Zielstellung libertärer Nachbarschaftsarbeit ist es, wirtschaftlichen und sozialen Selbstschutz, Gewinnung von Handlungsmacht, emanzipatorische Umstrukturierungen und Selbstorganisation in allen Bereichen zu befördern, die die Nachbarschaft berühren. Dieser Artikel folgt dabei vier Hauptthesen:
1. Die sozialen Interaktionen und Bereiche, die sich räumlich in Wohnung und Nachbarschaft abspielen, sind im Kampf gegen Armut und Perspektivlosigkeit, gegen Patriarchat und Kapitalismus mindestens ebenso relevant wie die betriebliche Sphäre.
2. Die bisherigen Ansätze libertärer Kiezgestaltung in Form von Hausprojekten, Werkstätten, Umsonstläden, Nachbarschaftsvernetzungen, Bündnissen gegen Mietpreise und Zwangsräumungen haben bis jetzt viele gute Methoden hervorgebracht, waren aber nicht ausreichend effektiv, Missstände offensiv und flächendeckend anzugehen. Sie sind bis jetzt wenig bekannt und marginal.
3. Mit der Anwendung schon bekannter verbindlicher, bundesweit föderalistischer Organisationskonzepte kann die Handlungsmacht solcher Initiativen enorm verstärkt werden.
4. Mit dem Schulterschluss zwischen Nachbarschaftsorganisationen und anderen syndikalistischen Föderationen ließen sich weitere Probleme lösen und die Frage nach einer libertären, gesellschaftlichen Gegenmacht in Deutschland völlig neu stellen. Die Handlungsmacht solcher Initiativen kann dabei enorm verbessert werden, indem wir verbindliche, bundesweit föderalistische und bereits erprobte Organisationskonzepte anwenden.
Im ersten Schritt will ich deshalb herausarbeiten, mit welchen sozialen Aspekte wir uns in der Nachbarschaft überhaupt konfrontiert sehen.
Wohnung und Kiez, soziale Kampffelder an jeder Ecke
Im Gegensatz zur Sphäre von Lohnarbeit und institutionalisierter Bildung [1]…die in einer kapitalistischen Gesellschaft im Wesentlichen der Vorbereitung auf Lohnarbeit dient. spielt sich das Leben nicht irgendwo an einer fremden Stätte ab, sondern oft bei uns zu Hause bzw. in unserem Kiez.
Das beginnt in unserer Wohnung, in der wir einen großen Teil unserer Reproduktionsarbeit leisten [2]Reproduktionsarbeit, d.h. kurzgefasst – im kapitalistischen Alltag – die Wiederherstellung von unserer Arbeitskraft. Dazu zählen unmittelbare Bedürfnisse wie Schlafen, Essen, Waschen. Dazu zählen aber ebenso die Rahmenbedingungen, wie Hausarbeit ganz allgemein, das Machen und Großziehen von Kindern (d.h., gesellschaftlich gesehen, neuen Lohnarbeiter*innen), die Pflege von Kranken und Alten, die aus dem Produktionskreislauf ausgestiegen sind. und die Verhandlung um die Aufteilung dieser Reproduktionsarbeit stattfindet. Das geschieht heute in der Mehrzahl der Fälle immer noch nach sexistischen Rollenmustern.[3]Siehe Böckler Impuls – Frauen leisten mehr D.h. Männer, die dank Sexismus in der Arbeitswelt im Durchschnitt die Chance auf höhere Einkommen haben, kümmern sich um den Hauptbroterwerb. Währenddessen muss die meist weibliche Partnerin den Hauptteil der Reproduktionsarbeiten besorgen, oft neben einem schlecht bezahlten Job.
Für Frauen ergibt sich daraus oft eine Doppelbelastung. Nie richtig Feierabend und eine, häufig lebenslange, finanzielle Abhängigkeit vom Partner, die sich bis ins Rentenalter weiter trägt.[4]ver.di – Gender Pension Gap, Lücke wird kleiner weil die Renten sinken. Es finden sich aber auch mehr oder minder alternative Modelle, wie WGs oder Hausprojekte. Diese Form der Selbstorganisation hat eine Vielzahl von Modellen der Arbeitsverteilung im Haushalt hervor gebracht, die über die traditionelle, sexistische Rollenzuweisung hinaus weisen.
