DA: Bitte beschreibe doch mal deine Arbeitssituation. Wo arbeitest du? Wie groß ist der Betrieb? Welche typischen Tätigkeiten fallen in der alltäglichen Arbeit an?
Ich arbeite beim Rudolf-Sophien-Stift in Stuttgart. Das ist eine Tochtergesellschaft der Evangelischen Gesellschaft und fällt damit in den Bereich „kirchliches Arbeitsrecht“. Das Rudolf-Sophien-Stift bietet soziale Angebote für psychisch erkrankte Menschen – unter anderem umfasst dies eine Klinik und einen medizinisch+beruflichen Rehabilitationsbereich, Werkstätten sowie Wohnheime und betreute Wohnungen. Der Betrieb hat aktuell ca. 500 Mitarbeitende.
Mein Arbeitsplatz ist in einem der Wohnheime. Hier arbeite ich im Schichtdienst (das heißt: Frühschicht, Spätschicht, Nachtbereitschaft). Zu meinen Aufgaben gehören die Begleitung und Unterstützung der Wohnheimbewohner:innen in ihrem Alltag; einerseits mit dem Ziel Stress und Überforderung bei ihnen zu reduzieren und dadurch psychische Krisen zu vermeiden. Das umfasst unter anderem die Unterstützung bei behördlichen Angelegenheiten, Arztbegleitungen, aber auch Unterstützung bei Haushaltstätigkeiten sowie das Üben lebenspraktischer Fähigkeiten. Andererseits ist es unser Ziel, die Bewohner:innen zu befähigen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, im und außerhalb des Wohnheims, so zum Beispiel durch Freizeitangebote.
DA: 2019 habt ihr erste Verbesserungen für die Belegschaft erstritten. Welche Verbesserungen sind das? Wie konntet ihr diese erreichen?
Anfang 2019 waren mehrere Stellen im Betreuungsteam nicht besetzt. Diese Unterbesetzung bedeutete für uns permanenter Stress bei der alltäglichen Arbeit, eine hohe Arbeitsverdichtung und (daraus resultierend) ein hoher Krankenstand unter den Kolleg:innen (was zu noch mehr Arbeit führte). In den Gesprächen mit meinen Kolleg:innen war schnell klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Wir schrieben eine kollektive Überlastungsanzeige, die von 90% des Teams unterschrieben wurde. Daraufhin wurde das ganze Team gemeinsam zum Gespräch mit der Abteilungsleitung geladen. Wir hatten im Vorfeld besprochen, dass wir Verbesserungen der Arbeitsbedingungen brauchen. Ich hatte auch die FAU Stuttgart zu Rate gezogen. Letztlich machten wir im Gespräch mit der Abteilungsleitung klar, dass das Unternehmen sowohl für erste Maßnahmen zur Entlastung des Arbeitspensums sorgen, als auch unsere Arbeitsstellen für potentielle Stellenbewerber:innen (und uns) attraktiver machen solle.
Letztlich konnten wir folgende Verbesserungen erreichen: Es wurde eine weitere Stelle geschaffen im Bereich Hauswirtschaft und Haustechnik, die sofort intern besetzt wurde. Es wurde eine „Einspringprämie“ von 100 Euro brutto pro Tag eingeführt, wenn Kolleg:innen kurzfristig und ungeplant zur Arbeit kommen (weil jemand krank geworden ist); für die Kolleg:innen im 3-Schichtsystem wurde ab sofort Wechselschichtzulage statt Schichtzulage bezahlt (dies bedeutete mehr Geld sowie drei zusätzliche Urlaubstage im Jahr). Es wurden mehr Personalstellen als bisher eingeplant und die Personalsuche online vom Unternehmen deutlich ausgeweitet. Ehrlich gesagt, haben mich die Fülle an Verbesserungen überrascht im Vergleich zum Aufwand.
DA: Ende 2023 habt ihr jetzt eine formale Betriebsgruppe aufgebaut. Was kannst du uns dazu erzählen?
