Globales

Lob des Anarchismus in Zeiten des Krieges

Anarchismus als Organisationsform der Kommunikation von Mensch zu Mensch über alle Grenzen.

Ich bezeichne mich schon seit einer geraumen Zeit nicht mehr als Anarchist. Das liegt aber nicht daran, dass ich meine politische Gesinnung auch nur im Geringsten verändert hätte. Nein, mir gefällt nicht, was sich manchmal für recht beliebige und krude Ideen so nennen, es ist eine Distanzierung vom zeitgenössischen Anarchismus – von Rechthaberei, zu wenig Klassenbezug, Liebäugelei mit der Marktwirtschaft, mangelndem Demokratieverständnis, Organisationsfeindlichkeit, der Trend zum Insurrektionalismus etc. Der real existierende Anarchismus schien mir, kurz gesagt, überhaupt nicht fähig, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen.

Unleugbar hat aber auch dieser Anarchismus seine Vorzüge und gerade in Putins Krieg treten diese hervor. Das ist nur in zweiter Linie das, wofür der Anarchismus ideell immer stand: Mit der Staatskritik einher geht unbedingt zum einen eine Kritik an seiner Form, der Nation, und andererseits an seinen Institutionen, je autoritärer desto mehr – kurz es gibt keinen Anarchismus, sei er gewaltaffin oder gewaltfrei, der nicht antimilitaristisch wäre. Das zerbrochene Gewehr ist nicht zufällig in anarchosyndikalistischen Kreisen während des ersten Weltkriegs entstanden – und übrigens: die Hände, die dieses Gewehr zerbrechen, sind die Hände des Soldaten (resp. heute der Soldat*in) selber. Um eine Binsenweisheit aus Syndikalismus und Operaismus zu modifizieren: Soldat*innen können viel verändern, indem sie gemeinsam nichts tun.

Aber das, was in Putins Krieg den real existierenden Anarchismus zu einer Hoffnung werden lässt, ist sein Internationalismus. Ein wenig hängt dieser sogar mit der leidigen Organisationsfeindlichkeit zusammen: Wer keine Delegierten oder Repräsentant*innen entsenden kann, muss selber reisen.

Die Geschichte des proletarischen und organisierten Internationalismus begann so: Netzwerke von Arbeiter*innen entstanden weltweit, weil die Arbeiter*innen immer wanderten. Sie streuten Ideen, sie redeten miteinander, sie unterstützen sich auf ihren „Durchreisen“. Das ist noch der Gründungsimpuls der Internationalen Arbeiter Assoziation (heute bekannt als erste Internationale): Ein großes Kommunikationsnetzwerk, das vor allem Streiks untereinander kommuniziert, um zu verhindern, dass Wanderarbeiter*innen aus Unwissen zu Streikbrechern werden.

Diesen ursprünglichen Internationalismus – tatsächlich ein Transnationalismus, weil er davon lebt, ständig Grenzen zu überschreiten – hat sich der Anarchismus bis heute erhalten, in seiner Organisationsform geht es um direkte Kommunikation von Mensch zu Mensch über alle Grenzen hinweg.

Es ist deswegen kein Zufall, dass in Russland und in der Ukraine sich zuerst Anarchist*innen äußerten und auch protestierten. [1]Siehe z.B. https://www.akweb.de/bewegung/nein-zum-krieg-linke-stimmen-aus-russland-und-der-ukraine/ Es ist auch kein Zufall, dass die Informationen über diesen Widerstand sehr schnell mitsamt Unterstützungsmöglichkeiten auch im Rest der Welt ankamen, trotz erschwerter Kommunikationsbedingungen. Es ist kein Zufall, dass die EZLN eben diesen Anarchist*innen in der Ukraine und in Russland ihr Vertrauen schenkt: „Unsere Vertrauten, die außerdem die Fahne des libertären A hochhalten, verbleiben entschlossen: im Widerstand – diejenigen, die sich im Donbass, in der Ukraine befinden – und in Rebellion – diejenigen, die sich in Russland auf den Straßen und auf dem Land bewegen und arbeiten.“ [2]https://www.gruppe-basta.de/?p=1070

Und es ist kein Zufall, dass viele erklärte Nicht-Anarchist*innen feststellen, dass in diesen Zeiten die anarchistischen Stimmen die fundiertesten sind. Nicht deswegen, weil sie den Krieg, den Nationalismus oder den Militarismus am besten erklären. Sondern weil ihr gelebter Internationalismus direkte Solidarität bedeutet. Weil die Anarchist*innen wissen, worauf es ankommt: die Menschen vor Ort zu unterstützen, beim Überleben und beim Besser-leben. Warum wissen sie das? Weil sie miteinander gesprochen haben, weil sie ihre Erfahrungen ausgetauscht haben, weil sie sich kennen.

Beitragsbild: CC BY-SA 3.0 Noelbabar

 

Gaspar Bartholic

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Gaspar Bartholic

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