Ökoanarchismus – Schwarz ist das neue Grün

Anarchistische Utopien sind lebendig, nicht nur im Chiapas oder in Rojava, sondern auch im Herzen Deutschlands. Zwar hat die polizeiliche Repression und Gentrifizierung der traditionell anarchistischen Hochburg Berlin einen dramatischen Schlag versetzt, indem zahlreiche Freiräume seit Beginn der Pandemie geräumt wurden. Doch nun blüht eine neue Form des Protests auf: Öko-Anarchist*innen sind in ganz Deutschland auf dem Vormarsch. Ein Reisebericht que(e)r durchs Land.

In NRW geht der Kampf weiter. Monate nach dem Sieg der Waldbesetzer*innen im Hambacher Forst werden jetzt in Lützerath, zwischen Köln und Düsseldorf, Baumhäuser aufgebaut, Farmgebäude besetzt und Demonstrationen organisiert. Ein einzelner Landwirt, unterstützt von hunderten Aktivist*innen, steht noch im Weg von RWE, dem riesigen Kohlekonglomerat und dem dreckigsten Unternehmen Europas. Dessen Kohlegrube soll erweitert werden, um 680 Millionen Tonnen Kohle aus dem Boden zu baggern – und damit gegen das Ziel der 1,5°C-Grenze des Pariser Abkommens zu verstoßen. Dafür soll das Dorf Lützerath zerstört und einige Kilometer weiter wieder aufgebaut werden, wie ein Dutzend andere vor ihm und wie sechs andere nach ihm.

Selbstverwaltung und Selbstverwirklichung sind Ideale des Camps

Anfang November haben sich bis zu 500 Aktivist*innen dort für das „Unräumbar-Festival“ versammelt, mit Konzerten und Konferenzen sollte dem am 1. November geplanten Abriss vorgebeugt werden. Am Vorabend flossen 350 Ende-Gelände-Aktivist*innen durch die Polizeitrupps und besetzten den Rand der Grube. Im „Lützi“ sind viele Anarchist*innen vor Ort, aber wichtiger noch ist die Tatsache, dass das ganze Camp die Ideale der Selbstverwaltung und Selbstverwirklichung anwendet. Tägliche Plena, Safer Spaces, Organisierung in Bezugsgruppen und AGs ohne Hierarchien strukturieren den Alltag in der Besetzung. Hier gibt es kein Geld, alles wird geteilt, und gekocht wird gemeinschaftlich mit containertem Essen.

Mit diesem libertären Zusammenleben wurde schon seit 2013 im Hambacher Forst („Hambi“) experimentiert, die wohl bekannteste Waldbesetzung Deutschlands. 30 Minuten vom „Lützi“ entfernt leben immer noch Aktivist*innen in Baumhäusern, gekämpft wird dort aber nicht mehr: Die Rodung des Waldes wurde von RWE aufgegeben, sogar die Räumung der Besetzung wurde richterlich als illegal erklärt. Dieser Kampf inspirierte die Besetzer*innen des Dannenröder Waldes („Danni“), fünfzig Kilometer von Frankfurt entfernt: Es gibt eine klare und organische Genealogie von einem Protest zum anderen. Hunderte von Aktivist*innen besetzten zwischen Oktober 2019 und Dezember 2020 die Trasse der geplanten A49. Denn dort wird eine Autobahn gebaut, die das Blätterdach wie eine offene Narbe durchschneidet. Der Forst ist ein Schlachtfeld, ein Zeuge der Umweltzerstörung und des Widerstands.

Die Aktivist*innen ließen sich vom „Hambi“ inspirieren: Aus ihrer Phantasie erwuchsen hunderte Baumhäuser, zahlreiche passive „Tripods“ und eine dichte Konstellation von Seilbahnen, die ein einzigartiges Ökosystem des Widerstands schufen. Die Infrastrukturen war in „Barrios“ geteilt, autonome Viertel, die für spezifische Lebensrichtungen ein Zuhause bildeten: FKK und Straight Edge1, Flinta2 oder Bipoc3 hatten alle ihren Raum. Alle Entscheidungen wurden dezentral und einstimmig getroffen und ließen jede*r Aktivist*in Raum für ein Leben ohne Zwänge und Hierarchien.