Auch unsere Konsumentscheidungen treffen wir meist in der Wohnung/Nachbarschaft. Die Frage, ob und wie wir kaufen, ist einerseits von den Angeboten nahe unseres Wohnortes abhängig, andererseits von unserem Einkommen und schließlich auch von den politischen Diskursen, in denen wir uns bewegen. Als Konsument*innen haben wir die Macht, Unternehmen mit Boykott für ihre Praxis zu sanktionieren oder andererseits sympathische Unternehmen – z.B. Kooperativen und Kollektivbetriebe – zu unterstützen. Gerade die Macht des Boykotts wird aber erst dann für die Unternehmen auch als solcher spürbar, wenn dieser koordiniert geschieht. Das ist heute selten der Fall.
Weiter geht es in der Hausgemeinschaft. Städtischer Regelfall ist dabei eine Zwangsgemeinschaft in einem Mietshaus mit dem*r selben Vermieter*in. Oft wird hier nicht als Kollektiv gelebt und doch sind die einzelnen Mietparteien von derselben Ausbeutung durch Mietforderungen, durch Mieterhöhungen und Gebäudeschäden oder auch nur despotische Hausordnungen gemeinsam betroffen. Da heute ein großer Prozentsatz des Wohneigentums bei größeren Immobilienfirmen liegt, ergibt sich daraus noch eine viel größere, potentiell bundesweites Zwangsgemeinschaft, ähnlich wie für Beschäftigte in bundesweiten oder internationalen Unternehmen.[5]Auch im Falle von Hauseigentum finden wir Gemeinschaften vor, z.B. Familien oder Hausprojektgruppen, wenn in der Stadt auch prozentual seltener als auf dem Land.
Darüber hinaus ergeben sich die kollektiven Ebenen von Straße, Block, Viertel. In diesen sind wir mit den anderen Menschen gemeinsam von Auf- und Abwertung unserer Stadtteile betroffen, ebenso mit fremdbestimmter Quartiersgestaltung. Unser direktes Wohnumfeld ist aber auch der Raum, in dem wir verstärkt soziale Beziehungen pflegen können, in denen ein Teil der politischen Meinungsbildung stattfindet, in dem wir Treffpunkte etablieren. Letztlich ist es auch diese Nachbarschaft, die durch unser Verhalten oder Nichtverhalten die Freiräume für linke oder rechte Artikulationen und Aktionen festlegt. Es ist der Ort, an dem wir mehr Gelegenheiten haben, Zivilcourage z.B. gegen Sexist*innen, Nazis und Polizei an den Tag zu legen als im direkten Umfeld unseres Betriebes, der Schule oder der Uni. So ist es die Organisation im Stadtteil, die den Ausschlag dafür gibt, ob wir einem spontan auftauchenden Polizei- oder Naziaufgebot etwas entgegen zu halten haben oder nicht. Nicht zuletzt ist in Zeiten von Flexibilisierung und Isolierung der betrieblichen Praxis der Kiez auch ein wichtiger Bezugspunkt für Basisgewerkschafter*innen, um Kontakte zu pflegen, sich weiterzubilden, betriebliche Aktionen zu koordinieren.
Der Stadtteil ist daneben der Ort, in dem sich die Menschen i.d.R. hauptsächlich mit Schulden, dem Jobcenter und der Drangsalierung durch andere Behörden befassen. Erfahrungen aus der FAU in Dresden zeigen, dass die Bereitschaft der Leute in dieser Hinsicht zu kämpfen sehr von der Verfügbarkeit entsprechender Unterstützungsangebote in räumlicher oder zumindest sozialer Nähe abhängt. Das betrifft gerade auch kollektive Aktionsformen, wie die Verweigerungen von Eingliederungsvereinbarungen bei Hartz IV.
