Betrieb & Gesellschaft

Nichts als Hirngespinste? Feministische Utopien üben

Die AG Feministische Kämpfe des Allgemeinen Syndikats Dresden bespricht, warum sie die Auseinandersetzung mit (feministischen) Utopien für wichtig hält – auch und gerade für die anarchosyndikalistische Praxis.

Wenn wir über Utopie nachdenken und sprechen, meinen wir einen nicht vorhandenen, aber besseren Ort (oder eine bessere Zeit) oder das Bild davon, einen Gesellschaftsentwurf, ein Gedankenexperiment. Wir meinen damit nicht – wie dieser Begriff häufig verwendet wird –, dass das Dargestellte per se unmöglich ist. Dieser Text ist keine wissenschaftliche Abhandlung, in der wir Arten von Utopien klassifizieren oder die den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Wir üben utopisches Denken und teilen unsere Gedanken dazu mit euch.

Das ist ja völlig utopisch … Was für feministische Utopien?

Feministische Utopien haben wiederkehrende Themen: In einigen geht es um Frauenräume oder Enklaven innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft, in einigen wird Utopia durch innere Widersprüche oder äußere Einflüsse bedroht, es gibt als politische Warnung fungierende feministische Dystopien. Ein wiederkehrendes Motiv ist auch die männerlose Gesellschaft.

Wir beziehen uns gern auf literarische Utopien, weil sie unsere politische Praxis bereichern und unsere Vorstellungswelt weiten. Um die Grenzen unseres Denkens (das innere Patriarchat) zu überwinden, bedienen wir uns den ‚leuchtenden Ideen‘ von Frauen und Queers, die so mutig waren, feministische Utopien zu entwickeln, aufzuschreiben und sich der Kritik daran auszusetzen.

Für uns (hier) interessant sind aber vor allem umfassende Gesellschaftsutopien, wie es z. B. Ursula K. Le Guins „Planet der Habenichtse“ oder Marge Piercys „Frau am Abgrund der Zeit“ sind (auf letztere werden wir später noch ausführlicher eingehen). [1]Vgl. dazu Hauer, Gudrun (2000): Schöne neue Frauenwelten? Feministische Utopien in der Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 29, 1/2000, S. 59–73.Sie interessieren uns, weil sie versuchen, eine andere Gesellschaft in all ihren Facetten zu beschreiben, und dabei auf Fragen eingehen wie: Was braucht es, damit das Experiment als gelungen betrachtet werden kann? Welche Funktionen müssen erfüllt sein, um den verschiedenen Bedürfnissen gerecht zu werden? Wie wird das Notwendige erfüllt? Welche Bedürfnisse werden als relevant anerkannt, was wird als „Beiwerk“, „Luxus“, „optional“ verhandelt? Wie können die Bedürfnisse erfüllt und gleichzeitig die natürlichen Ressourcen bewahrt werden? Und weil es sich in beiden Fällen um anarchistische Utopien handelt, geht es auch um die Frage, welche Mechanismen diese Gesellschaft nutzt oder gefährlicherweise vernachlässigt, damit nicht erneut Herrschaft als Beiprodukt mit entsteht. [2]Siehe dazu die ausführliche Besprechung der Neuübersetzung von “Planet der Habenichste” von Wolfang Haug: “Freie Geister. Oder die individuelle Freiheit als Garantin für den notwendigen unaufhörlichen Prozess innerhalb einer anarchistischen Gesellschaft”, GWR 462 (Libertäre Buchseiten), S. 4.

Beide Romane zeichnen also ein ziemlich ausführliches Gesamtbild einer anderen, besseren Gesellschaft und der Geschlechterverhältnisse darin, sind dabei gut nachvollziehbar, nachfühlbar und auch noch schön zu lesen. Andererseits zeigen sie auch, dass unsere Vorstellungen von Zusammenleben, Geschlecht und möglicher Zukunft immer aus der jeweiligen Gegenwart stammen. Utopien sind immer eine Kritik an den bestehenden (‚herrschenden‘) Verhältnissen, in denen die Autor:innen sich bewegen. Sie greifen politische Kämpfe gegen Herrschaft und Unterdrückung auf, alte und aktuelle, mit denen sich immer auch die utopischen Ideen weiterentwickelt haben:

„‚Woman on the Edge of Time’ war ein Versuch, viele der Ideen von sozialen Bewegungen zu konkretisieren, die entstanden sind, als diese Bewegungen aufkamen: die Frauenbewegung, die Neue Linke, die Native American Bewegung und viele andere. Ziel war es, diesen Ideen Leben einzuhauchen und sie leuchten zu lassen.” (Piercy 2005, S. 49)

Und die Leser:innen (wir) leben wiederum in ihren Verhältnissen in ihrer Zeit und lesen diese Utopien durch diese Brille.

Wir leben nicht gerade in utopischen Zeiten

Die Klimakrise bedroht unser aller Lebensgrundlagen. Zuerst und vor allem treffen die Folgen diejenigen, der sowieso schon marginalisiert sind, die sich nicht in sichere vier Wände zurückziehen können. Gleichzeitig vollzieht sich global ein Rechtsruck, in dem alle gegen alle ausgespielt werden und viele erkämpfte Rechte und Freiheiten wieder bedroht werden oder schon verloren sind. Viele Leute klatschen dazu Applaus und merken nicht, dass – auch wenn sie keiner Minderheit angehören – sich ihre Situation stetig verschlechtert, sei es durch die Einschränkung von Arbeitsrechten, sei es durch den fortschreitenden Abbau des Sozialstaats.

Die weltweite Corona-Pandemie verstärkt die Dauerkrise des Kapitalismus und zeigt, wie zutiefst unmenschlich und zerstörerisch Business as usual ist. Inflation und Wirtschaftskrise winken und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie der hochindustrialisierten Länder schreien uns ins Gesicht: ‚Ihr kleinen Rädchen müsst weiterlaufen, geschmiert oder ungeschmiert, arbeitet gefälligst. Aber: Verzichtet auf das Schöne, denn es ist gefährlich, haltet euch fern von euren Mitmenschen, denn sie sind Virusträger, isoliert euch und lasst euch impfen, damit ihr dem Arbeitsmarkt weiter zur Verfügung stehen könnt, denn es wäre euer Verderben, wenn dieser Wirtschaft was passiert.’ Die Corona-Krise zeigt, wie sehr wir etwas ganz anderes brauchen. Eine (jetzt noch) utopische Welt. Und je nötiger die Utopie ist, umso unvorstellbarer ist sie.

Die Menschen werden unzufrieden, völlig zu recht, demonstrieren (endlich!), aber für was? Um ihre eigene kleine bürgerliche und unsolidarische Freiheit gegen die anderen zu verteidigen. Eine Freiheit, die sie an anderer Stelle nicht zu verteidigen für nötig hielten: Die Freiheit, einen gewissen Lebensstandard zu haben, wurde nicht verteidigt gegen die Hartz-IV-Gesetze – weil es die, die da ‚querdenken‘, nicht betrifft? Gegen die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit wird zwar demonstriert, aber nicht für die, die vor Krieg, Tod und Elend fliehen müssen. Die Freiheit, über den eigenen Körper zu bestimmen, wird plötzlich relevant, aber der § 218, der Schwangerschaftsabbrüche verbietet, bleibt unangetastet – weil es sie etwa nicht betrifft? Die Freiheit der Privatsphäre wird nicht dagegen verteidigt, dass Staatstrojaner eingeführt werden – obwohl es sie betrifft. Gegen diesen an Vorstellungskraft armen Freiheitsbegriff (eine Freiheit, zu tun, was mann will) braucht es Utopien, die von der Freiheit aller handeln, zufrieden und glücklich zu leben, das zu überwinden, was uns unglücklich macht – nämlich Herrschaftsstrukturen, nicht ‚die Anderen‘.