Ohne Repressionen wäre das Leben utopisch

Anarcho-feministische, antirassistische und antikapitalistische Slogans, die das Leben im Wald feierten, erklangen an den Lagerfeuern. Das Leben dort wäre utopisch gewesen, gäbe es nicht die Härte des Winters und der Repression. Im vergangenen Dezember drangen fast 3.000 Polizeikräfte mit Wasserwerfern und Spezialkommandos in den Wald ein. Nachdem sie alle Barrikaden und Baumhäuser zerstört hatten, machten sie den Weg für die Abholzung frei. Die künftige Straße ist durch Stacheldraht und massive Polizeipatrouillen streng geschützt. Doch der ökologisch-anarchistische Widerstand ist noch nicht demobilisiert. Hunderte von Aktivist*innen trafen sich im April 2021 zu einem Klimacamp wieder, um ihren Protest neu zu erfinden. Sie besetzen nun dörfliche Strukturen und wollen eine widerstandsfähige Bewegung aufbauen, die auf dezentraler direkter Aktion basiert. So wurde die Besetzung zum Klimacamp.

Tatsächlich haben Waldbesetzungen sieben Leben. Irgendwie stärkt es sie, von der Polizei geräumt zu werden, wie einst im „Hambi“ und im „Danni“. Die Aktivist*innen verteilen sich über das ganze Land, verbreiten ihre Erfahrungen und ihr Wissen und schaffen neue Protestzentren. Ein organisches Netzwerk des Widerstands wird in ganz Deutschland gewoben, und manchmal kreuzen sich die Fäden der einzelnen Aktionen und bilden Knoten. Klimacamps sind genau das: Knoten, die alle Kämpfe miteinander verbinden. Das erste von ihnen wurde in Augsburg geboren. Dutzende Klimaaktivist*innen von Fridays for Future beschlossen, dass die wöchentlichen Demonstrationen nicht genug waren: Letzten Sommer besetzten sie den zentralen Platz der Stadt. Mitten in der Einkaufsmeile errichteten sie eine hölzerne Utopie, ein öko-anarchistisches Pendant zu Occupy Wall Street.

Heute feiert das Camp seinen 600. Lebenstag. Wie im „Danni“ leben die Aktivist*innen ohne Autorität, kochen mit Essen aus dem Müll und werden von einem Netzwerk fürsorglicher Bewohner*innen unterstützt. Von FFF zur Öko-Anarchie wurden sie durch die Erzählungen von Aktivist*innen aus dem „Danni“ und „Hambi“ radikalisiert. Diese wiederum förderten den öko-anarchistischen Widerstand in Süddeutschland. Die Familie der Waldbesetzungen und Klimacamps wächst beständig. In 6 weiteren deutschen Städten werden zentrale Plätze besetzt, ebenso wie ein Dutzend Wälder oder Wiesen.

„Keine Macht für Niemand“ ist das Motto

Die Altdorfer Waldbesetzung, genannt „Alti“, ist ein junger Sprössling der Bewegung. Seit Januar 2021 erklingt in den Wäldern nahe der Touristenstadt Ravensburg der Klang von Hämmern, Musik und Lagerfeuergeschichten. Aus Protest gegen die Ausweitung des Kiesabbaus, der für den Export nach Österreich bestimmt ist, leben zehn bis dreißig Aktivist*innen zusammen und bauen in verschiedenen Barrios. Dutzende von Baumhäusern nach dem Vorbild der „Danni“ und „Hambi“-Besetzungen. Die junge anarchistische Utopie wird von den Anwohner*innen mehrheitlich unterstützt, die täglich zwei Mahlzeiten für die Aktivist*innen kochen, tonnenweise Baumaterial spenden und an den Wochenenden sogar mit ihren Kindern die Besetzung besuchen. Dort werden täglich Banneraktionen, Demonstrationen und Streiche gegen konservative Politiker*innen durchgeführt. Stärker noch als in anderen Besetzungen ist das Leben nach libertären Prinzipien strukturiert, denn hier werden die Strukturen (AGs, Küfa, usw.) je nach Bedarf immer wieder abgebaut und kritisiert. „Keine Macht für Niemand“ ist das Motto der „Alti“-Besetzer*innen, die durch ihre kleine Anzahl das Glück haben, Spontaneität und Autonomie über Institution und Organisation stellen zu können.

Die öko-anarchistische Utopie lebt und gedeiht. Sie wächst stetig als Alternative zu den Grünen, und äußert scharfe Kritik an der Ampelkoalition. Feministische, antirassistische, antikapitalistische Kämpfe treffen sich im Wald, denn alle Formen der Unterdrückung sind miteinander verbunden.

Schwarz ist das neue Grün: In Zeiten von Greenwashing, Grünkapitalismus und Ökofaschismus bieten die öko-anarchistischen Waldbesetzungen und Klimacamps einen kämpferischen und ungemein schönen Hoffnungsfunken.

Beitragsbild und Bilder im Text von Philippe Pernot.

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