Mittlerweile waren wir mehrere FAU-Mitglieder im Betrieb (an unterschiedlichen Standorten in Stuttgart). Wir standen mit unseren Kolleg:innen im Austausch über unsere Arbeitsbedingungen und über mögliche Verbesserungen. Wir haben uns dann mal außerhalb der Arbeitszeit getroffen, gemeinsam gesprochen, gegessen und gegenseitiges Vertrauen aufgebaut. Als wir zusammen mit weiteren Kolleg:innen das nächste gemeinsame Thema im Betrieb angegangen sind, hat sich eine regelmäßige und verlässliche Zusammenarbeit zwischen uns entwickelt – wir haben also schon wie eine Betriebsgruppe gearbeitet. Somit war es nur noch ein kleiner Schritt die FAU-Betriebsgruppe auch offiziell auf der Gewerkschaftsvollversammlung zu gründen.
DA: Jetzt steht ihr kurz vor der Durchsetzung weiterer Erfolge für die Belegschaft. Worum geht es da und wie habt ihr es durchgesetzt?
In den Wohnheimen arbeiten Menschen mit unterschiedlichen Ausbildungen zusammen: vor allem Krankenpfleger:innen, Heilerziehungspfleger:innen und Sozialarbeiter:innen. Alle sollen die gleiche Arbeit leisten. Es werden jedoch nicht alle Berufsgruppen gleich bezahlt. Es gab bisher drei unterschiedliche Lohngruppen: Die Krankenpfleger:innen waren (anders als Heilerzieher:innen und Sozialarbeiter:innen) nicht im Sozial- und Erziehungsdienst („S-Tabelle“) eingruppiert, sondern in der Pflege-Eingruppierung („P-Tabelle“), und damit am niedrigsten entlohnt. Heilerzieher:innen sind innerhalb der S-Tabelle wiederum niedriger eingruppiert als Sozialarbeiter:innen. Die unterschiedlichen Eingruppierungen haben Auswirkungen auf das Grundgehalt und die Höhe der Zulagen und Zuschläge. Durch den Tarifabschluss im Sozial- und Erziehungsdienst von ver.di 2022 gab es dann sogar noch Unterschiede hinsichtlich der freien Tage: Die im Sozial- und Erziehungsdienst Eingruppierten erhielten bis zu vier zusätzliche freie Tage pro Jahr (zwei Regenerationstage und zwei Umwandlungstage, die man sich entweder ausbezahlen lassen kann oder als freie Tage genommen werden können) – die Beschäftigten in der Pflege-Eingruppierung gingen leer aus.
Die Situation der unterschiedlichen Bezahlung bestand schon lange Zeit und wurde bisher kaum offen gegenüber den Vorgesetzten angesprochen. Die unterschiedlichen Ansprüche auf freie Tage sorgten nach dem Tarifabschluss 2022 dafür, dass dieses Thema verstärkt unter den Kolleg:innen und zum Teil auch gegenüber den Vorgesetzten zur Sprache kam.
Wir FAU-Mitglieder im Betrieb waren nicht in der P-Tabelle eingruppiert. Wir suchten immer wieder das Gespräch mit unseren Kolleg:innen, hörten zu und machten Mut, dass Verbesserungen möglich sind. Uns war wichtig, dass wir nicht über die Köpfe der betroffenen Kolleg:innen hinweg aktiv werden, sondern mit ihnen. Als dann ein Kollege aus der Pflege im September 2023 sagte, dass er jetzt für eine Gleichstellung der Pflegekräfte mit den SuE-Beschäftigten aktiv werden will, ging es los. Gemeinsam mit ihm und weiteren engagierten Kolleg:innen nahmen wir Kontakt auf zu Kolleg:innen der restlichen Wohnheime des Unternehmens. Wir sprachen mit ihnen über die ungleichen Freizeit- und Lohnansprüche. Mittels Unterschriftenlisten wollten wir der Unternehmensleitung unsere Forderungen übermitteln. Aus unterschiedlichen Gründen haben nicht alle Wohnheime Unterschriftenlisten abgegeben. Letztlich haben etwas mehr als 50% aller Wohnheimmitarbeitenden ihre Unterschrift unter die Forderungsschreiben gesetzt. Zusammen mit einer Kollegin habe ich dann die Unterschriftenlisten persönlich bei der Unternehmensleitung abgegeben. Drei Tage später fand die Mitarbeitendenversammlung (= kirchenrechtliches Format der Betriebsversammlung) statt. Wir hatten unser Thema schon vorab auf die Tagesordnung setzen lassen. In Anwesenheit der Unternehmensleitung hatten die betroffenen Kolleg:innen hier die Möglichkeit ihre Forderungen persönlich der Unternehmensleitung zu äußern, was einige Kolleg:innen in Anspruch genommen haben.