Aber wir können uns das selbst schon kaum noch vorstellen, wir sind müde und vereinzelt, diese Krise des Kapitalismus (neue Runde, neues Glück?) setzt uns gewaltig zu. Wir haben immer noch Ideen von einem anderen Leben, aber das scheint oft unerreichbar fern. Das Sprechen über Utopien hat etwas Therapeutisches, aber es braucht daneben Strategien und Vorgehensweisen im Hier und Jetzt, wie wir „überwintern“ und schließlich doch noch „aus der Sackgasse der politischen Resignation oder der […] Begrenztheit frauenpolitischer Forderungen“ (Hauer 2000, S. 60) herausfinden:

„Grundsätzlich beschäftigen sich Utopien von Frauen vielfach mit dem Bewältigen von Einsamkeit, denn: Was ist Utopie? Eine Utopie ist das, was man nicht hat. Es sind diese Fantasien, die man hat, wenn etwas fehlt und die man als fehlendes Element in der Gesellschaft wahrnimmt.“ (Piercy 2005, S. 47)

Worin kann unsere utopische Praxis bestehen?

Wenn wir über Utopie sprechen, ist uns immer bewusst, dass Alternativen zum Ist-Zustand kritisch diskutiert werden müssen. Ein Umsturz hin zu etwas Anderem muss kein progressiver sein – vieles spricht, gerade nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Staatssozialismus, sogar dagegen. Dass es eigentlich nur besser werden kann als es ist, ist nicht wahr. Müssen wir uns denn angesichts heute vorhandener wirklich naiver bis gefährlicher ‚Gegenentwürfe‘ und Dystopien damit abfinden, nun die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als das am wenigsten Schlimme zu verteidigen? Nein, das wollen wir nicht.

Manch Kritischer Theoretiker fand, Utopie sei nur negativ, als möglichst treffende Kritik am Bestehenden möglich, nicht aber als positive Bestimmung dessen, was sein soll. Allerdings brauchen wir, um überhaupt ein kritisches Bewusstsein zu bewahren und zu schärfen, die Überzeugung, dass es anders sein kann, und den Willen, dass es anders sein soll. Genau dafür sollten wir eben doch darüber sprechen und streiten, wie ein anderes Zusammenleben aussehen könnte oder sollte. Das ist noch lange nicht dasselbe, wie zu behaupten, dass wir es nun wissen – und all unsere Praxis an diesem einen, einmal festgelegten Bild auszurichten, oder dazu noch von allen anderen zu verlangen, sich dem anzupassen.

Utopische Praxis besteht nicht nur daraus, sich anderes vorzustellen, sondern gleichzeitig daraus, anderes auszuprobieren. Unsere Vorstellungskraft wird immer durch unsere Lebensbedingungen bestimmt und beschränkt sein, weshalb es nicht nur um ein anderes Denken, sondern auch um andere Praxen geht, die bestimmte Vorstellungen überhaupt erst ermöglichen. Es gehört viel Mut dazu, etwas vorzuschlagen oder auszuprobieren. Entsprechenden Versuchen – sowohl in Form eines Romans als auch in unserer gewerkschaftlichen Arbeit – wollen wir mit kritischer Würdigung, nicht mit Misstrauen begegnen.

Was soll nun daran „feministisch“ sein?“

Was meinen wir mit „feministischen“ Utopien und warum ist uns das überhaupt wichtig? Können wir nicht einfach allgemein als Anarchist:innen über ein anderes Zusammenleben diskutieren? Tatsächlich ist unser Anarchismus immer ein feministischer, und unsere „allgemeinen“ Utopien würden immer den Umsturz der bürgerlichen Geschlechterverhältnisse beinhalten – die binäre Zuordnung zu „Mann“ und „Frau“ und damit zu entsprechenden Rollen und Gesellschaftsbereichen, entsprechende Auf- und Abwertung, die damit verbundene patriarchale Gewalt. Wir haben diese „Geschlechterbrille“ immer auf und hätten das gern auch von anderen – jedoch lässt sich schon feststellen, dass es unterschiedliche Ausgangspunkte und Schwerpunkte in utopischen Entwürfen gibt.

