"Wir haben eine unerschöpfliche Vielfalt an direkten Aktionen zur Verfügung, um unsere Bedürfnisse unmittelbar zu erfüllen und gleichzeitig der befreiten Gesellschaft näherzukommen."
Bereits 2012, gleich nach der englischsprachigen Erstveröffentlichung der Broschüre, schrieb der Wobbly Nate Hawthorne in einer Rezension: „Read the pamphlet. Seriously, read this pamphlet. If you can, make other people read it and discuss it with you.“ [1]https://libcom.org/article/another-review-fighting-ourselves
Aus eigener Leseerfahrung der im Syndikat A Verlag erschienenen deutschen Übersetzung kann ich sagen, dass es selbst heute noch gute Gründe für Hawthornes Enthusiasmus gibt. So viele, dass ich sie hier gar nicht alle aufzählen kann – allein schon der Umstand, dass jedes der fünf Kapitel über eine eigene Einleitung, eine Zusammenfassung und einen Ausblick auf weiterführende Literatur enthält, zeugt davon, wie gut dieses Werk durchdacht ist. Deshalb möchte ich mich Hawthornes Empfehlung anschließen und hier zumindest ein paar Beispiele ausführen, wie mich diese anarcho-syndikalistische Allrounder-Broschüre weiterbrachte.
Der herausgebenden Solidarity Federation (SolFed) aus Großbritannien gelingt anhand einer historisch-chronologischen Betrachtung der Arbeiter*innen- und Gewerkschaftsbewegung bis in die Gegenwart eine kompakte Einführung in die konkreten Problemstellungen derselben und in die daraus erwachsene Theorie und Praxis. Von den Anfängen der Industrialisierung über die Entstehung verschiedener sozialistischer Strömungen bis hin zu den Ursachen für die gelungenen und gescheiterten anarcho-syndikalistischen Aufbrüche im 20. Jahrhundert entfaltet sie eine aufschlussreiche Analyse.
Der Genosse sprach aus, was Viele von uns im Diskussionskreis dachten. Dies ist nicht verwunderlich, denn hier wird nichts Geringeres versucht, als eine revolutionäre Strategie für die gegenwärtigen Bedingungen zu entwerfen. Die nahezu perfekte Komposition aus einstiegsfreundlicher Niedrigschwelligkeit in Sprache und Umfang bei gleichzeitiger, gnadenloser Präzision und Tiefgründigkeit in der Darstellung hält also auch für erfahrenere Leser*innen interessante Denkanstöße bereit.
Wie muss unsere Organisation aufgebaut sein, um Staat und Kapital erfolgreich überwinden zu können? Wie gelingt der Spagat zwischen der politischen Qualitätssicherung unseres ideologischen Kerns auf der einen und einer ökonomisch schlagkräftigen Quantität an Mitgliedschaften auf der anderen Seite? Messen wir unseren Fortschritt an formell steigenden Mitgliederzahlen oder (auch) an der informellen Zunahme libertär-sozialistisch gerichteter Aktivität im Allgemeinen? Wie verbinden wir unser Fernziel einer libertär-kommunistischen Weltgesellschaft mit einer gegenwärtigen Verbesserung unserer alltäglichen Lebensrealität – was verstehen wir unter Revolution?
Aus der in der Broschüre vollzogenen Analyse lässt sich etwa folgende Quintessenz destillieren: Anarcho-syndikalistische Gewerkschaften (in kapitalistischen Demokratien des 21. Jhd.s) sollten erstens politische und ökonomische Organisationen sein, weil eine Entpolitisierung zugunsten eines schnellen Wachstums (Gewinn von Quantität) in der Vergangenheit dem Reformismus, der Klassenkollaboration und der Vereinnahmung durch politische Parteien Tür und Tor öffnete (Verlust von Qualität).
Und zweitens sollte sie sich dem Aufbau einer revolutionären Kultur der direkten Aktion über territoriale und organisationelle Grenzen hinaus widmen, in der eine kollektive Resilienz gegenüber Staat und Kapital erlernt und gelebt wird und durch erfolgreiche Kämpfe zunehmend von sich überzeugt (Quantität durch Qualität). Denn die Gewerkschaft laufe bei einem formalistischen Fokus Gefahr, es sich auf einer zwar hohen, aber mehrheitlich inaktiven und konfliktscheuen Mitgliederbasis bequem zu machen und sich der Notwendigkeit zu verweigern, sich in einem konkreten Kampf auch mit Kolleg*innen ohne Mitgliedschaft zu organisieren.
Unabhängig davon, ob man SolFed in ihren Beobachtungen zustimmt, bietet sie mit der vorliegenden Schrift allemal inspirierende Denkanstöße für die eigene Strategiesuche. Mich zum Beispiel brachte die simple Vergegenwärtigung der Untrennbarkeit von Politik und Ökonomie dazu, mich selbst wieder als ausgebeutetes, gar revolutionäres Subjekt in dieser Gesellschaft zu erkennen – als ein Teil dieser für ihre eigene Befreiung zu gewinnenden Masse von Unterdrückten. Denn mein scheinbar rein ökonomischer Alltag wird zwar, wie der von so vielen anderen, von individuellen materiellen Bedürfnissen und Zugzwängen geprägt, ist aber eben auch das Ergebnis einer ideologisch mehr oder weniger bewusst gestalteten gesellschaftlichen Ordnung.
