Look back in Anger

Dienstag, 17. Januar 2023, Darmstadt Karolinenplatz: ASten (Allgemeine Studierendenausschüsse) dreier Hochschulen, die Gewerkschaften GEW und ver.di sowie die lokale TVStud-Initiative (Initiative für einen studentischen Tarifvertrag) und die Initiative „Darmstadt Unbefristet“ (gegen Befristungen an den Hochschulen) rufen gemeinsam zur Kundgebung „Studieren statt Frieren“ gegen verschiedenste Verwerfungen durch Inflation und Krise, unterstützt außerdem vom Darmstädter Ableger der bundesweiten Kampagne „Genug ist genug“. Trotz vorheriger studentischer Vollversammlungen, umfassender Plakatankündigungen, Mailverteilern und Ankündigungen in Seminaren stehen maximal 50 Teilnehmer*innen auf dem Karolinenplatz.

Eine Woche zuvor, Mannheim, Neckarstadt West. Das Bündnis „Wir zahlen nicht für eure Krise“, bereits während der Eurokrise ein Jahrzehnt zuvor aktiv, ruft seit etwa drei Monaten regelmäßig zu Kundgebungen gegen die Inflationspolitik auf. Die Teilnehmer*innen der Kundgebung in dem prekär und migrantisch geprägten Stadtteil lassen sich an einer Hand abzählen. Die Mobilisierung mag – auch aufgrund der Regelmäßigkeit der Kundgebungen – geringer gewesen sein als im Darmstädter Beispiel, aber immerhin: man hatte sich durchgerungen, mit Kundgebung wie auch mit der Mobilisierung hierfür von der Stadtmitte an den – in mehrfacher Hinsicht – „Rand“ zu gehen.

Das sind nur zwei aktuelle Beispiele für die Versuche zur Realisierung eines „heißen Herbstes“, die etwas Enttäuschung zurücklassen. Steigende Energiekosten, steigende Mieten, Blockade eines Bürgergelds, das seinen Namen auch nur halbwegs verdient: Aus linker Sicht liegen die Motive für eine Sozialrevolte wortwörtlich auf der Straße. Mit Black Lives Matter, Ni Una Menos, den Gilets Jaunes sowie zig anderen Beispielen aus dem transnationalen Kontext gibt es dazu zahlreiche Vorbilder für Sozialproteste, von denen man – wiederum aus linker Perspektive – doch meinen sollte, dass sie Vorbildfunktion haben. Dann kamen im Spätsommer 2022 gefühlt alle zwei Tage entsprechende Ermahnungen aus der professionellen Politik, dass man sich vor einem rechtspopulistischen „heißen Herbst“ hüten sollte.

Warum waren die linken Mobilisierungen so schwach? Unter den vielen Antworten, die es hierzu gibt, möchte ich im Folgenden nur eine behandeln: Die linken Bewegungen bzw. Gruppen, die für einen „heißen Herbst“ mobilisierten, haben viel zu kurzfristig geplant, um tatsächlich Menschen aus ihrem Alltag abzuholen. Es wurde erwartet, dass die Proteste gegen die ökonomischen, sozialen und auch ökologischen Folgen der Vielfachkrise mehr oder weniger von alleine entstehen würden. Das ist, wie Jaques Ranciere beschreibt, durchaus nicht unmöglich: „Es gibt aus der inneren Logik des Systems nie gute Bedingungen für dessen Subversion. Bedingungen für Subversion sind in diesem Sinne immer unwahrscheinlich, sie treten aus der Wahrscheinlichkeit heraus. Sie fallen deshalb nicht vom Himmel, aber die Gründe für Aufstände können sehr unterschiedlich und auf ihre Weise unwahrscheinlich sein […]“.[1]„Es gibt nie gute Bedingungen für Subversion.“ Jens Kastner im Gespräch mit Jacques Ranciere. In: Tagebuch 2/2023, S. 20 – 25. Hier: S. 24. Neben den oben genannten aktuellen globalen Bewegungen gilt dies beispielsweise auch für die Montagsdemonstrations-Bewegung gegen Hartz IV im Jahr 2004. Dies ist aber keine Garantie, mit der man rechnen kann. Möchte man die Wahrscheinlichkeit erhöhen, benötigt man eben durchaus eine (langfristige) Strategie, die vor allem Möglichkeiten von Teilhabe und radikaler Demokratie von unten gewährleisten muss. Wir finden eine solche Strategie im Organizing.

