Salting-Tourist:innen

Erster Teil der aktivismuskritischen Artikelserie „Lieber leben wir als Außerirdische“

„[D]ie Frage, ‚was wir tun sollten‘, die sich revolutionär gesinnte Gruppen stellen, hängt im Allgemeinen von ihrer Position ‚außerhalb‘ eines Arbeitsplatzes oder anderer Kampfsituationen ab. Der Möchtegern-Revolutionär hat das Bedürfnis, sich mit den direkt am Kampf Beteiligten, insbesondere ‚den Arbeitern‘, auseinanderzusetzen, und wird versuchen, sie mit Flugblättern zu beeinflussen, in denen er, wenn nicht ausdrücklich ‚Führung‘, so doch zumindest ‚Ratschläge‘ und ‚Lektionen‘ anbietet. Oder vielleicht versuchen die Militantesten unter ihnen, nachdem sie das Scheitern einer solchen externen Intervention erkannt haben, sich selbst in die Situation einzumischen, indem sie in die Fabriken gehen oder dorthin, wo voraussichtlich etwas passieren wird.“ – Endnotes: We Unhappy Few

 

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„‚Salting’ bedeutet, dass man einen Job mit der Absicht annimmt, am Arbeitsplatz eine Organisierungskampagne zu starten oder zu unterstützen“.[1]Lees 2020a. Ein Tip zum lesen von Fußnoten und direkter Rede im Text. Steht in der Fußnote nach einem Zitat eine Klammer (Name Jahreszahl: Seitenzahl), so könnt ihr das Zitat folgendermaßen in der Originalquelle nachlesen: Am Ende des Artikels ins ‚Quellenverzeichnis‘ schauen, dort den Namen des:der Autor:in und die richtige Jahreszahl dazu suchen, und das Buch etc. an der richtigen Seite aufschlagen. So definiert der:die IWW-Organizer:in MK Lees eine gewerkschaftliche Taktik, die ich in meinem eigenen FAU-Aktivismus unbewusst angewandt habe. Ich habe sieben Monate als Essensausfahrer, als ‚Rider‘ gearbeitet. Während dieser Zeit war ich Teil einer Betriebsgruppe (BG) der FAU. Diese BG – nennen wir sie ‚BG Lieferland‘ – gab es schon gut zwei Jahre, als ich dazukam. Sie hatte sich auf Initiative eines widerständigen Kollegen gegründet, der von den eigenen miesen Arbeitsbedingungen im Liefersektor die Schnauze voll hatte. Der Kollege sprach unser Allgemeines Syndikat an und startete die Organisierungskampagne. Eine Unterschriftenliste wurde unter den Kolleg:innen gesammelt und den Chefs überreicht. Dann wurde er gekündigt und… – aber das ist eine andere Geschichte.

Die allgemeine Auswertung der BG-Kampagne steht noch aus. Mit diesem ersten Teil der Artikelserie möchte ich dazu nur einen spezifischen Beitrag von vielen leisten. Ich möchte die Anwendung der Salting-Taktik innerhalb der Kampagne der BG Lieferland (selbst)kritisch durchleuchten. Salting, so obige:r MK Lees, solle ein Werkzeug unter vielen in den Händen von selbstorganisierten Arbeiter:innen sein. Salts sollten die Selbstorganisierung der Kolleg:innen nicht ersetzen. Weder im Sinne einer ‚Führung‘ (gar durch sozialistisch erleuchtetes Bewusstsein, gähn!), die von Außen kommt; noch durch die Übernahme zentraler Aufgaben der Betriebsgruppenarbeit. Im Gegenteil wird bei Lees klar, dass Salting erheblich mehr Probleme verursachen als lösen kann. Das heißt, wenn es uns wirklich um den Aufbau von Arbeiter:innenmacht im Betrieb geht – und nicht um die Selbstinszenierung von linken Laberbacken bzw. den über Arbeitskämpfe vermittelten Aufbau ihrer politischen Organisatiönchen.

Als ich in die BG Lieferland kam, war ich seit wenigen Jahren aktives Mitglied einer solchen politischen Organisation: dem ‚Allgemeinen Syndikat‘ in unserer Stadt. Dort war ich einer der Gewerkschaftsaktivist:innen, die Zeit und Energie in betriebliches Organizing investieren wollten, während sie aber ‚hauptberuflich‘ Student:innen waren. Solche Aktivist:innen, die eine Organisierungskampagne unterstützen, werden im Gewerkschaftssprech Salts (von englisch ’salt‘, also ‚Salz‘) genannt. Wahrscheinlich weil sie die Würze in der Gewerkschaftssuppe im Betrieb sein sollen. Zum Zeitpunkt meines eher späten Dazustoßens in die ‚BG Lieferland‘ gab es mindestens vier ähnlich positionierte Gewerkschaftsaktivist:innen, die von außen in die Organisierungskampagne und damit zugleich als Rider in den Betrieb kamen. Wir waren über die verschiedenen Stores des Franchiseunternehmens in der Stadt verteilt. Ich ging in einen Store, in welchen ein anderer in der FAU organisierter Kollege bereits strafversetzt worden war.