Mit diesen Betrachtungen haben wir, wenn auch sicher unvollständig, ein Bild davon gewonnen, welche politischen und sozialen Sphären sich in unseren Nachbarschaften berühren. Die nächste Frage ist nun, warum die Ebene der kommunalen Selbstverwaltung und der antikapitalistischen Nachbarschaftsarbeit in Deutschland bis jetzt vergleichsweise marginal ist.
Die Nachbarschaft der Vereinzelten und der Mietnomaden
Der Mietshäusermarkt ist geprägt von riesigen Immobilienfirmen und kleinen Briefkastenfirmen. Der Mensch, die Gemeinschaft, die Kreativität erhalten keinen Platz mehr. Die meisten führen sowohl ästhetisch als auch in Sachen Hausordnung ein strenges Regiment. Leere Hausflure auf Hochglanz, billige Laminatfußböden, Mitteilungen a lá „Fahrräder und Möbel abstellen verboten“, „Bitte entfernen sie ihren Sperrmüll bis zum XXX aus dem Garten…“ usw.. Das Leben der meisten Stadtbewohner*innen ist geprägt von sterilen und totalitären Wohnvorgaben. Hinterhöfe sind karge, umzäunte Rasenstücke die von Verwaltungsgesellschaften gepflegt werden.
Unsere Häuser und Nachbarschaften sind uns also fremd, wir gestalten sie nicht, wir bestimmen nicht darüber und nur selten fühlen wir uns eingeladen, Flächen zu nutzen. Wenn wir Nachbar*innen treffen, oder direkte Anwohner*innen, dann sehen wir uns selten im direkten Wohnumfeld, sondern vielleicht eher im Kino, im Park, in einer Mall und merken nicht mal, dass wir Nachbar*innen gegenüber stehen. Wir kennen uns alle meistens nicht.
Und oft haben wir auch wenig Motivation das zu ändern, weil wohnen für viele von uns nur eine kurze Zwischenstation darstellt. Dank Verdrängung (Sanierung, Mieterhöhung) oder dank Karriere, oder auch nur dem Rudern nach irgendeinem Erwerb, wohnen wir mal hier, mal dort. Immer weniger Menschen werden in einem Stadtteil auch mal heimisch. Wir sind isolierte Nomaden in einem Heer von Fremden. Es ist diese Isolation, die uns ohnmächtig gegenüber den Verhältnissen macht.
Ehe wir Gedanken an organisierte Nachbarschaften verschwenden können, müssen wir diese Isolation grundlegend überwinden. In Dresden-Löbtau z.B. wurde das – in Teilen – über die Jahre geschafft. Es gibt einen Nachbarschafts-Emailverteiler mit einigen hundert Mitgliedern, hervorgegangen sowohl aus akuten Bedrohungslagen durch Nazis als auch Verhandlungen mit der Stadt bzgl. der Gestaltung von Flächen und der Organisation eines Nachbarschaftsstraßenfestes.[6]Rückblick: DA-Artikel u.a. über die Situation in Löbtau vor ein paar Jahren
Strukturen, wie solche Nachbarschaftsverteiler, lassen sich schnell aufbauen. Wichtig ist dabei einerseits die Festlegung von Minimalkonsensen, auf die man sich in den Strukturen berufen kann (bspw. antirassistisch, unkommerziell), andererseits auf Nachbar*innen offensiv zuzugehen: Das persönliche Gespräch suchen statt plakatieren. Diese Strukturen können direkt die Lebenssituation verbessern (der Nachbarschaftsverteiler ist bspw. oft virtueller Umsonstladen) und die Basis für gemeinsames Vertrauen und darauf aufbauend wieder politische Diskurse bieten. Wichtig ist dabei, dass wir auf die Heterogenität der beteiligten Milieus achten. Ein harter, politisch sehr gefestigter Kern wird meistens unter sich bleiben und eher Projekte IN der Nachbarschaft machen, als authentische Projekte VON der Nachbarschaft.