Organizing: Revolte oder Befriedung?

Anne Seeck hat kürzlich zurecht im neuen deutschland das Verhältnis von linkem (akademisch geprägten) Aktivismus und unteren Klassen als „entfremdet“ beschrieben. Dabei geht sie auch auf das Instrument des Organizing ein: „Während sich früher Betroffene selbst organisierten, […] wird heute vermehrt die Methode des Organizing eingesetzt, die aus der Gemeinwesenarbeit kommt und auch im gewerkschaftlichen Kontext eingesetzt wird. Organizer*innen werden ausgebildet, um dann zum Beispiel Arbeits- und Mietkämpfe zu organisieren. Früher wurde mit Menschen im Alltag einfach nur gesprochen, jetzt heißt das im Organizing-Jargon ‚Eins-zu-eins‘ oder ‚Haustür-Gespräche‘.“[2]Seeck, Anne: Prozesse der Entfremdung. In: neues deutschland, 25.01.2023. Zit. n. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170426.klassenpolitik-prozesse-der-entfremdung.html (28.02.2023).

Anne Seeck impliziert hier, das ist aus dem Kontext zu erschließen, dass Organizer*innen aus dem akademischen Milieu kommen und von außen intervenieren. Das muss nicht so sein. Im besten Fall sind Organizer*innen politisch oder betrieblich aktive Kolleg*innen – so wurde historisch und wird bis heute etwa der Begriff ‚Organizer‘ in der syndikalistischen Tradition verstanden. So verstand ihn auch William Z. Foster, anfangs Mitglied der IWW (Industrial Workers oft he World) und später Organizer der CIO, als welcher er die ersten Organizing-Strategie-Papiere schrieb.[3]Foster, William Z.: Organizing Methods in the Steel Industry. New York 1936. Online unter: https://stars.library.ucf.edu/prism/684 (28.02.2023) Der Organizer ist in dieser Tradition nicht derjenige, der Proteste plant, sondern derjenige, der Kolleg*innen oder Nachbar*innen Instrumente „zur intellektuellen Selbstverteidigung“ (Noam Chomsky) in die Hand gibt, also Selbstermächtigung und demokratische Teilhabe fördert. Die Aufgabe des Organizers ist es letztlich, sich selber überflüssig zu machen. Zu kontextualisieren wäre diese mindestens 100jährige und vor allem gewerkschaftliche Tradition mit durchaus ähnlichen Ansprache- und Selbstermächtigungskonzepten: namentlich beispielsweise der conricierca (militante Befragung) der italienischen Operaist*innen seit den 1960er Jahren,[4]Umfassend: Haider, Asad und Mohandesi, Salar: Workers’ Inquiry: A Genealogy. September 2013. Online unter https://viewpointmag.com/2013/09/27/workers-inquiry-a-genealogy/ (01.03.2023). dem Erfahrungsansatz in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit nach Oskar Negt[5]Negt, Oskar: Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt a.M. 1968. und der derivé der französischen Situationist*innen. Zu allen Zeiten haben politische Aktivist*innen – auch, aber nicht ausschließlich, mit akademischem oder „intellektuellem“ Hintergrund – Konzepte zur Mobilisierung oder Organisierung der Massen formuliert. Der erste – und ziemlich misslungene – Versuch ist dabei der von Karl Marx formulierte „Fragebogen für Arbeiter“ von 1880.[6]Marx, Karl: Fragebogen für Arbeiter, MEW Band 19, S. 230–237. Zur Entstehung: Weiss, Hilde: Die ‚Enquete Ouvriere‘ von Karl Marx. In: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 5, 1936, S. 76 – 97.