Ich und die drei anderen Salts hatten entweder unser Studium noch nicht oder erst vor kurzem abgeschlossen. Wir befanden uns in einer spezifischen Lebensphase innerhalb der privilegierten Ränge des Bildungssystems. In dieser Zeit finanzierten wir unser Leben als Lohnabhängige (noch) in prekären Nebenjobs. Der Rider-Job war eine Einkommensquelle unter anderen für uns. Öberflächlich betrachtet ging es einigen anderen Kolleg:innen im Betrieb ähnlich. Sie waren ebenfalls Student:innen oder Schüler:innen. Manche von ihnen schlossen sich später der BG an. Aber diese neugewonnenen Genoss:innen hatten ihren Job als Rider in erster Linie als Lohnabhängige begonnen und nicht als Gewerkschaftsaktivist:innen.

Eine der erwähnten vier Salts, nennen wir sie Tabea, äußerte sich dazu wie folgt: „Kann ich nicht unbedingt teilen. Ich sehe (und hab mich im Lieferland auch) schon zuerst als Lohnabhängige und nicht als Gewerkschaftsaktivistin gesehen. Vielleicht deswegen habe ich meine Zeit dort auch etwas anders erlebt.“ Es gab also Unterschiede in den Ambitionen von uns in die BG kommenden aktiven FAU-Mitgliedern. Ein Genosse meint in der Diskussion, dass vielleicht der Begriff Salt dann auch nicht auf uns alle vier angewendet werden sollte, oder wir vielleicht verschiedene Typen von Salts seien. Ein Unterschied jedenfalls zwischen mir und allen anderen Kolleg:innen in der BG war, dass ich mich nicht aufgrund eigener Probleme auf der Arbeit, aus verletzter Würde organisierte. Stattdessen organisierte ich mich zuerst politisch. Wie ein Genosse richtig bemerkt, unterscheidet sich in der BG der:die aktivistische Tourist:in von dem:der militanten Kolleg:in, dass erstere:r erstmal keine Ahnung von den tatsächlichen Interessen der Kolleg:innen habe und sich für diese auch eher instrumentell und nicht aus eigener Betroffenheit interessiere.

Ich hatte mir meinen Einsatz als Salt selbst ausgedacht und wurde dazu nicht vom Syndikat motiviert oder der BG angefragt, wie es bspw. MK Lees für ein Gelingen von Salting grundlegend anmahnt. Ich kannte nicht einmal den Begriff, geschweige denn das taktische Konzept dahinter. Im Syndikat wurde dieses Vorgehen nicht thematisiert, es gab keine obligatorische Schulung für die doch verhältnissmäßig zahlreichen Aktivist:innen, die von außen in einen vom Syndikat organisierten Betrieb einsteigen wollten. Ich denke, dass auch die anderen Genoss:innen wenig Wissen oder Ideen zu dieser Taktik hatten. Tabea sagt: „Dein Text trifft total gut den wichtigen Punkt, dass es in unserem Syndikat keinerlei Wissen zum Thema Salting gibt, und dass das dann fatal sein kann. In der BG konnte ja jede*r ein bisschen machen, auf was man grade so Lust hatte. Ich denke nicht, dass das der Hauptgrund war, warum die BG am Ende eingeschlafen ist, aber es ist bestimmt auch nicht zuträglich gewesen.“

MK Lees bezeichnet Aktivist:innen wie mich treffend als „Salting-Tourist:innen“. Als Tourist wollte ich die Kämpfe der BG in einer momentanen Flaute unterstützen. Ich wollte mich tatkräftig solidarisch zeigen und hatte die freien Ressourcen dazu. Trotz solch opfermütiger, edler Motive warnt MK Less – aus gutem Grund, wie ich noch zeigen möchte:

„Hüten wir uns vor dem Touristen. Es ist nicht immer der Fall, aber manchmal ist das Profil eines Salt das einer Person, die bessere Möglichkeiten hat als den Einsatz als Salt… Achtet also beim Salting auf die Leute, die einfach nur ein Abenteuer suchen, vielleicht eine aufregende Eskapade in ihrem Leben. Das ist einfach nicht förderlich für eine Mentalität, die man für erfolgreiches Organizing benötigt. Denn das ist ein langwieriger, meist langweiliger und oft demoralisierender Prozess. Und wenn jemand kommt und ein Abenteuer sucht und möglicherweise den Helden spielen will, geht das nicht gut aus. Es wird sogar besonders schlecht ausgehen, wenn die üblichen Probleme in einer Kampagne auftauchen und wir dann darauf vertrauen, dass solche Leute das Brain im Betrieb sind.“[2]Lees 2020b