Feministische Utopien behandeln Themen, die in nicht-feministischen Utopien normalerweise zu kurz kommen. Das sind z. B. Reproduktions- und Sorgetätigkeiten, deren Verteilung innerhalb einer Gesellschaft, das Kinderkriegen, die Frage, wie dieses organisiert werden kann, ohne dass damit Benachteiligung bestimmter Geschlechter verbunden ist. Es geht um Fragen der Kindererziehung, der Betreuung von Kindern, Kranken, Alten, um zwischenmenschliche Beziehungen, Konflikte, Kommunikation, um den Umgang mit Krankheit und Tod. Solche Utopien finden für die derzeit ungleich schwerer auf Frauen und Queers lastende Reproduktionsarbeit eine akzeptable Lösung in einer anders organisierten gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Feministische Utopien haben von feministischer Theorie und Praxis gelernt. Sie legen einen Fokus auf die Beziehungen zwischen den Menschen – und zwar in einer großen Vielfalt der Beziehungsformen –, zeigen, wie komplex Aushandlungsprozesse sein können, aber zeigen auch, dass das sinnvoll ist und einen Wert hat, dass das funktioniert und nicht einfach nur anstrengend ist. Sie handeln von anderen Verhältnissen zur „Natur“, wissend, dass unser Leben bedingt und abhängig ist. Sie zeigen Freiheit nicht als Freiheit von Beziehungen und Abhängigkeiten, sondern als etwas in und durch Beziehungen erst Entstehendes.

Vor allem aber sind „feministische Utopien“ eben unsere: Aus unserer Betroffenheit vom Patriarchat heraus und der Frage, wie wir leben wollen, entscheiden wir, was wir positiv als Utopie, als erstrebenswert anerkennen und was für uns nicht funktioniert oder gar dystopisch ist. Wenn eine Utopie nicht feministisch ist, ist es für uns keine. Wenn in der vorgestellten Welt auch nur irgendwelche Herrschaftsverhältnisse legitimiert werden, werden wir sie auch nicht akzeptieren, weil unsere Art Feminismus eben herrschaftskritisch ist.

Der Zweck und die Mittel

Ein wichtiger Bezugspunkt für uns als AG in einer lokalen anarchosyndikalistischen Gewerkschaft ist die Denktradition rund um das Postulat, dass unsere Ziele in unseren Mitteln angelegt sein sollen. Möglichst viel von der erwünschten befreiten Gesellschaft muss im Weg dahin schon enthalten sein. Wir werden also nie einen „Umweg“ über eine Herrschaft des Proletariats oder Ähnliches mitgehen, weil mensch diese Herrschaft dann nicht so einfach wieder los wird. Ebenso werden wir nicht „erstmal“ patriarchale Strukturen tolerieren, weil der Klassenkampf wichtiger ist – oder so. Gerade deshalb sind uns Vorstellungen davon, wie diese befreite Gesellschaft ungefähr aussehen könnte, so wichtig, um auszumachen, was wir jetzt schon „leben“ können oder was uns daran hindert. Woran, wenn nicht an einer – wie auch immer unscharfen und veränderbaren – utopischen Idee, könnten wir sonst unsere Mittel messen, wonach unser Handeln beurteilen?

Unsere Auseinandersetzung mit feministischen Utopien beeinflusst natürlich unsere Strategie und unser Tun im Hier und Jetzt. In unserem Syndikat streiten wir darum, was wir unter Gewerkschaftsarbeit verstehen, was alles „politisch“ ist. Eine revolutionäre Gewerkschaft hat die Aufgabe, ihre Mitglieder in allen Lebenslagen zu unterstützen, nicht nur bezogen auf Lohnarbeit. Ihr „Kerngeschäft“ sind Arbeits- und Lebensbedingungen insgesamt und eben die Probleme, die ihre Mitglieder belasten. Darum streiten wir beispielsweise für eine radikale Arbeitszeitverkürzung für alle, um gesellschaftlich notwendige Tätigkeiten – seien sie bezahlt oder unbezahlt – gerecht verteilen zu können. Darum gehört auch das Miteinander in der Organisation, Konflikte und Beziehungen zueinander, das Essen und das Kinderbetreuen zum Politikmachen. Und zwar nicht als Anhängsel, sondern weil das wesentlich ist für unsere Utopie: Wie wollen wir uns aufeinander beziehen, wie wollen wir zusammenleben?