Der Begriff des Organizing wurde um 1968 nach Deutschland importiert, in erster Linie in der Variante Saul Alinskys und im Rahmen der „aggressiven Gemeinwesenarbeit“,[7]Müller, C. Wolfgang: Die Rezeption der Gemeinwesenarbeit in Deutschland. In: Müller, C.W.; Nimmermann, Peter (Hg.): Stadtplanung und Gemeinwesenarbeit. Texte und Dokumente. München 1971. S. 228-240. die sich als parteiisch auf Seiten der Arbeiterklasse verstand und als Methode die „aktivierende Befragung“ – das ist das Eins-zu-Eins-Gespräch – favorisierte.

Aus dieser Aufbruchsstimung der 1970er Jahre stammt auch eine der ersten Publikationen, in denen der Begriff Organizing auch in der deutschen Übersetzung verwendet wird: 1986 erscheint Francis Fox Pivens und Richard A. Clowards 1977 im Original erschienene Studie „Aufstand der Armen“, in denen sie exemplarisch die US-amerikanische Arbeitslosenbewegung der 1930er Jahre, die Bewegung der Industriearbeiter nach der Weltwirtschaftskrise, die (schwarze) Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre und die Bewegung der Wohlfahrtsempfänger zur gleichen Zeit beschreiben. In diesem Kontext üben sie eine harsche Kritik des Organizings, das hierzulande noch so unbekannt ist, dass die Übersetzer es in einer Fußnote erläutern müssen.[8]Piven, Frances Fox und Cloward, Richard A.: Aufstand der Armen. Frankfurt a.M. 1986. S. 13. Pivens und Clowards Kritik kummuliert in der Aussage „‘Organizers‘ versäumten es nicht allein, die Möglichkeiten, die das Aufkommen von Unruhen ihnen bot, am Schopfe zu packen, sondern agierten in der Regel in einer Weise, die der von den Unterprivilegierten bisweilen entwickelten Sprengkraft die Spitze abbrach oder sie neutralisierte“.[9]Ebd., S. 21.

Ist also, so ließe sich zugespitzt fragen, ‚Organizing‘ ein Herrschaftsinstrument, das einerseits von einem elitären Milieu zur Abgrenzung von den ‚Subalternen‘ oder ‚Prekären‘ und gleichzeitig zur eigenen Professionalisierung genutzt wird und andererseits spontanen Massenprotest in institutionelle oder institutionalisierte Schranken weist? Pivens und Clowards Kritik trifft auf die aktuelle Situation nur beschränkt zu – denn es gibt in der krisengeschüttelten Bundesrepublik kein „Aufkommen von Unruhen“ in einem emanzipatorischen Sinne, das Organizer*innen einhegen oder institutionalisieren könnten. Dennoch ist die Kritik auch hier bedenkenswert: Institutionelle Einhegung gibt es erstens auch ohne Organizing. Erinnert sei etwa an die u.a. von den Gewerkschaften des DGB unterstützte Großdemonstration gegen Hartz IV im Herbst 2004, die der zuvorigen Bewegung der Montagsdemonstration den Wind aus den Segeln nahm. Und zweitens ließe sich, im Sinne der zitierten Kritik Anne Seecks, durchaus fragen, ob nicht die organisierte Linke an sich in ihrem klassen-entfremdeten, akademischen (und damit bereits eingehegten) Charakter die Rolle spielt, die laut Piven und Cloward Organizer*innen historisch bei den Arbeitslosenprotesten oder in der Bürgerrechtsbewegung der USA spielten – als Regulationsgremium einer Formierung 2.0[10]Weber, Klaus: Rückkehr der ‚echten Solidarität‘. Nationale Formierung 2.0 im Anmarsch? In: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit 10/2022. S. 4f. gegen – Achtung, ironische Zuspitzung! – Putin-Versteher, Impfgegner und Querdenker.

Dennoch: Zu konstatieren ist erstmal die weitgehende Abwesenheit von Bewegung und eine strategisch durchaus zu stellende Frage ist, ob dies durch Methoden des Organizing zu kompensieren wäre.