 

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Unter uns vier von außen Kommenden verhielt ich mich in den sieben Monaten als ein besonders „wild entschlossener“i Gewerkschaftsaktivist. Ich habe zunächst die Arbeitsabläufe im Store erlernt. Ich wollte den Riderjob gut ausführen und von Kolleg:innen und der Schichtleiterin respektiert werden. Während meiner Schichten habe ich Beziehungen zu meinen Kolleg:innen aufgebaut, sie näher kennengelernt und gezeigt, dass ich ihnen unter die Arme greife, wenn es brennt. Ich war aufgeschlossen und humorvoll. Dadurch gewann ich nach und nach das Vertrauen und manchmal auch die Zuneigung meiner Kolleg:innen. Ich hielt mich an Bernis Tips für Betriebsrevolutionär:innen.[3]Siehe Kelb 1971 Mein Ziel war es, die sechsmonatige Probezeit ‚unentdeckt‘ zu überstehen, um dann konfliktorientierter für die BG aktiv zu werden. Wie genau das ablaufen würde, war mir zu diesem Zeitpunkt noch unklar. Die Person, die offiziell für die Beratung der BG aus dem Syndikat mandatiert wurde, riet mir, mich zurückzuhalten und keine direkten Anspracheversuche zu unternehmen.

Trotzdem versuchte ich, in Einzelgesprächen mehr über die Probleme meiner Kolleg:innen auf Arbeit zu erfahren. Ich bemühte mich, ihre Beziehungen untereinander zu verstehen und die bisherigen Konfliktlinien im Betrieb zu erkennen. Ich wollte verstehen, wie die internen Abläufe im Betrieb sind. Wann die Storemanagerin die Belegschaft beschiss, wen sie wie bevorzugte und wie ihr Verhältnis zur Geschäftsführung genau war. Ich notierte alles gemeinsam mit dem einzigen anderen, schon erwähnten Aktiven im Store in einem ausführlichen Anspracheplan und der Skizze eines Beziehungsdiagramms. Gegen Ende der Probezeit begann ich dann auch, offensivere 1:1-Gespräche zu führen, um organisierende Verabredungen zu treffen. So handelte ich, wie es mir die „erfolgreiche Organizerin“[4]Siehe Bradbury, Brenner, Slaughter 2018 aus ihren Geheimnissen ausgeplaudert hatte.

Ich versuchte als Angestellter im Store eine eigenständige WhatsApp-Gruppe ausschließlich für Rider einzurichten, um eine Art Gemeinschaftsgefühl und selbstständige Gemeinsamkeit unter den Kolleg:innen zu schaffen. Leider war der Erfolg gering. Ich habe während meiner Probezeit das Thema der Arbeitstemperatur im heißen Sommer angesprochen und mich mit der BG dabei abgestimmt. Obwohl wir keine direkten Aktionen oder anderweitige Arbeitskampfmaßnahmen durchgezogen haben, hat die Storemanagerin umgehend einen Kasten Wasser bereitgestellt. Letztendlich waren auch andere kleine Erfolge im Store das Ergebnis individueller Initiativen meinerseits. Die Storemanagerin hat sich zwar, wie Berni meint, ‚auf unsere Seite der Barrikade‘ gestellt.ii Sie hat damit aber ironischerweise die Organisierung mit den Kolleg:innen und langfristige Erfolge der Kampagne erschwert.

In den sieben Monaten als Tourist im Lieferland stellte sich für mich immer mehr Enttäuschendes heraus. Keine Forderung im Betrieb konnte eine Mehrheit oder auch nur mehr als zwei Kolleg:innen hinter sich versammeln. Trotz offensichtlicher und teils eklatanter Missstände, wie dem sogenannten ‚Tourengeld‘, fuhren meine Organizingbemühungen in dem Zeitraum ins Leere. Beim Tourengeld wurde uns obligatorisch ein Prozentsatz des Trinkgelds abgezogen – genauer gesagt von jeder gefahrenen Tour. Als ich in 1:1-Gesprächen mit Kolleg:innen thematisierte, dass die Umverteilung von Trinkgeldern an den Innendienst illegal und die behauptete Umverteilung selbst undurchsichtig sei, stieß ich auf wenig Unmut. Mein Vorschlag einer eigenen solidarischen Trinkgeldkasse mit freiwilligen Abgaben fand ebenfalls kein Interesse. Kein:e Kolleg:in ließ sich auch nur annähernd in ‚unsere‘ Richtung bewegen.