Das Dorf Mattapoisset

Die Gesellschaft, die Connie – die Hauptfigur in „Frau am Abgrund der Zeit“ von 1986 – nach und nach kennenlernt, ist eine bäuerliche Hochkultur. „Jedes Gebiet versucht, protark zu sein. […] So selbstversorgend wie nur möglich in bezug auf Proteine. […] Wir sind alle Bauern.“ (83) Gleichzeitig ist jede Gemeinschaft auf etwas spezialisiert. Produkte, die nicht für die Selbstversorgung benötigt werden, werden in andere Regionen weitergegeben, je nach Bedarf. Gleichzeitig sind die Menschen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Reisende – alle haben einen Beruf, den sie jederzeit wechseln bzw. um einen weiteren ergänzen können. Das Gemeinschaftsleben findet im (sehr gut schallisolierten) Kuppelhaus statt, wo Mahlzeiten gemeinsam eingenommen und Feste gefeiert werden oder über zu treffende Entscheidungen pleniert wird.

In den dörflichen Gemeinschaften werden Entscheidungen gemeinsam getroffen. Regional und weltweit gibt es ein Delegiertensystem, die Delegierten werden durch Los bestimmt. Hier werden z.B. Entscheidungen über die Nutzung von Flächen für die Landwirtschaft (regional) oder den Einsatz von Technologien (weltweit) getroffen. Die Gesellschaft ist eine technologisch hochentwickelte. Gleichzeitig werden Technologien sehr sparsam und mit Bedacht eingesetzt: einerseits mit Blick auf den Ressourcenverbrauch (Energie ist knapp), andererseits mit Blick auf die Technikfolgenabschätzung (man kennt nie alle Faktoren). Wissenschaft ist zu einem größeren Anteil damit beschäftigt, die Umweltschäden, die durch die Vorfahren verursacht wurden, in den Griff zu kriegen. Eine sehr große Rolle spielen bei solchen Abwägungen soziale Aspekte: Geschirrspüler gibt es zum Beispiel nach wie vor (gut fürs soziale Klima).

Die Menschen sind auf so viele Weisen verschieden, dass sie das Geschlecht als keine besondere Kategorie betrachten. Es wird nicht verhandelt, das drückt sich auch der Sprache aus, Menschen werden nicht als sie oder er adressiert, sondern sie sind per (für Person). Connie ist öfter irritiert, weil sie versucht, Menschen ein Geschlecht zuzuordnen und das nicht immer klappt.

Von Coms und Brütern

Die Kinder werden in/von einer Maschine namens ‚Brüter‘ geboren.

„Das war ein Teil der langen, mühsamen Revolution der Frauen […]. Schließlich war nur noch eines aufzugeben, die einzige Macht, die die Frauen jemals besaßen, um das Prinzip ‚Keine Macht für niemand‘ zu verwirklichen, nämlich die Macht, Kinder zu gebären. Denn solange wir biologisch auf diese Weise festgelegt waren, konnte es nie Gleichheit zwischen uns geben.“ (127)

Connie ist entsetzt über die für sie unnatürliche Herkunft der Menschen aus einer Maschine:

„Sie haßte sie, die sanften Retortenmonster der Zukunft, die ohne Schmerzen geboren wurden, bunt wie ein Wurf junger Hunde, ohne die Stigmata von Rasse und Geschlecht.“ (128)

Die Bewohner*innen von Mattapoisset stecken viel ihrer Zeit in ihre sozialen Beziehungen. Sie leben in kleinen Gruppen von „Herzfreunden“ zusammen – was nicht zusammen wohnen meint, alle haben ein eigenes Zimmer.

„Wir sind Herzfreunde. Einige von uns verwenden den Begriff ‚Kern‘ für diejenigen, denen wir am nächsten stehen. Andere wieder glauben, es sei schlecht, Unterscheidungen zu treffen. Wir diskutieren immer noch über dieses Thema. Ich für meinen Teil verwende Kern, weil ich unter dem Wort etwas Reales vorstellen kann. Bee, Jackrabbit und Otter sind mein Kern…“ (85)

Davon unabhängig ist die Mutterschaft: Jedes Kind hat drei Comütter (Coms, geschlechtsneutral), es wird aber im Wesentlichen von der gesamten Gemeinschaft aufgezogen.

„Comütter sind, wenn möglich, keine Herzfreunde. Auf diese Weise wird das Kind nicht in Mißverständnisse hineingezogen, die durch Liebesbeziehungen entstehen.“ (88 f.)