Organizing als Bewegungsmethode

Ein Kern des Organizings sind die 1 zu 1-Gespräche, in der Sozialen Arbeit oft auch „aktivierende Gespräche“ genannt. Der entscheidende Punkt dabei ist recht simpel: Man muss erst Mal mit Menschen ins Gespräch kommen, den Austausch organisieren. Dort, wo das gemacht wurde, waren die Krisenproteste des Herbsts und Winters 2022/23 tendenziell auch nicht ganz so verloren: In Bremen etwa hatte die Initiative „Solidarisch in Gröpelingen“ bereits seit dem Frühjahr mit einer entsprechenden Situation gerechnet und begonnen, entsprechende Haustürgespräche im Stadtteil zu führen. In Münster hat die durch ein ähnliches Vorgehen im Stadtteil gut verankerte Initiative „Berg Fidel Solidarisch“[11]Zu den beiden genannten und ähnlichen Initiativen vgl. Vogliami Tutto: Revolutionäre Stadtteilarbeit. Zwischenbilanz einer strategischen Neuausrichtung linker Praxis. Münster 2022. eine Stadtteilversammlung zum Thema durchgeführt, an der 80 Personen teilgenommen haben – das klingt noch nicht viel, aber man bedenke: 80 Personen, die nicht kurz auf eine Demonstration gehen für ihr Anliegen, sondern bereit sind, aktiv darüber zu diskutieren – was aber gleichzeitig auch die Erklärung ist: Demonstrationen sind (gerade im Herbst und Winter) ungemütlich, verändern als solche erst Mal gar nichts[12]Das wird häufig vergessen: Demonstrationen „demonstrieren“ etwas, und zwar in erster Linie die Bereitschaft, den Demonstrationen auch andere Aktionen folgen zu lassen oder die Straße nicht mehr zu verlassen. Demonstrationen entfalten ihre Wirkung nach außen oder an den Gegner deswegen nur, wenn diese Drohung auch glaubhaft ist. Unbenommen ist allerdings, dass Demonstrationen auch noch einen anderen Zweck haben, nämlich Kohärenz nach innen zu zeigen: sie stärken die eigene Moral. und die einzelne Stimme geht in der Masse (so denn eine da ist) unter. Sich dagegen zusammenzusetzen und die Möglichkeit zu haben, das Wort zu ergreifen, weil man das bereits trainiert hat (in Einzelgesprächen und kleineren Runden, im Organizing-Jargon: den Aktiventreffen) und dazu ermutigt wird, ist da schon etwas ganz anderes. Damit kann ich zwar weder die Regierungspolitik noch die Welt verändern, aber vielleicht schon mal mein konkretes Umfeld.

Das betrifft den zweiten Punkt im Organizing: Mehr zuhören als selber reden. Um dann, das ist der dritte Punkt, herauszufinden, wo bei unseren Nachbarn und Kolleginnen denn eigentlich der Schuh drückt. Wir glauben nämlich viel zu oft, aus Statistiken oder einer Theorie oder aus schlauen Büchern,[13]Die „Die Anstalt“-Sendung vom 16. Mai 2017, die Auftakt der Leiharbeitskampagne von labournet.de und Arbeitsrechtsanwalt Wolfgang Däubler war, formulierte das schön wie folgt: „Sie lesen einen französischen Soziologen, um etwas über deutsche Arbeiter zu erfahren?“ (Gemeint ist Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“). Siehe https://www.zdf.de/assets/faktencheck-mai-102~original?cb=1511457524135 (01.03.2023). dass wir das wüssten. Nichts davon ist aber in der Lage, die Erfahrungen und vor allen Dingen, den Punkt, an dem Wut zum Vorschein kommt, herauszufinden. Genau das ist in den linken Mobilisierungen für einen „heißen Herbst“ zum Vorschein gekommen: Die soziale Linke wollte meist lediglich rechten Protesten zuvorkommen und eine entsprechende Bewegung, inhaltlich spekulativ, „von oben“ vorformen, man versuchte, „mit eigenen Angeboten zu kontern“.[14]Lehmann, Fabian: Protestbündnisse wärmen sich auf. Bundesweit mobilisieren Initiativen zu Demonstrationen gegen Preissteigerungen. In: analyse und kritik Nr. 686, Oktober 2022, S. 22. Andreas Kemper hat das mal in einem Gespräch mit Verweis auf Ernst Bloch so benannt, dass der Linken oft der Zugang zum Wärmestrom fehlt,[15]Fritzsche, Julia: Mit Erzählungen raus aus der bedrängenden Gegenwart. Angesichts der Rechtsentwicklung fordern viele Linke ‚neue Erzählungen‘. Doch welche könnten das sein? Eine Suche. In: analyse und kritik 623, Januar 2017. https://archiv.akweb.de/ak_s/ak623/13.htm (21.12.2022). in der Organizing-Sprache: zum Anger.