Möglicherweise hatten die Kolleg:innen kein Interesse daran, etwas zu ändern, weil sie den Job ohnehin nicht länger behalten wollten und ihn auch nicht gerne machten, sich also nicht mit ihrer Arbeit identifizierten, wie ein Genosse in der Diskussion meinte. Es könnte auch von der Gewerkschaftsseite aus erklärt werden. Die BG hatte in Absprache mit dem Syndikat ab einem bestimmten Punkt „fast ausschließlich durch öffentlichen Druck“ im Lieferland für Aufsehen und Unruhe gesorgt, anstatt durch betriebliche Machtentwicklung unter den eher „konfliktunerfahrenen Beschäftigten“. Peter Renneberg schreibt passend zu den Erfahrungen in meinem Store:

„Eine Strategie ausschließlich öffentlichen Drucks […] kann gewerkschaftlich dann sinnvoll sein, wenn die Gewerkschaftsentwicklung (Mitgliedergewinnung, Aktive finden, Strukturen aufbauen usw.) im jeweiligen Betrieb nebensächlich oder sogar uninteressant sind. Die Faustformel lautet jedoch: Kein öffentlicher Druck ohne betriebliche Verankerung und einen Plan für die Gewerkschaftsentwicklung dort.

Die Verbindung von betrieblichem und öffentlichem Druck (auch in dieser Reihenfolge) ist in Betrieben mit konfliktunerfahrenen Beschäftigten umso wichtiger, weil gerade dort nicht selten die Hoffnung besteht, dass ihr Konflikt ohne ihr konkretes Zutun, quasi stellvertretend von außen, gelöst werden kann. Für die weitere gewerkschaftliche Entwicklung, für die Solidarität, das Selbstbewusstsein und zukünftige Konflikte ist aber genau diese Erfahrung zentral.“[5]Renneberg 2020: 111f.

Auch die in einem Workshop für alle Stores festgelegten Organizing-Ziele griffen in unserem Store nicht. Das machte mich ungeduldig. Was mache ich hier, wenn sich nichts bewegt? Meine Denk- und Fühlweise war eben grundlegend aktivistisch und der von Tu, einer Figur Brechts, ähnlich: „Tu sagte: wenn man immer danach strebt, die bequemste Lage einzunehmen und aus dem Bestehenden das Beste herauszuholen, kurz: Wenn man nach Genuß strebt, wie soll man da kämpfen? Meti sagte: wenn man nicht nach Genuß strebt, nicht das Beste aus dem Bestehenden herausholen will, warum sollte man da kämpfen?“ Die externe Beratung der BG versucht immer wieder im Sinne Metis, die Aufmerksamkeit auf die eigene Betroffenheit am Arbeitsplatz zu lenken. Sie forderte: „Formuliert Ziele, die euren Arbeitstag angenehmer machen.“ Meine innere Reaktion darauf war meist Unverständnis. Als wild entschlossener Salting-Tourist hoffte ich genau auf das Gegenteil: dass die Missstände so unerträglich würden, dass meine Kolleg:innen sich endlich mal rühren ließen!

Jan Ole Arps hat ausführlich beschrieben[6]Vergleiche: Arps 2011, wie eine solche letztlich avantgardistische Herangehensweise und entsprechende überzogene Erwartungen[7]Siehe Wildcat #90 von studentischen Fabrikkadern zur Resignation führen. Ein Genosse meinte in der Diskussion dieses Textes, dass mir vielleicht auch schlicht die „große Perspektive“ gefehlt habe, welche mich hätte motivieren können. Sein Gegenbeispiel waren Salts bei Amazon, welche ihren Einsatz als „Beitrag zu einem der wichtigsten Arbeitskämpfe unserer Zeit“ begriffen und darin Sinn und jahrelange Motivation fänden. Jedenfalls erkenne ich heute, dass ich bereits zu Beginn auf den einzigen anderen aktiven FAU-Genossen im Store hätte hören und ihm, im Sinne MK Lees, die „Führung“ – das heißt hier die Initiative in der Organisierung in unserem Store – überlassen sollen: „Salts sollten sich nicht anmaßen, die Führung zu übernehmen, und wenn die Organisationstätigkeit an den Salts hängt, ist es an der Zeit, auf die Bremse zu treten, nicht auf das Gas. Vor allem sollten sich die Salts die Führungsrolle zu gleichen Teilen mit den Nicht-Salts im Komitee teilen, und sie sollten es vermeiden, ein Ungleichgewicht bei der schweren Arbeit zu schaffen, ganz gleich wie groß der Druck ist“, schreibt MK Lees.[8]Lees 2020a