Die Mitarbeitendenvertretung (= kirchenrechtliche und eingeschränktere Version des Betriebrats) hatte das Thema schon längere Zeit immer wieder an die Unternehmensleitung herangetragen – bisher ohne Erfolg. Nach der Übergabe der Unterschriftenlisten sagte die Unternehmensleitung Verbesserungen zu.
Letztlich teilte Ende Januar 2024 die Unternehmensleitung den betroffenen Kolleg:innen der Krankenpflege mit, dass sie in den SuE-Tarif in die mittlere Lohngruppe umgruppiert werden (und somit den Heilerziehungspfleger:innen gleichgestellt). Die Mitarbeitendenvertretung hatte ausgehandelt, dass dies rückwirkend zum 01.01.2023 geschieht.
DA: Was würdest du FAU-Mitgliedern empfehlen, die sich überlegen eine Betriebsgruppe in ihrem Betrieb zu starten?
Ich arbeite in einem Bereich, in dem sich der gewerkschaftliche Organisationsgrad gewöhnlich im einstelligen Bereich befindet. Das Wichtigste, dass ich deshalb in den letzten Jahren gelernt habe, ist nicht die Geduld zu verlieren und einen langen Atem mitzubringen. Es ist hilfreich, immer wieder ins Gespräch mit den Kolleg:innen zu gehen um zu fragen, welche Themen und Verbesserungen sie gerade wichtig finden. Manchmal braucht es aber nicht nur ein gemeinsames Thema, sondern auch den „richtigen“ Zeitpunkt, damit die Kolleg:innen aktiv werden.
Außerdem grundlegend ist, dass die Kolleg:innen Vertrauen aufbauen können zu dir als betrieblich engagiertes Gewerkschaftsmitglied. Dieses Vertrauen entsteht durch eine verlässliche, solidarische und fachlich kompetente Zusammenarbeit im Arbeitsalltag. Und es entsteht auch durch die Übernahme von Verantwortung, die gemeinsamen Interessen der Mitarbeitenden gegenüber den Vorgesetzten zu verteidigen. Eine längere Betriebszugehörigkeit hat es mir zusätzlich erleichtert, als authentische und verlässliche Person wahrgenommen zu werden.
DA: Was würdest du Syndikaten empfehlen, welche Betriebsgruppen gründen wollen?
Die Syndikate sollten frühzeitig für ihre Mitglieder Workshops zu Organizing und Betriebsgruppenaufbau anbieten. Sie sollten ein Betriebsgruppenkonzept haben, das klar regelt, welche Rechte und Pflichten die Betriebsgruppe gegenüber ihrem Syndikat hat. Sie sollten genug Kapazitäten einplanen für die unterstützende Begleitung der Betriebsgruppe.
DA: Gibt es noch etwas, das du sagen möchtest?
Wir sollten unsere Situation und kollektive Stärke im Betrieb nüchtern-realistisch einschätzen – und gleichzeitig die Überzeugung haben, dass wir gemeinsam arbeitsrechtliche Verbesserungen und gewerkschaftliche Erfolge erreichen können.