Das wäre der nächste entscheidende Punkt: aus dem Erzählten herausbekommen, wo denn eigentlich der Schuh drückt. Woher Wut, Groll, vielleicht auch Passivität kommen. Welches Problem, welches Thema, ist so groß, so wichtig, dass die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, bereit wären, etwas dagegen zu unternehmen, und zwar kollektiv? Diese Wut gelte es dann zu organisieren. Dabei ist auch zu bedenken: Zuviel Aufwand (etwa die möglicherweise auch noch teure Fahrt zur Massendemonstration in der Bundeshauptstadt oder auch das vierstündige Plenum) lassen die Wut eher verrauchen bzw. ist man dann vielleicht doch nicht so wütend, dass der Aufwand lohne. M.E. kann man dafür nur den Rahmen zur Verfügung stellen, vielleicht sein technisches Wissen, aber letztlich muss es eine Hilfe zur Selbstorganisierung sein.

(K)eine Hexerei

Ich will nicht behaupten, dass das so einfach ist, dass Organizing wie durch Hexerei Selbstorganisierungen der unteren Klassensegmente erzeugt. Es gibt viele Hürden: die erste wäre schon mal die sprachliche. Die zweite ist sicher, dass man, auch wenn das nicht die eigentliche Intention war, eine Menge klassischer Sozialarbeit macht. In der aus den Protesten gegen Hartz IV entstandenen Erwerbslosenarbeit der FAU Münsterland und später der FAU Mannheim, an der ich beteiligt war, haben wir lange Ämter- und Agenturbegleitung angeboten. Das Kalkül war, dass die begleiteten Menschen sich selber schulen und auch bereit sind, solche Begleitungen auf Basis der Gegenseitigkeit anzubieten. Aber es blieb, auch in politisch informierten Kreisen, immer die Erwartung einer sozialen Dienstleistung da. Bei Protesten von migrantischen Bauarbeitern, Erntehelfer*innen etc. ist der erste Schritt oft die Hilfe beim Ausfüllen des ALG II-Antrags oder Hilfe bei der Wohnungssuche.[16]Vgl. exemplarisch: Lackus, Hendrik und Schell, Olga: Mall of Shame. Kampf um Würde und Lohn. Rückblicke, Hintergründe und Ausblicke. Berlin 2020. S. 88. Vertrauen muss man sich verdienen, und hier steht die gesellschaftliche Linke aktuell nicht gut da. Auch mit den Organizing-Methoden muss man in Zeitrahmen von drei, fünf oder auch mal zehn Jahren rechnen – und eben nicht von der ersten Verlautbarung der Bundesregierung, dass es einen „heißen Herbst“ geben könnte im Sommerloch Juli/August 2022 bis zum Herbstanfang am 21. September desselben Jahres. Das fällt aber der akademisierten und damit oftmals zum „Projektorat“ verdammten Linken normalerweise schwer, auch deswegen, weil sie durch ihre eigene Lebens- und Arbeitsweise – Projektstellen, befristete Verträge, häufige Umzüge – eine andere Lebensrealität hat und es ihr schwerfällt, sozialpolitisches Engagement überhaupt in solchen zeitlichen Dimensionen zu denken.[17]Siehe hierzu als Auszug aus einer laufenden Debatte: Kapfinger, Emanuel: Wir brauchen eine Diskussion über die Karriereplanung der linken Studis. 13.03.2017. Online: https://lowerclassmag.com/2017/03/13/wir-brauchen-eine-diskussion-ueber-die-karriereplanung-der-linken-studis/ (01.03.2023).

