, wird gewissermaßen hinter dem Rücken der Gesellschaft getan sein. Umgekehrt ist nur durch völlige Loyalität, das heißt durch Anstrengung und Selbsttäuschung, irgendein Teil der Gesellschaft in der Lage, die Handlungen der Partei für freie Handlungen der Gesellschaft zu halten. Das lässt Schlimmes ahnen. Die PKK steht eigentlich zur Gesellschaft nicht anders, als der Staat steht. Sie wird der Gesellschaft gegenüber undurchdringlich bleiben, auch wenn ihr geliebter Führer noch so viel Staatskritik treibt. Der sogenannte Islamische Staat ist zurückgeschlagen fürs Erste, immerhin. Aber dem Problem, wie die revolutionäre Gesellschaft zu einer angemessenen Organisation findet, wird man keinen Fußbreit näher kommen.
In den arabischen Landesteilen gab es einen anscheinend völlig anderen Verlauf. Seit dem Beginn der militärischen Phase, das heißt seit dem Beginn der militärischen Angriffe auf die syrische Gesellschaft (und seit dem Abfall des kurdischen Nordens) organisierten einerseits die lokalen Komitees eine territoriale Verteidigung, bestehend aus ehemaligen Soldaten und Wehrpflichtigen. Andererseits aber fielen ganze Truppenteile samt ihren Generälen von dem Regime ab und gründeten die Freie Syrische Armee. Drittens aber gründeten eine Reihe Organisationen des Exils oder kaum organisierte Intellektuelle des Inlands zusammen mit abgefallenen Militäroffizieren den Syrischen Nationalrat (SNC).
Diese drei Elemente vertragen sich nicht ohne Weiteres. Die lokalen Komitees, getragen von den besitzlosen Klassen und die kleinen lokalen Einheiten von ehemaligen einfachen Soldaten und Unteroffizieren auf der einen Seite und die Armeegeneräle auf der anderen Seite, sind an sich nicht unter einen Hut zu bringen. Denn wie sollte ein General sich bereit erklären, sich einem Haufen von Gemeinderäten zu unterstellen? Aber auch dazu hätte es eine landesweite Führung gebraucht, einen landesweiten Kongress von Vertreter:innen der Gemeindeorgane. Und der kam gerade nicht zustande, stattdessen ein Ausschuss der vorrevolutionären Parteien des Exils.
Das Problem war gerade, dass man unter Angriff geraten war. Es brauchte dringend eine anerkannte zentrale Instanz, von der eine militärische Führung eingesetzt werden konnte. Denn die bloß lokale Territorialverteidigung demokratischer Teilzeitmilizen konnte gegen die 4. Mechanisierte Division, den wirklichen Kern der syrischen Armee, nicht ankommen. Denn was von der syrischen Armee übriggeblieben war, reichte zwar nicht, das Land wieder unter Kontrolle zu bekommen; es war aber mehr als ausreichend dafür, Tod und Verwüstung zu säen und die Revolution zu ständiger Verteidigung zu zwingen.
Die gegnerischen Parteien waren völlig unsymmetrisch; nicht nur, was die Bewaffnung angeht, sondern vor allem in ihren Zwecken und Schwächen. Die Revolution war von einfachen Leuten gemacht und sie war gezwungen, die einfachen Leute zu schützen. Das Regime hatte dagegen fast nichts, auf das es Rücksicht nehmen musste; es reichte, dass es töten konnte. Dazu brauchte es nichts anderes, als dass die mittleren Schichten, die die Luftwaffe und die mechanisierten Brigaden stellte, sich einbilden durften, hinter der Revolution stünde ein islamistisch-imperialistisches Komplott.
Die lokalen Räte brachten eine landesweite Vereinigung unter diesen Bedingungen natürlich nicht zustande, sondern mussten, genau wie im Norden, diejenige Organisation adoptieren, die man ihnen anbot. Und hat nicht, anders als die PKK, diese Organisation in Spaltung und Niederlage geführt? Ja, diese Organisation und dazu die Fassbomben, die Giftgasangriffe, die schonungslosen Artilleriebombardements – hätte ein anderer Nationalausschuss als der SNC ein anderes Ergebnis bringen können? Das Problem ist ja vielleicht nicht nur, dass der SNC aus lauter Intrigant:innen bestand, die genau wussten, dass sie ohne die Unterstützung ihres jeweiligen Patrons, der Türkei, des saudischen Tyrannen etc., genau nichts waren und die es deswegen eilig hatten, die Revolution an diesen Patron zu verkaufen. Das Problem ist vielleicht struktureller Art.