Schier unerlässlich für solche Nachbarschaftsprojekte sind Nachbarschaftsläden/-Cafés/-Zentren, in denen sich Nachbar*innen kennen lernen, Diskussionen entwickeln, erste Projekte Platz finden können.
Das Problem häufig wechselnder Wohnorte wird sich gegenwärtig durch uns nicht lösen lassen. Gerade Organisationsmitgliedschaften können hier aber Möglichkeiten bieten, schneller in neuen Stadtteilen und Städten anzukommen.
Organisierte Nachbarschaften und Nachbarschaftsräte
Soweit Analyse und Zusammenfassung. Nun gibt es bereits in einer Vielzahl von Nachbarschaften Vernetzungen, die teilweise auch soziale Kämpfe, z.B. Mietkämpfe, anstoßen und begleiten.[7]z.B. „Hände weg vom Wedding!“, “Kotti und Co”, „Wilhelmsburg solidarisch“ oder das “Kiez-Kollektiv” Hannover – in Wilhelmsburg als auch in Hannover ist dabei die FAU schon aktiv involviert. Wie können wir dazu einen nächsten Qualitätssprung machen? Ein Schritt hin zu mehr koordinierter Gegenmacht, zu einer umfassenderen Umgestaltung unserer Stadtteile.
Ein Vorschlag aus Dresden ist die Gründung von Nachbarschaftsorganisationen nach syndikalistischem Modell. Das meint hier v.a. die Herstellung verbindlicher Kommunikations- und Entscheidungswege zwischen Nachbar*innen, das Anlegen gemeinsamer Kassen, das Prinzip von Basisversammlungen und Föderalismus.
Vorschlag für eine konkrete Grundstruktur einer solchen Nachbarschaftsorganisation:
Eine Nachbarschaft, in der sich einige Leute halbwegs kennen und einen emanzipatorischen Grundkonsens teilen, treffen sich einmal im Monat zu Nachbarschaftsversammlungen (NV). Zunächst reichen schon 30-40 Menschen. Es wird sich auf grobe Grundstruktur, Entscheidungsfindungsmechanismen und gemeinsame Grundwerte geeinigt.[8]In einer klassisch-syndikalistischen Einordnung wären diese Stadtteilorganisationen wohl am ehesten mit dem Modell der Arbeiter*innenbörsen vergleichbar. NVs und Grundstatuten bilden somit das Rückgrat für basis-demokratische Abstimmungen.[9]Hier könnten Satzungen von FAU-Syndikaten eine Vorlage bieten.
Daneben wird ein Konto/ eine Kasse angelegt (alternativ erstmal das Konto eines bestehenden Nachbarschaftsvereins genutzt). Alle Nachbar*innen zahlen einen Prozentsatz ihres Einkommens z.B. 1-2% des Nettoeinkommens.[10]Alternative: Häuser und WGs werden kollektiv abgerechnet. Nachtteil ist hier, dass nicht so sehr auf gerechte Umlage von Einkommen auf Beitrag geachtet werden kann, Vorteile ergeben sich daraus, dass weniger und anonymisierter überwiesen werden kann, die Kollektive sich selbst um die Eintreibung kümmern und weniger Verwaltungsaufwand auf Nachbarschaftsebene entsteht.
Für die Zeit zwischen den Treffen wird ein Komitee mandatiert, bspw. Nachbarschaftsrat (NR) genannt. Die Mitglieder des Rates erhalten von der Nachbarschaftsversammlung (NV) klare Kompetenzen und Arbeitsaufträge. In der Anfangszeit kann das z.B. Kassenverwaltung, Kontobetreuung, Vorbereitung der Treffen usw. sein. Die NV hat durch die Beiträge eine erste finanzielle Handlungsmacht.
Zum Angehen der einzelnen sozialen Schwerpunkte könnte eine Befragung gemacht werden, inwieweit einzelne Themen von den organisierten Nachbar*innen priorisiert werden. Projektkonzepte, die sich für die einzelnen Bereiche anbieten sind u.a.:
- Schaffung von Nachbarschaftskantinen, Pflege- und Kinderbetreuungskollektiven, Einkaufs- und Fahrzeugkollektiven, Werkstätten, Treffpunkten, Kulturstätten, Nachhilfe, Jugendclubs, etc.