Der Genosse hatte mir sehr klar am Anfang gesagt: „Hier gibt es nichts zu organizen.“ Ich wollte das jedoch nicht wahrhaben, unter anderem aufgrund der Hurrah-Propaganda in ‚Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin‘. „Apathie ist nicht real“[9]Vergleiche: Bradbury, Brenner, Slaughter 2018, nicht wahr? Und wenn sich im Betrieb nichts tut, dann hast du dich wohl nicht genug beim Organisieren angestrengt oder hast die Sache sozialtechnisch falsch angegangen. Der Erfolg einer Betriebsorganisierung, so die implizite und fatale Botschaft, liegt letztendlich in deiner eigenen Verantwortung, liebe:r selbsternannte:r Organizer:in…

 

Einschub: Die Angry Workers antworten auf eine syndikalistische Kritik von Marianne Garneau

„‚Im Klassenkampf mag es Höhen und Tiefen geben, aber konzentriert man sich mit seinem Organisierungsansatz auf die ‚objektiven Bedingungen‘, so wird das Ganze schnell zu einem bequemen Alibi für das Scheitern der eigenen Organisierung. Der Streik hat nicht stattgefunden? Die Bedingungen haben nicht gestimmt. Die Arbeiter haben sich euch nicht angeschlossen? Sie ‚waren nicht bereit‘. Immer wieder ziehen die Angry Workers Bilanz über ihre Erfolglosigkeit und kommen zu dem Schluss, dass man ‚keine Konflikte und Streiks >anstoßen< kann, wenn die Bedingungen und das Vertrauen der Arbeiter:innen nicht reif sind.'[10]Garneau 2020a

Wir halten diese subjektivistische Sichtweise für gefährlich. Denn in ihr erscheint das Bemühen zu verstehen, warum genau Arbeiter:innen Schwierigkeiten haben, sich zu organisieren, lediglich als Ausrede für Misserfolge. Diese Sichtweise trägt zu Burnouts bei und dazu, dass Aktivist:innen sich selbst die Schuld geben, wenn die Dinge nicht so laufen, wie sie sollen – obwohl sie doch dem Mantra des Organizing folgen, das besagt, dass man mit dem richtigen Plan und der richtigen Disziplin die Dinge überall und jederzeit in Gang bringen kann.

Das ist auch der Grund, warum wir uns die Mühe machen, die Zusammensetzung der Belegschaften zu beschreiben, eben weil wir wissen müssen, mit welchen spezifischen Hindernissen verschiedene Gruppen von Arbeiter:innen konfrontiert sind. Z.b. mit Problemen rund um die Einwanderungsbehörde – anstatt einfach platt zu sagen: Alle Arbeiter:innen haben Angst, na und?! Oder noch wichtiger, anstatt dazu beitragen, dass die Arbeiter:innen irrtümlicherweise glauben, dass ihr Kampf immer erfolgreich sein wird, sobald ihre Abteilung oder ihr Unternehmen geeint und vorbereitet ist.“ [11]Angry Workers 2020

 

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„WAS TUN? WIE SICH ORGANISIEREN? […] Diese Fragen können nie geregelt werden, man kommt ihrer Lösung nie näher, denn wenn die Aktivisten sie sich stellen, stellen sie sie als von ihrem Leben getrennt. Die Antwort lässt auf sich warten, weil die Frage nicht von jenem gestellt wird, welcher die konkrete Lösung besitzt. Man kann sich stundenlang versammeln, sich das Hirn zermartern. Der praktische Träger, welcher den Ideen fehlt, wird nicht plötzlich auftauchen. Während diese Fragen für das revolutionäre Proletariat Lappalien sind, weil sich ihm die Fragen der Aktion und der Organisation konkret stellen, werden sie zum PROBLEM für die Aktivisten.“[12]Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires 1972

Eine aktivistische Durststrecke, wie ich sie in den sieben Monaten als unkontrollierter und unbewusster Salt erlebte, kommt halt immer wieder vor. Sie kann auch ganz willkommen sein und damit viel eher eine willkommene Gefechtspause, wenn die Genoss:innen schon zwei Jahre Auseinandersetzungen im Betrieb hinter sich haben. Viele waren froh, dass die neuen Standards in den Arbeitsbedingungen, die bisher mit der BG erkämpft wurden, beibehalten wurden und der Stress abnahm. „Wenn Linke ‘strategische’ Jobs annehmen und große Pläne haben (deren Details in der Regel ziemlich unscharf sind) – und sich selbst im Zentrum dieser Pläne sehen“[13]Lees 2020a, dann ist so eine Durstrecke für eben solche linken Tourist:innen wie mich unter Umständen kaum länger aushaltbar. Und so kam es, zumindest in unserem Store, wie von MK Lees vorhergesagt: „Wenn die Aktivität auf die Salts und/oder einige wenige Aktivist:innen reduziert wird, kann das ein weiterer Moment sein, in dem die Leute anfangen, grundlegende Probleme zu verdrängen und das Gefühl zu haben, dass sie etwas tun müssten, sonst sei ihre ganze Arbeit verloren. Das geht nie gut aus.“[14]Lees 2020a