Die spontan entstandenen Strukturen waren lokal gebunden und für eine hinhaltende Defensive reicht das eine Weile aus. Die Strategie bestand aber gerade darin, einzelne Gegenden mit so schwerem Feuer zu belegen, dass die lokalen Strukturen nicht mehr halten können. Die Revolution wird direkt und mit Absicht gezwungen, in die strategische Offensive zu gehen, wo sie aber der Gnade und Ungnade der ihr fremden Leitung, der übergelaufenen Generale, ausgeliefert ist – einer Offensive, die jedem einzelnen ihrer bisherigen Organisationsprinzipien zuwiderlaufen muss, schon allein indem z. B. Kräfte über die Köpfe des lokalen Rats hinweg von einem zum anderen Ort abgezogen werden müssen.
Gerade indem ihnen diese Strategien aufgezwungen wurden, wurde ihnen aber die Möglichkeit genommen, eigene angemessene Strukturen dafür zu bilden. Diejenigen Kräfte, auf die sie sich stattdessen stützen mussten, fürchteten nichts so sehr, als den einfachen Leuten, ihren neuen Dienstherren, in die Hände zu fallen. Sie mussten also den Prozess der Organisierung einer revolutionären Territorialverteidigung nach Möglichkeit behindern und sich stattdessen ausländischer Hilfe bedienen. Das plötzliche Aufkommen der größeren islamistischen Verbände, die die Einheiten der revolutionären Territorialverteidigung verdrängte, kommt daher.
In dieser ganzen Geschichte liegt ein viel tieferes Problem vergraben. Die Revolution kann auf keine dieser beiden Weisen ernsthaft vorgehen. Sie führen alle in die Irre. Das Problem der Verteidigung kann nicht verstanden werden ohne das Problem der gesellschaftlichen Einheit, d. h. das Problem des Staates. Es ist deswegen nicht kurzfristig lösbar. Es ist alles noch am Anfang. Die Bewegung wird noch ganz andere Strategien ausprobieren müssen, um das Problem für die kurze und die mittlere Frist zu umgehen, so dass es handhabbar wird, ohne den Weg zu einer gründlicheren Lösung zu verstellen. Übrigens gilt dasselbe für alle ähnlich gelagerten Fragen, wie z. B. das Geld. Das syrische Pfund und sein Kurs bestimmen die Preise aller importierten und exportierten Waren und hängt auf vielerlei Weisen von dem Regime ab. Defensivmaßregeln hiergegen haben ganz ähnliche Voraussetzungen wie die des Krieges.
Es wird in der Literatur viel mehr über die militärischen Fragen gesprochen als über die ökonomischen: Das sollte sich vielleicht ändern. Die Frage, welche Gestalt eine revolutionäre Ökonomie hat, ist dieselbe wie die, wessen Revolution verteidigt wird. Man würde hier ohne Zweifel ein ähnlich widerspruchsvolles Bild finden, aber mit besser zu interpretierendem Material.
4. Die Frage der Organisation
Es ist interessant, dass alle, die über „Rojava“ viel Gutes zu sagen wissen, dies über die syrische Revolution nicht tun. Noch interessanter ist zu sehen, wie derselbe Riss sich durch einen Haufen andere Gegenstände zieht. Die „selektive Solidarität“, wie Leila Shami es nennt, mit „den Kurden“ ist selbst ein Element in der globalen Kampagne gegen „die Araber“, sie dient der Kampagne gegen die Revolution unserer Zeit. Es muss sich niemanden wundern, dass diese „selektive Solidarität“ auch in linken Kreisen vorherrscht. Hier sind sich Leute einig, die sich sonst über nichts einig sind. Denn der neuere Riss liegt nicht nur über einem der älteren und tieferen Risse, sondern über gleich mehreren. Hinter der kollektiven Phantasie von der PKK erkennt man leicht die Umrisse älterer, mindestens ebenso siegreicher Parteien; das Aufgehen der Revolution im neuen Staat; hinter dem Bild von den Arabern die Furcht vor den gefährlichen Massen und ihrer hartnäckigen, unterirdischen Macht.