Das weist auch darauf hin, dass es vielleicht sinnvoller wäre, sich, ist man selber von solchen Einschränkungen betroffen, zunächst auch dort zu engagieren. Das betrifft einen weiteren Punkt: Auch wenn ich an der Haustür meines prekären, migrantisierten Nachbarn stehe, fragt dieser sich zurecht, warum ich das denn überhaupt will. Erst, wenn ich mich auch für meine eigene Situation interessiere und kämpfe, wird das überhaupt plausibel. Michel Foucault stellte 1978 fest: „Die Intellektuellen sind dazu übergegangen […], dort, wo sie in ihren Arbeits- und Lebensbedingungen betroffen sind [… ihre Arbeit anzusiedeln]. Dabei haben sie sich ein sehr viel konkreteres und unmittelbareres Bewusstsein der Kämpfe erworben […]. Und […] sich ihnen in Wirklichkeit angenähert, […] weil es sich um reale, materielle, tägliche Kämpfe handelte […]“.[18]Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin 1078. S. 44.

Zwar ist Organizing keine Hexerei, aber sie hat einen Zauberspruch: Anger – Hope – Action, Wut – Hoffnung – Aktion. Damit der Zauberspruch wirkt, bedarf es noch ein paar anderer Zutaten, die für das Folgende durchaus relevant sind. Für das Gelingen eines Organizing sind noch ein paar Zutaten im Zaubertrank notwendig (auch diese liefern natürlich keine Garantie!): das sind erstens die Konfliktorientierung, zweitens die Kollektivität und drittens die Gewinnbarkeit der Konflikte.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey machen auf den hochgradigen sozialen Druck aufmerksam, der Menschen keine andere Wahl lässt, als „sich unangepasst zu verhalten“.[19]Amlinger, Carolin und Nachtwey, Oliver: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Berlin 2022. S. 156. Sie erklären diese mit der Studie Mertons aus den 1930er Jahren, nach der in unserer Gesellschaft erstrebenswerte Ziele – Wohlstand, Bildung, Normativität – und erwünschte Handlungsmuster auseinanderfallen. Die in der bürgerlichen Gesellschaft erwünschten Ziele sind mit den erwünschten Mitteln nicht zu erreichen. Es gibt einen „Konflikt zwischen den kulturellen Zielen und den verfügbaren institutionellen Mitteln“ schreibt Robert K. Merton.[20]Zit. n. ebd. Darauf basiert, so Amlinger und Nachtwey, der kollektive Anger, den das Autor*innen-Duo allerdings vorrangig negativ beurteilt. Aus diesem Anger – Wut im Organizing, „Groll“ bei Amlinger und Nachtwey, entsteht „deviante Handlungen“.[21]Ebd., S. 157. Das Problem besteht nicht in dem devianten Verhalten, sondern darin, dass dieses deviante Verhalten individuell ist und seine Ziele meist auf einen weiteren liberalen Wert ausgerichtet sind, nämlich auf individuelles Eigentum – was man aber jemandem, der nichts hat, dort wo andere viel haben, kaum vorwerfen kann. Und das Problem liegt weiterhin darin, dass qua ihrer Klassen- bzw. Milieuzugehörigkeit viele Linke dieses deviante Verhalten ablehnen oder zumindest nicht verstehen.