Wie wir alle wissen, ist das Private politisch. Dennoch betrieb ich in den letzten Jahren politischen Aktivismus, der sich mit allen möglichen wichtigen Themen beschäftigte, dabei jedoch (nahezu) vollkommen von meinen alltäglichen, sogenannten privaten Problemen isoliert stattfand. Während wir im feierabendlichen Kollektiv unsere Solidarität mit anderen Unterdrückten artikulierten, vergaßen wir, dass auch unsere Leben Teil der Zukunft sind, für die wir kämpfen. Im Vergleich zum Rest der Welt bin ich zwar einigermaßen privilegiert, trotzdem will ich nicht mein Leben lang 40 Stunden die Woche für einen Lohn arbeiten müssen, um Wohnraum, Essen und kulturelle Teilhabe bezahlen zu können. Muss ich mich nun aber ins Private zurückziehen – den politischen Aktivismus aufgeben, um meinen ökonomischen Alltag bewältigen zu können?
Nein, im Gegenteil. Die Konsequenz daraus ist, meine – also unsere – alltäglichen Probleme wieder als das polit-ökonomische Kampffeld zu erkennen, das sie sind. Privat geglaubte Probleme mit der politischen Arbeit im Kollektiv verknüpfen: Die sich aus der Gesellschaft ergebende und die diese konstituierende Lebensrealität im konkreten Problem des Vereinzelten mit kollektiven Methoden verändern.
Ein weiterer Punkt, den ich mir aus der Broschüre mitnehme, ist ein erweitertes Verständnis von direkter Aktion. Diese muss keineswegs gleich die Zerstörung von Herrschaftsstruktur oder ein Streik sein, viel mehr birgt sie eine ganze Fülle von verschiedenen Varianten und Abstufungen. So skizziert SolFed anschaulich, wie Arbeiter*innen beispielsweise sämtliche Kommunikation mit ihren Vorgesetzten verweigern oder schlichtweg ihre Arbeitsabläufe verlangsamen, um Druck auf Chef*innen auszuüben. Diese Aktionsformen haben den Vorteil, dass sie mit relativ wenig Aufwand relativ viel bewirken können – sie sind perfekt dafür geeignet, auch mit unerfahrenen bzw. vorsichtigen Kolleg*innen gemeinsam Stück für Stück mutiger im Kämpfen zu werden. Sie bieten wenig Angriffsfläche, weil in den Arbeitsverträgen i.d.R. keine Verpflichtung zu einer (netten) Kommunikation oder z.B. zu einer exakten Anzahl geschriebener E-Mails pro Stunde enthalten ist und weil gegen eine Aktion keine Rechtsmittel eingesetzt werden können, die offiziell gar nicht passiert. Selbst, wenn zu keinem Zeitpunkt Forderungen gestellt werden, ist das Management irgendwann dazu gezwungen, mit Verbesserungsangeboten auf das Kollegium zuzugehen.
Diese Herangehensweise an Problemlagen lässt sich auch auf Lebensbereiche außerhalb der Lohnarbeit übertragen. Wenn ich Schimmel in der Wohnung habe, mehr Grün im Hinterhofhaben möchte, mich gegen die nächste Mieterhöhung wehren möchte, dann kann ich versuchen, mich mit meinen Nachbar*innen entlang dieser kollektiven Interessen zu organisieren. Selbst der bloße Zusammenschluss in einer Chatgruppe kann schon der erste Schritt eines revolutionären Alltagskampfes sein, denn dann werden die kollektiven Betroffenheiten sichtbar, der Austausch darüber bekräftigt mental, dann wird vielleicht ein Beschwerdebrief an die Vermietung geschrieben, die Flächen-Entsiegelung im Hof einem unerklärlichen Einbruch zugeschrieben und die Überweisung der Miete mal zufällig von allen gleichzeitig vergessen. Dasselbe gilt für Menschen, die wie ich Monatsbeiträge für dieselbe Freizeitaktivität zahlen, die mit demselben Supermarktsortiment konfrontiert sind, mit denen ich eine Arztpraxis teile, deren Kinder auf dieselbe Schule gehen wie meine, die von derselben Diskriminierung betroffen sind wie ich und so weiter.
In allen diesen Problemfeldern kann ich mir nun sagen: Wir haben eine unerschöpfliche Vielfalt an direkten Aktionen zur Verfügung, um unsere Bedürfnisse der Gegenwart unmittelbar zu erfüllen und dabei gleichzeitig der befreiten Gesellschaft näherzukommen. Wir haben eine kollektive Methode, die Solidarität – nicht nur als Waffe, sondern auch als Werkzeug im täglichen Leben. In diesem Sinne schließe ich mich den Autor*innen an und sage: „Wir kämpfen für uns selbst!“ Die Lektüre dieser Broschüre ist sehr zu empfehlen!
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