Ein ganzer Schatz von Lügen hat sich zu Gewissheiten verdichtet, durch dieselbe unermüdliche Wiederholung, mit der diese Gesellschaft den Glauben an ihre Beständigkeit immer neu herstellen muss. Diese Elemente stammen aus dem 20. Jahrhundert. Aber die Zusammensetzung ist die unserer Tage. Die Debatte um die Grundlagen findet nicht in historischen, sondern in zeitgenössischen Kostümen statt: Heute kann unwidersprochen ins Feld geführt werden, immerhin hätte die Partei vor Kobane bewiesen, was sie kann. Die Debatte in den Kreisen der linken Intellektuellen konzentriert sich derweil auf die Frage der Organisation. Wichtig sei die, hört man. Aber sie können nicht verstehen: Sie glauben, es käme darauf an, dass sie sich miteinander organisieren, anstatt mit den anderen Leuten, mit denen man arbeitet und neben denen man lebt. Daraus kann nichts Gutes kommen.
Kann die Gesellschaft des Staates, kann die Revolution der Partei entbehren? Dies gelingt nur wenn sie eigene Organe hervorbringen kann. Die Frage ist nicht: Kann sie das, denn das weiß noch niemand. Es ist zu selten versucht worden. Die Frage ist: Wie kann sie das? Denn sie wird es ein ums andere Mal versuchen. Ist das Gelingen reine Illusion, wie sie sich Anarchist:innen machen? Die andere Möglichkeit läuft darauf hinaus, dass jedes Mal eine neue Herrschaft aufgerichtet und diese jedes Mal wieder gestürzt werden muss, d. h. auf immer das Gleiche. Das Zeitalter der Revolution muss zu einem Ende kommen. Die Gesellschaft ist noch nicht gegründet.
Aliza Marcus: Blood and Belief. The PKK and the Kurdish Fight for Independence, New York University Press, 2007
Abdullah Ocalan, Janet Biehl, Dilar Dirik, Krzysztof Nawratek: Towards Stateless Democracy. Ideological Foundations Of Rojava Autonomy And The Kurdish Movement In Turkey, CCBYSA FreeLab, 2015
Ali Kemal Özcan: Turkey’s Kurds A theoretical analysis of the PKK and Abdullah Öcalan, Routledge, 2005
Anja Flach, Ercan Ayboğa, Michael Knapp: Revolution in Rojava, VSA-Verlag, 2015
Thomas Schmidinger: Rojava Revolution, War, and the Future of Syria’s Kurds, Pluto Press, 2018
Carlos Munzer, Abu Muad, Abu Al Baraa: Syria Under Fire. A Bloodied Revolution, Editorial Socialista Rudolph Klement, 2017
Anarchist Initiative From Koridalos Prison: Syrian Revolution, https://libcom.org/library/syrian-revolution-perspective-korydallos-prison-greece
Aufsätze
Self-organization in the Syrian people’s revolution – IV Online magazine – 2013 – IV462 – July 2013
Leila Shami: The life and work of anarchist Omar Aziz, and his impact on self-organization in the Syrian revolution
N. N.: The Most Important Thing: Two speaking tours and the Syrian Revolution
Jesse McDonald: The Syrian Social Nationalist Party’s (SSNP) Expansion in Syria
Michael Karadjis: US vs Free Syrian Army vs Jabhat al-Nusra (and ISIS): History of a hidden three-way conflict, Marxist Left Review No. 14, Winter 2017
Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Beitrags aus der Zeitschrift ‚Das grosse Thier‘ vom August 2020.
Beitragsbild: taku.net
Endlich mal ein scharfer,negativer Blick in diese entfernte Region, anstelle diffuser Lobrede und Projektionen! Danke.