- Beratungsstellen für Probleme im Betrieb, bei Erwerbslosigkeit, Mietstreitigkeiten, anderen Amtsangelegenheiten
- Förderung, Vernetzung und Unterstützung von Hausprojekten im Stadtteil
- Recherche über Gestaltungspläne der Stadt im Viertel, Bildung von Verhandlungskommissionen, Prüfung von Gärten und Brachflächen, ob sie zum Kauf geeignet sind
- gegenseitige Wohnungsvermittlung
- Organisation von Awareness-Strukturen, Mediationsstellen, Bildungsangeboten, Schutzräumen (bspw. Frauenhäusern), Unterstützung bspw. von Stadtteilantifas
- Bildung von Konsumgenossenschaften mit libertärem Anspruch, Foodsharing-Strukturen
Die NVs könnten darüber beraten, welche Maßnahmen sie für machbar halten und inwieweit die gemeinsamen Mittel darauf verwendet werden könnten. Den Räten und einer niedrigschwelligen und gut an die selbstorganisierte Arbeit angepassten IT-Lösung kommt dabei die Aufgabe zu, Entscheidungen mit Pros und Contras gut vorzubereiten und so Konsens bei den Versammlungen wahrscheinlicher zu machen. Die entsprechenden Aufgaben für angedachte Projekte sollten beschrieben, im zeitlichen Rahmen geschätzt und unter allen organisierten Nachbar*innen ausgeschrieben werden, damit auch jene Aufgaben übernehmen, die es nicht regelmäßig auf Versammlungen schaffen (wollen). Mit beschlossenen Projekten und Themengebieten können AGs, Ausschüsse und Projektgruppen betraut werden, die den NVs Bericht erstatten. Die NR können dabei eine koordinierende Funktion einnehmen.
Diese Methode hat den Vorteil, dass in ihr basis-demokratische Kompetenzen entdeckt und erlernt werden und dass damit Projekte möglich werden, deren Finanzierung sonst oft von staatlichen Geldern und/oder sonstigen Förderungen abhängt und damit prekär, unsicher, politisch erpressbar ist. Gleichzeitig schließt das Konzept damit an aktuelle Diskussionen an, die in Teilen der kurdischen Community Deutschlands geführt werden.[11]Siehe Interview zur Solidarität zwischen der kurdischen Community und der deutschen Linken im Lower Class Magazine
Die NVs und Räte sollten darauf achten, mit einem Maximum an Transparenz zu arbeiten und weitere Nachbar*innen immer wieder einzuladen. Mit Anwachsen der organisierten Nachbarschaften, steigen die finanziellen Möglichkeiten ebenso wie die demokratische Legitimierung und die Aktionsfähigkeit. Daneben würde der Aufbau von Projekten unter verbindlichen Abstimmungs- und Kommunikationsvereinbarungen stattfinden, was eine neue Qualität wäre gegenüber nebeneinander existierenden Einzelprojekten, die sich mehr auf Basis einzelner sozialer Kontakte austauschen. Eine weitere Öffnung, aber gleichsam finanzielle Hilfe, könnten öffentliche Betriebe wie bspw. Cafés und Konsumgenossenschaften bieten. Mitglieder könnten hier Rabatt bekommen, so könnte auch ein akuter, materieller Anreiz geschaffen werden, in die gemeinsamen Kassen einzuzahlen.
Sollte sich das hier beschriebene Konzept, so oder ähnlich, verbreiten, wäre über die Sinnhaftigkeit einer Föderation in städtischen, regionalen und überregionalen Räten zu diskutieren. Deren Tätigkeit könnte z.B. auf Lobbyarbeit für die Gesamtheit der Räte, auf Wissenstransfer, Bereitstellung überregional gebrauchter Infrastruktur (bspw. IT-Lösungen) usw. abzielen.