Was tun?, fragte ich mich also. Am Ende der sieben Monate rannte ich, nach all diesen „Rückschlägen“ und enttäuschten aktivistischen Erwartungen und Kränkungen meiner selbst, aufs brüchige Eis hinaus: „Rückschläge sind schmerzhaft, aber aus einer Position der Schwäche heraus nach vorne zu eilen ist noch schlimmer. Also ist es besser, langsamer zu machen oder sogar neu anzufangen, als kopfüber auf das Ende zuzurennen“[15]Lees 2020a, schreibt MK Lees. Ich startete jedoch eine offensive Kampagne in der allgemeinen WhatsApp-Gruppe des Stores, nun ohne vorherige Rücksprache mit der BG. Ich teilte skandalisierende Fakten darüber, wie die Firmenleitung den Arbeiter:innen jeden Monat Geld stiehlt. Ich führte dies ohne organisierten Rückhalt im Betrieb durch, der mich im Falle von Repressionen durch direkte Aktionen hätte schützen können, denn es gab die BG hier schlicht nur als Minikeimform. Ironischerweise verdankte ich es wiederum der Storemanagerin, dass sie mich nicht direkt verpfiffen hat, sondern gewähren ließ. Sie solidarisierte sich ein Stück weit und stellte sich zu mir Einsamem auf die ‚Barrikade‘. Es war also nicht nur Glück, dass ich nicht direkt gekündigt wurde. Eine Kündigung hätte in einer Zeit, in der die Organisierungsbemühungen der BG in allen Stores stockten, unnötig Energien aus der Kampagne und der BG abgezogen.

Nach der ins Nichts laufenden Whats-App-Aktion führte ich noch 1:1-Gespräche mit Kolleg:innen anhand unserer Lohnzettel. Dabei stellte sich heraus, dass wir unterschiedlich viel Lohn erhielten, was jedoch als kollektives Problem niemanden interessierte. Zwei Kollegen waren aber letztlich interessiert an einer individuellen arbeitsrechtlichen Beratung, um für sich selbst ausstehende Zahlungen einzufordern. An diesem Punkt entdeckte ich jedoch den Text über Salting von MK Lees und zog erschrocken die Reißleine. Ehrlich gesagt hatte ich ohnehin schon meine Motivation verloren und war dabei, mich aus dem Betrieb zu verabschieden. Es scheint, dass der verzweifelte Aktivitätsschub in der WhatsApp-Gruppe nur das letzte Aufbäumen vor einem enttäuschten Abschied war. „Wenn man Salts in der Führung hat, die einfach nur wollen, dass die ganze Sache ein Ende hat, ist das keine Situation, in der gute Entscheidungen getroffen werden können“[16]Lees 2020a, wie MK Lees zutreffend feststellt.

Die IWW-Ratschläge zum Thema Salting kamen für mich also vielleicht gerade noch rechtzeitig. Ich war bereits in immer mehr kopfloser Agitationsarbeit und damit individualisierter Simulation von Betriebsorganisierung verloren gegangen. Ich kann dabei nicht behaupten, dass ich „ein wirklich guter Organizer war“ und mir „schnell den Respekt meiner Kolleg:innen verschaffte“. Möglicherweise war das jedoch ein Glücksfall.iii Als praktisch planlose Salts war es für die BG möglicherweise sogar am besten, wenn wir unsere sechsmonatige Probezeit im Betrieb einfach stillschweigend absolvierten, manche von uns dabei von unschärfen Plänen erfüllt. Wenns blöd läuft, fangen nämlich Leute noch an, große ‘politische’ Reden zu schwingen. Ein anderer wild entschlossener Salting-Tourist kam in ‚meinen‘ Store und begann bereits während seiner Probeschicht lautstark, die Arbeitsbedingungen zu skandalisieren. Er blieb nicht lange im Betrieb und ich hatte Angst, dass wir beide als Gewerkschaftsaktivisten in der Probezeit auffliegen könnten. Mit einer kurzen Schulung vorab, einem klaren Auftrag und Verantwortlichkeit wären solche Vorfälle vermeidbar gewesen:

„Es geschieht immer wieder, daß Genossen wie du versuchen, in ihrem Betrieb die Belegschaft zu agitieren. Und von dieser kriegen sie dann gesagt: »Das ist ja alles ganz schön, was du uns da erzählst. Aber mach man so weiter. Dann fliegst du bald raus!« Auf deine – einer etwas kurzsichtigen Opferbereitschaft entspringenden Erklärung: »Das macht mir gar nichts aus!« kommt dann die Antwort: »Uns aber.« Damit ist die Sache eigentlich erledigt. Du konntest dein Anliegen nicht vermitteln. Jetzt bist du als Revolutionär isoliert. Wahrscheinlich bist du, wie die meisten von uns, Anfänger in der revolutionären Betriebsarbeit.“[17]Kelb 1971