Für die Mutterschaft entscheidet und bewirbt person sich, diese ist auf Zeit angelegt. Im Alter von ungefähr zwölf Jahren findet die „Namensfindung“ statt, eine Art Initiationsritual, mit dem die Mutterschaft endet. Mütter dürfen nach dem Abnabelungsritual eine zeitlang nicht mit ihren Kindern sprechen, damit die Abnabelung auch wirklich und auf beiden Seiten vollständig passieren und sich eine neue Art der Beziehung zwischen ihnen entwickeln kann.

Es gibt für alle möglichen Dinge Rituale: Die besagte Namensfindung kann auch später im Leben erneut vollzogen werden, wenn person sich verändert. Es gibt ausgeklügelte Schlichtungsverfahren im Falle von Konflikten, Rituale des Abschieds, wenn jemand stirbt oder auf Reisen oder zum Militärdienst geht. Alle sind aufmerksam (‚achtsam‘), wissen um die Situation und Befindlichkeiten der anderen und nehmen darauf Rücksicht.

Generell sind diese Zukunftsmenschen recht impulsiv und gefühlsbetont und Connie, die aus der kalten, rationalen, gefühlsarmen Vergangenheit heraus urteilt, vergleicht sie mehrfach mit Kindern oder auch mit Irren. Auf der Metaebene wird deutlich, was die Autorin des Buches in ihrer Gegenwart auf- und abwertet bzw. worauf sich soziale Bewegungen der 1970er richten:

„Ein Kind kletterte auf eine Bank, um eine Geschichte zu erzählen, und fuchtelte mit beiden Armen in der Luft herum. Am anderen Ende weinte ein bärtiger Mann in aller Öffentlichkeit in seinen Suppenteller, und die Leute um ihn herum klopften ihm auf die Schulter und nahmen lebhaft Anteil. Einige Leute stritten hitzig miteinander, lachten und erzählten sich Witze, und ein Kind sang laut an dem Tisch gleich bei der Tür. So wie die Leute hier völlig offen ihren Gefühlen freien Lauf ließen, hätte das wahrhaftig der Eßsaal eines Irrenhauses sein können, aber der Energiepegel war hier sehr hoch. Die Vitalität, die ihr in diesem Raum entgegenschlug, war positiv, wenn auch beinah etwas zu überwältigend.“ (89)

Und Connie selbst ist – als Insassin einer Irrenanstalt und als Frau ihrer Zeit – hin- und hergerissen in ihrer Bewertung dieses ganz anderen, das ganz fremd, zugleich aber immer freundlich, offen und einladend auf sie einstürzt. Und sie lässt sich darauf ein …

Und vielleicht können auch wir uns auf utopisches Denken und utopische Praxis einlassen? Vielleicht braucht es ja neue (weitere? die alten werden ja nicht irrelevant) Hirngespinste, die die aktuellen Erfahrungen und Gefahren mit einbeziehen? Vielleicht war es in den 70er mit der Ölkrise und der Repression nach 1968 gar nicht so viel utopischer als heute?

AG Feministische Kämpfe in der FAU Dresden

Vielen Dank an die Zeichnerin unseres Beitragsbildes: @dasirrlichtmensch (insta)!
…unter Verwendung einer Grafik von www.prole.info und zusammengebaut von unserer liebsten zukünftigen Gärtnerin.

Quellen:

Piercy, Marge (2015): Die Frau am Abgrund der Zeit. Hamburg: Argument Verlag – Zweite Reihe. (Unsere leider nur noch antiquarisch erhältliche Lieblingsübersetzung)

LeGuin, Ursula K. (1994): Planet der Habenichtse. München: Heyne Verlag. Neu übersetzt als: LeGuin, Ursula K. (2017): Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag.

Hauer, Gudrun (2000): Schöne neue Frauenwelten? Feministische Utopien in der Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 29, 1/2000, S. 59–73.

Piercy, Marge (2005): Utopistische feministische Visionen. In: Kurswechsel 1/2005, S. 47–51.

AG Feministische Kämpfe – FAU Dresden

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AG Feministische Kämpfe – FAU Dresden

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