Eine solche Nachbarschaft oder Nachbarschaftsföderation kann einige der eingangs beschriebenen Probleme lösen. Andere Probleme bleiben bestehen, bzw. dürften für einzelne Nachbarschaftsorganisationen am Anfang eine Nummer zu groß sein. Die Prekarität der Einzelnen ist z.B. mit dem Modell immer noch nicht behoben, ebenso nur in begrenztem Maße die Konsument*innenohnmacht, auch Hausprojekte, ALG-II- und Mieter*innenberatung allein aufzubauen wird schwierig und vermutlich wenig effektiv. Gleichzeitig wäre es ja vielfach formulierter Anspruch, eine nachhaltige Perspektive zu eröffnen, die über Kapitalismus und Patriarchat hinausweist.
Zusammengedacht werden sollte dieses Konzept daher von Anfang an mit vier anderen Akteur*innen: Reproduktionsgemeinschaften, Basisgewerkschaften, Mietshäusersyndikaten und Union Coops.
Hand in Hand – Mit ineinander-greifenden Strukturen für eine gesamtgesellschaftliche Perspektive!
Unmittelbar berührt werden unsere Nachbarschaften, wenn nicht jetzt schon, so doch hoffentlich bald, von Projekten des Mieshäusersyndikates (MHS).[12]Das Mietshäusersyndikat ist eine Föderation von Hausprojekten, die mit rechtlichen Mitteln eine Reprivatiserung der von den einzelnen Projektgruppen kollektivierten und verwalteten Immobilien unmöglich machen will. Der Zusammenschluss erleichtert nicht nur die rechtliche Konstruktion sondern ermöglicht auch bundesweiten Austausch von KnowHow wie Wissen um die relevanten rechtlichen Aspekte, Umgang mit Konflikten, baulichen Problemen und Finanzierung. Es ist zudem eine Plattform für die Suche nach Direktkrediten. Wenn wir darüber diskutieren, wie wir die Verdrängung in unseren Stadtteilen zumindest abmildern können, ist das Mietshäusersyndikat dabei ein wichtiger Schlüssel.[13]Andere Optionen, bspw. Besetzungen als direkte Aktion sind hier genauso vorstellbar, auch Mietdeals o.ä.. Sie alle bieten allerdings mal mehr, mal weniger langfristige Unsicherheit, was den Ausbau der Strukturen immer zu einer Abwägungsfrage macht. Außerdem kann die Reaktion auf beständige und akute Bedrohungen, z.B. bei Räumungsgefahr, sehr viel Zeit und Energie verschlucken, oft ohne nennenswerten politischen Gewinn.
Antikapitalistische und radikaldemokratische Basisgewerkschaften wie die FAU-Syndikate[14]Zu nennen wären in Deutschland noch die IWW und unter_bau, letztere gibt es jedoch nur in Frankfurt a. M. sind natürliche Verbündete beim Aufbau einer solchen Nachbarschaftsorganisation. Das wird einerseits durch die Beteiligung an Projekten in Hannover und Hamburg deutlich. Andererseits gehört eben jene Nachbarschaftsorganisation zum Kern anarcho-syndikalistischer Theorie. Das zu Grunde liegende Gewerkschaftsmodell lässt sich eben nicht nur auf apolitische Tageskämpfe im Betrieb festnageln, sondern zielt auf Kämpfe und Verbesserungen in allen sozialen Bereichen und die Übernahme der gesellschaftlichen Tätigkeiten in Selbstverwaltung ab. Dass sich heute Nachbarschafts-Initiativen mit sozial-kämpferischen Anspruch eher außerhalb als innerhalb der FAU entwickeln, lässt sich daher v.a. auf ein nur langsames Erstarken des Nachkriegssyndikalismus in Deutschland und einen allgemeinen Organisationsskeptizismus der deutschen Linken seit den 70ern zurückführen.