 

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Aus organisatorischer Sicht ist darüber hinaus problematisch, dass unser Aktivismus als Salts in der BG möglicherweise zu einer unrealistischen Einschätzung ihres tatsächlichen Organisationserfolgs geführt hat. Denn rein quantitativ im Blick auf Mitgliederzahlen war die BG recht konstant. Aber der qualitative Erfolg von 1:1-Gesprächen, der Entwicklung von Beziehungen unter Kolleg:innen und der Planung kleiner direkter Aktionen ließ rapide nach. Also das, was Peter Renneberg „betriebliche Verankerung und einen Plan für die Gewerkschaftsentwicklung im Betrieb“ nennt.

Zwei meiner Salting-Genoss:innen haben sich auf Unterstützungstätigkeiten bei den BG-Treffen beschränkt. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass auch unterstützende Genoss:innen als Salts zentrale Verantwortung bei den letztlich ’schweren Arbeiten‘ der Selbstverwaltung der BG übernehmen. Sie vermitteln den anderen Kolleg:innen ein falsches Bild ihrer kollektiven Stärke im Betrieb. Das regelmäßige Treffen nach Feierabend läuft stabil, obwohl die Kampagne im Betrieb an Schwung verloren hat. Es gibt keine 1:1-Gespräche und es herrscht generell Flaute in den Beziehungen zum Großteil der Kolleg:innen. Außerdem gibt es viel Durchlauf unter den Aktiven der BG und es findet keine fortlaufende Wissensvermittlung statt, um diesen auszugleichen. Die unterstützenden Salts sind es unter Umständen, welche zumindest eine Kontinuität der Organisation gewährleisten. Die BG ‚läuft‘ also möglicherweise nur deshalb, weil fast die Hälfte der organisierten Kollegen aus Salts besteht und nicht, weil die BG wirklich Fuß gefasst und festangestellte Kolleg:innen aktiviert hätte. Dadurch findet die Gewerkschaft wieder hauptsächlich ’nach Feierabend‘ statt und nähert sich so als eigentliche Kampforganisation wieder der politischen Gruppe und einem entsprechenden Feierabendaktivismus an. Man kann sich darauf eine Weile ausruhen. Mittelfristig scheint das jedoch kein Erfolgsrezept für basisdemokratische Betriebsgruppen zu sein.

Was taten wir als Gewerkschaftsaktivist:innen in einem organisierten Betrieb während einer Kampagnenflaute? Wir verdienten erstmal und ganz einfach unsere Brötchen. Wie alle anderen Kolleg:innen – auch wenn zumindest ich mir diese simple Tatsache zu der Zeit nicht eingestehen konnte. Tabea hingegen erlebte ihre Zeit in der Lieferland-BG viel nüchterner als ich und zieht daraus andere Schlüsse, die manches von mir Geschriebenes relativieren:

„Gerade mit dieser Identifikation ‚zuerst Gewerkschaftsaktivist, dann erst Lohnabhängiger‘ hadere ich ein bisschen. Müssen wir als Gewerkschaftsaktivist*innen nicht auch hauptsächlich unsere täglichen Brötchen verdienen? Mir war also, als ich im Lieferland angefangen habe, v.a. erstmal wichtig, wieder einen Job zu haben, weil ich gerade dringend einen brauchte. Dazu hat es dann einfach gut gepasst, dass es dort die BG gab.

Ist wahrscheinlich auch ein bisschen Typ-Sache. Ich habe beim Lesen das Gefühl, du bist viel idealistischer an die Sache rangegangen als ich, und dadurch warst du viel ‚wild entschlossener‘. Ich bin irgendwie, mir fällt kein besseres Wort ein, ‚zurückhaltender‘ in den Job eingestiegen. Zuerst wollte ich also hauptsächlich ein bisschen Kohle verdienen, und nebenbei in die BG-Arbeit reinschauen. Dabei habe ich meine Rolle in der BG als eine am Anfang eigentlich nur zuarbeitende gesehen, habe mich bei den Treffen ums Protokoll schreiben gekümmert oder andere niedrigschwellige Aufgaben, von denen die schon länger dabei Gewesenen einfach genervt waren.