Es geht folglich darum, dieses deviante Verhalten zu kollektivieren und zu organisieren. Ich kann natürlich eine Organizing-Kampagne zum Wahlverhalten armutsbetroffener Menschen beginnen, aber dann habe ich mit Sicherheit eine top-down-Kampagne, die den Anger nicht trifft. Aber es gab mal die andere Variante. Es gab mal ein kollektives „proletarisches Einkaufen“, es gab koordiniertes Schwarzfahren (etwa die Roter-Punkt-Aktion) und es gab noch in den 2000ern die sympathischen Aktionen der prekären Superhelden in Hamburg, die zum kostenlosen Schmaus in den Gourmet-Abteilungen von Kaufhäusern einluden (wobei man, klar, bei so was auch die Kollegen und Kolleginnen mit einladen muss, die dort arbeiten und gerade heute um ihre Arbeitsplätze schwitzen).[22]Adolphs, Stephan und Hamm, Marion: Prekäre Superhelden: Zur Entwicklung politischer Handlungsmöglichkeiten in postfordistischen Verhältnissen. In: Altenhain, Claudia u.a. (Hg.): Von »Neuer Unterschicht« und Prekariat. Gesellschaftliche Verhältnisse und Kategorien im Umbruch. Kritische Perspektiven auf aktuelle Debatten. Bielefeld 2008. S. 165 – 182. Es geht um Umverteilung von oben nach unten, nicht um Anerkennung durch die da oben. Vor allem die Kampagne Deutsche Wohnen & Co enteignen! und ähnliche Kampagnen haben das wieder aufgenommen – auch mit einer Organizing-Perspektive. Ob ich den proletarischen Einkauf organisiere oder Großkonzerne enteignen will: zentral geht es darum, die Eigentumsfrage zu stellen. Ich kann von einem Millionär fordern, mich in meiner gesellschaftlichen Rolle (der sozialen Position, nicht der kulturellen Identität) anzuerkennen, aber davon werde ich nicht satt. Ich kann auch seine Villa plündern.

Kritik des Organizing

Anger ist nicht unproblematisch: „[D]ie Macht der gegenseitigen Abhängigkeit [hat] wie alle Formen der Macht auch eine dunkle Seite und diese dunkle Seite hat ihr schon immer innegewohnt“.[23]Piven, Frances Fox: Kann Macht von unten die Welt verändern? S. 99. In: Buch, Michael; Schaffar, Wolfgang und Scheiffele, Peter: Organisation und Kritik. Münster 2011. S. 74 – 104. – Hinzu kommt, dass in Betracht gezogen werden muss, dass die Menschen möglicherweise gar nicht wütend sind. Darauf weist etwa Lene Kempe hin: Kempe, Lene: Warum so lauwarm? In: analyse und kritik Nr. 687, November 2022. S. 18. Christian Zeller benennt, ebenfalls in der analyse und kritik, das mögliche andere dominierende Gefühl: Ratlosigkeit. Zeller, Christian: Sozialpopulismus führt in die Irre. Linke Kampagnen gegen Teuerungen blenden die ökologische Dimension der Krise aus. In: analyse und kritik Nr. 686, Oktober 2022. S. 23. Andreas Kemper hat nicht nur auf den fehlenden Wärmestrom von links hingewiesen, sondern auch darauf, dass die extreme Rechte in Sachen „Wärmestrom“ viel besser sei als die Linke. Dass der heiße Herbst von links nicht so richtig Fahrt aufgenommen hat, von rechts aber durchaus, liegt daran, dass die Rechte im Sinne des Organizing eine konkrete, ihres Erachtens gewinnbare, Vision hatte: das Ende der Embargos gegen Russland, also freies Fließen für russisches Gas für die warme Stube. Michael May hat darauf verwiesen, dass Organizing eben nicht an sich emanzipatorisch ist, sondern dass es auch ein rechtsextremes Instrument sein könnte.[24]May, Michael: Organizing und Soziale Arbeit. Vortrag auf der Tagung „Vom Begehren nach einer anderen Freiheit getragen“, Frankfurt, 8. Oktober 2022. https://youtu.be/7APWo-r1DoE (28.02.2023) Und ich möchte ergänzen: Als „Beteiligungsfalle“ ist es oftmals auch ein neoliberales Instrument.