Auch wenn Nachbarschaftsversammlungen und FAU-Syndikate daher zunächst zwei paar Schuhe bleiben werden, bietet eine enge Zusammenarbeit der Strukturen und eine Doppelmitgliedschaft für Einzelne eine Menge Vorteile. So bietet die FAU schon heute ein bundesweites und internationales Netzwerk, was den Erfahrungsaustausch zwischen den Nachbarschaften und die Gründung weiterer, lokaler Initiativen erleichtert. Auch kann auf die Strukturen bei Arbeitsrechtsfällen, Sozialberatungsbedarf etc. zurück gegriffen werden. Eine stärkere Relevanz könnte die FAU zudem als Mietkampforganisation erreichen. Lohn- und Miethöhe sind oft zwei Seiten der Medaille moderner Prekarität. Ähnlich wie am Arbeitsplatz lohnt es, wenn sich Mieter*innen desselben Unternehmens bundesweit organisieren und gemeinsam Kämpfen. Dafür bietet das rechtliche Knowhow, die Rechtshilfekassen der FAU und ihre bundesweite Mitgliederbasis eine gute Ausgangslage. Perspektivisch könnte so von einer rein abwehrenden Position in offensive Kampagnen z.B. für “Miettarife” übergegangen werden.[15]Mehr zum Thema Mieter*innengewerkschaft gibt es hier.
Eng mit der FAU verzahnt ist die Föderation gewerkschaftlich organisierter Betriebe, kurz Union Coop. Sie verfolgt ähnliche Konzepte wie das Mietshäusersyndikat, nämlich Entprivatisierung von Produktionsmitteln und gegenseitige Unterstützung durch Geld, KnowHow und Abstimmung. Die Föderation hat einen klar emanzipatorischen, antikapitalistischen Anspruch. Die FAU kontrolliert dabei als Gewerkschaft die Arbeitsbedingungen der Betriebe und stellt diesen ein Qualitätssiegel als Union-Coop-Betrieb aus, das den Konsument*innen Sicherheit über die Arbeitsbedingungen bietet. In Zusammenhang mit den Nachbarschaften, kann das Union-Coop-Modell eine Möglichkeit sein, Strukturen jenseits von überlastetem Ehrenamt oder politisch motivierter Selbstausbeutung aufzubauen. Gleichzeitig sind es auch die Nachbarschaften, die als Ort des hauptsächlichen Konsums einerseits neue Betriebe durch nachbarschaftliche Mittel stützen könnten, andererseits, mittels Konsumgenossenschaften, Union-Coop-Betrieben bundesweit oder gar international eine halbwegs sichere Abnehmer*innenschaft organisieren würden. Das würde den Betrieben einen großen Zugewinn an Stabilität bieten. Dadurch würden diese beim Aufbau der Föderation stark entlastet. Bewussten Konsument*innen würde es umständliche Bestellungen und Fahrtwege ersparen.
Schließlich ist die Ebene der ehrenamtlichen Selbsthilfe-Projekte zu betrachten, seien das WGs, Repro–/Pflegekollektive oder Werkstätten. Solcherlei Projekte und Kollektive werden weiterhin das Rückgrat von lebendigen Nachbarschaften bilden. Gerade im Reproduktionsbereich wären hier sicher noch eigene Organisationsansätze für mehr gegenseitige Hilfe, Austausch von KnowHow und Lobbyarbeit notwendig.