Wir brauchen also eine Wut- oder Zorn- oder Groll-Perspektive, die sich nicht zu fein für Devianz ist, aber zielgerichtet. Wir bleiben zwar spekulativ, aber eine kollektive, gewinnbare und emotionale Basis dafür scheint mir eine Sorgeperspektive zu sein, die Sorge um die eigenen (kollektiv und über den Leib hinaus gedachten) Körper und die Einsicht, dass diese aufeinander angewiesen sind.[25]Govrin, Jule: Politische Körper. Von Sorge und Solidarität. Berlin 2022. Es gilt m.E., die Dynamik etwa der Krankenhausbewegungen und die „Systemrelevanz“-Debatte der Corona-Zeit aufzunehmen und zu verallgemeinern: unsere körperliche Unversehrtheit ist ja nicht nur eine Frage des Pflegesektors, sondern unsere Gesundheit wird durch die Arbeitsverhältnisse, durch das „Arbeitsleid“[26]Cubela, Slave: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen. Münster 2023. täglich aufs Neue auf die Probe gestellt. Slave Cubela hat deswegen als nächsten Schritt des Organizings ein „SOrganizing“, sozusagen ein Care-Organizing vorgeschlagen.[27]Cubela, Slave: Anger, Hope – Action? Organizing und soziale Kämpfe im Zeitalter des Zorns. Berlin 2021. S. 112. Das ist auch deswegen relevant, weil es den Bereich der Reproduktionsarbeit, und deswegen eine der erfolgreichsten globalen Bewegungen, die feministische Frauen*streik-Bewegung, mitdenkt.

Dabei ist aber auch festzuhalten: „Organizing schafft keine sozialen Bewegungen“.[28]Ebd., S. 114. Denn, so Piven und Cloward, „Aufstände benötigen weniger eine ausgefeilte Organisation als eine große Anzahl von Menschen, Nähe und Kommunikation.“[29]Piven u. Cloward zit. N. Piven, Frances Fox: Kann Macht von unten die Welt verändern? S. 96. In: Buch, Michael; Schaffar, Wolfgang und Scheiffele, Peter: Organisation und Kritik. Münster 2011. S. 74 – 104. Etwaige Kritik an einem technizistisch verstandenen Organizing ist deswegen durchaus angemessen. Organizing kann aber auch einfach verstanden werden als Methodik, eben diese „Nähe und Kommunikation“ herzustellen – eine Organisation letztlich, die mehr ist als die spontane Mobilisierung, aber deswegen noch nicht institutionalisiert und oligarchisch.

Wer aber soll diese Organisierungsarbeit machen? Es bleiben ja immer noch Menschen von „außen“, die den Anstoß liefern, die an den Haustüren klingeln, die zuhören. Die akademisch geprägte Linke hat durchaus Angst um ihre paar Pfründe, wir wollen nicht die untere Fraktion der professional–managerial class (PMC) bleiben. So wird der „progressive Neoliberalismus“[30]Fraser, Nancy: Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, S. 71-76. zum real existierenden Bündnis zwischen herrschender Klasse und akademischer Linker. Die ‚Subalternen‘ brauchen für ihre Selbstorganisierung aber keine „Allies“ aus den herrschenden Klassen, sie braucht Kumpel, Kolleg*innen, Genoss*innen,[31]Dean, Jodi: Genossen! Berlin 2020. mit denen sie „Pferde stehlen können“, um sich gegen ökonomische (Über-)Ausbeutung, rassistische Diskriminierung oder geschlechtliche Normierung zu wehren. Sie brauchen eine gemeinsame Organisierung nach gemeinsamen Interessen, nicht nach (politischen) Köpfen.[32]Negt, Oskar: Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren! Aktuelle Fragen der Organisation. In: Sozialistisches Büro (Hg.): Für eine neue sozialistische Linke. Analysen, Strategien, Modelle. Frankfurt a.M. 1973. S. 216 – 225. Das Gebot der Stunde lautet daher: Hingehen und zuhören. Denn „die Menschen können handeln, wenn sie Teil einer Gemeinschaft der Gleichen sind.“[33]„Es gibt nie gute Bedingungen für Subversion.“ Jens Kastner im Gespräch mit Jacques Ranciere. In: Tagebuch 2/2023, S. 20 – 25. Hier: S. 25.

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Auszug aus dem Buch: „KlassenLos. Sozialer Widerstand von Hartz IV bis zu den Teuerungsprotesten.“ Anne Seeck, Peter Nowak, Gerhard Hanloser und Harald Rein. 256 Zu finden hier.

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