Durch ineinander greifen besagter Strukturen ließen sich in Nachbarschaften maximale Effekte erzielen.[16]Plastisches Beispiel: Eine Nachbarschaftsversammlung entscheidet sich für den Aufbau einer Kantine um Nachbar*innen in Sachen Finanzen wie Repro–Arbeit zu entlasten und Anlaufpunkt zu bieten. Da Mieten eine der Hauptbelastungen für Betriebe sind, tut sich die Projektgruppe mit einer Hausprojektinitiative zusammen. Das Hausprojekt wird unterstützt von Nachbarschaft und MHS, finanziell, rechtlich und tatkräftig. Das Hausprojekt stellt der Suppenkücheninitiative das Erdgeschoss zu Verfügung und sichert so langfristige und günstige Mietbeiträge. Die Suppenküche wird finanziell durch Nachbarschaftsbeiträge unterstützt, die organisierten Nachbar_innen erhalten dafür ein gewisses Mitspracherecht und Rabatte. Ebenso wird die Küche Union–Coop–Betrieb, erhält also Unterstützung bei der Schaffung einer basis–demokratischen Rechtsform, wird von der FAU kontrolliert und aktiv beworben + frequentiert und sichert sich so gegen prekäre Selbstausbeutung, bei betrieblichen Engpässen greifen erstmal Solidaritätsfonds und Beratung der UC–Föderation – nicht Lohnsenkung. Es entsteht kein neuer Chefbetrieb. Die Kantine verkauft daneben Waren der Union–Coop–Betriebe und macht so ethische Konsumtion einfacher, stärkt im gleichen Atemzug aber die eigene Föderation. Die umliegenden Repro-Kollektive werden durch das günstige Angebot in der Küche entlastet und haben zusätzlich noch eine Wand für Angebote und Gesuche für Repro-Arbeit eingerichtet, was die Frequentierung der Küche erhöht. Die Repro-Kollektive haben daneben die durchschnittliche, monatliche Bestellmenge der Union-Coop erhoben und eine Bestellgarantie für jeweils ein Jahr gegeben um die Planungssicherheit zu erhöhen.
Zusammenfassung des Konzepts
Die Nachbar*innen organisieren Nachbarschaftsversammlungen & Räte und erhalten durch strukturierte Entscheidungsprozesse und einen eigenen Fond mehr Planungs– und Handlungsmacht. Sie beteiligen sich aktiv am Aufbau von Strukturen die auch MHS– und Union Coop–Strukturen einschließen und unterstützen Repro–Kollektive.
Diese Strukturen zusammen sichern den Nachbar*innen Stück für Stück mehr Zugriff auf erträglichere Arbeitsplätze, gesicherteres Wohnen und anti-patriarchale Räume und Reproduktions-Arbeit. Die FAU zertifiziert und fördert Union-Coop-Betriebe, da mindestens die Hälfte der dort Arbeitenden für sinnvolle Kontrolle Mitglied werden muss, wächst auch die Gewerkschaft mit den Betrieben. Die Union-Coop-Betriebe stehen mit ihren Konsument*innen in direkten Austausch und berücksichtigen deren Wünsche bei der Produktion. Im Gegenzug ermöglicht deren organisierte Konsument*innenmacht Ansätze einer demokratischen Planwirtschaft von unten und einen kleinen Ausbruch aus dem prekären Wettbewerb.
Die Kollektivbetriebe haben dabei die Aufgabe und das Ziel, Freiräume für Umsonst-Ökonomien zu erwirtschaften, sowie Praxis und Theorie durch gemachte Erfahrungen weiter zu entwickeln. In konventionellen Betrieben und Mietwohnungen (ebenso wie auf Bildungsinstitutionen und Ämtern) kämpft die FAU weiter für bessere Bedingungen, kann dabei vor Kolleg*innen aber auf praktische Beispiele der kollektiven Häuser und Betriebe verweisen, um Kolleg*innen zu motivieren und sich bei Miet- und Arbeitskämpfen ggf. auf die lokale Unterstützung der organisierten Nachbarschaften verlassen.
Dieser Text ist ein erster Rundumschlag zu Gedanken die sich aus organisatorischen Erfahrungen und Debatten ergeben haben. In einer Zeit, in der Kommunalismus u.a. durch Organisationsmodelle in Rojava neues Interesse entfacht, hoffe ich, dass Leute Lust haben, an diesem Konzept mit öffentlichen oder privaten Antworten und Kommentaren weiter zu arbeiten.
was für die Prokla zur „neuen“ Wohnungsfrage? http://www.prokla.de/call-for-papers/
Vielen Dank für diesen sehr ausführlichen Beitrag, der auch für mich (Rollstuhlfahrer mit Grundsicherung nach SGB XII) aus der Äußeren Neustadt eine echte basisdemokratische und Kommunalistische Perspektive jenseits von der klassischen Einteilung in Branche und Betrieb eröffnet.