Ich hatte auch einen guten Ansprechpartner in meinem Store, da war sowieso klar, dass er die ‚Führung‘ übernimmt. Beim Lesen und drüber Nachdenken frage ich mich, ob das auch daher kommt, dass wir beide einfach eine andere Position im Syndikat hatten. Also das ist jetzt nur mein ganz subjektives Gefühl, aber ich glaube, die anderen BG-Mitglieder hatten so Gedanken im Kopf wie ‚Franz ist ja FAU-Urgestein, der weiß ganz genau was er macht, dem müssen wir eh nichts mehr erklären‘ oder so ungefähr.“iv

Wild entschlossene Externe wie ich lassen sich aber durch fehlende Organizingkenntnisse und gewerkschaftliche Erfahrungen in ihrer Initiative nicht aufhalten. Diese syndikalistischen Werkzeuge sind jedoch notwendig, um als Aktivist:innen von außen anderen Arbeiter:innen überhaupt mit irgendetwas effektiv zur Seite stehen zu können. Uns fehlten aber diese Werkzeuge, wir waren als planlose Salts schlicht unerfahrene Anfänger:innen:

„Vielleicht bist du schon länger in deinem Betrieb beschäftigt. Du hast dich aber erst kürzlich entschlossen, auch hier etwas für die Revolution zu tun. Und nicht nur nach Feierabend in Versammlungen oder auf der Straße. Vielleicht hast du aber auch erst jetzt eine solche Arbeit angenommen. Aus der Erkenntnis heraus, dass revolutionäre Arbeit vor allem im Betrieb nötig und sinnvoll ist. Beim gegenwärtigen Arbeitskräftemangel ist das kein Problem. So oder so, du bist Anfänger.“[18]Kelb 1971

Und zwar Anfänger:innen was folgende Dinge angeht:

  • Persönliche Beziehungen und gegenseitiges Vertrauen, Augenhöhe mit den Kolleg:innen
  • Wissen um die Lebensrealität und existentiellen Zwänge der Kolleg:innen – Einfühlung in ihre Bedürfnisse, Wünsche und Probleme – Verständnis ihrer notwendigen Verdrängungsleistungen auf Arbeit
  • Wissen über den Betrieb, seine Hierarchien und Arbeitsabläufe sowie seine Schwachstellen und Druckpunkte
  • Produktionsintelligenz, also das Wissen und die Fähigkeit, die Produktion durchzuführen
  • Informelle Konflikterfahrungen im Betrieb – Widerstandsfähigkeit auf der Arbeit – Wissen um realistische Handlungsmöglichkeiten
  • Erfahrungen mit etablierten Gewerkschaften in Bezug auf die Bearbeitung der konrekten Arbeitsrealität
  • Gewöhnung an die Arbeit selbst und entsprechendes Durchhaltevermögen

Das bedeutet, dass Tourist:innen, die zum salten kommen, in der Regel Lernende und Anzuleitende sind. Ich fühlte mich jedoch als ‚Organizer‘, also als Anleitender. Diese grundlegend aktivistische Verdrehung ist der Schlüssel zum Verständnis dessen, was beim Salting im Speziellen, wie auch ‚Gewerkschaftsarbeit‘ im Allgemeinen sozialrevolutionär schief laufen kann. Denn ich unterschied mich in meinem Selbstbild und meiner angemaßten, zudem unscharfen Rolle nicht von einem „‚leninistischen‘ Missionar“[19]Schneider 1971: 74. Aber, so gilt es hier zu betonen,

„haben die Arbeiter [in Wirklichkeit] ein viel präziseres und umfassenderes (wenn auch nur latentes) Bewußtsein von ihrer Unterdrückung und Ausbeutung, als wir studentischen Kader mit unserem ‚leninistischen‘ Brett vorm Kopf ahnen konnten. Die Skala ihrer Protesthaltungen reicht von der bewußtlosen Verweigerung, die sich z.B. in Grimassenschneiden, aggressiven Witzen, in einer auffälligen Trägheit und Schwerfälligkeit äußert, bis zum bewußten Widerstand, der sich in spontanen Wutausbrüchen gegen Meister und Zeitnehmer oder im individuellen Boykott von Überstunden und erhöhten Bandgeschwindigkeiten äußert.“[20]Schneider 1971: 73

 

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Das Hereinschnuppern in die Betriebsorganisierung während einer aktivistischen Durststrecke war für mich eine politisch eher entmutigende Erfahrung. Das ist einer der Gründe, warum ich sie aufarbeiten möchte. Trotzdem hat sie mir wahrscheinlich mehr Ansehen unter meinen Genoss:innen gebracht – und ich habe einiges gelernt. Denn war ich lange Zeit ’nur‘ ein studentischer Gewerkschaftsaktivist unter anderen in der politischen Organisation unseres Allgemeinen Syndikats gewesen, beschäftigt mit Verwaltungsarbeit und internem politischen Organisationsgeplänkel, so saß ich als Salt in den Treffen einer Betriebsgruppe von militanten Kolleg:innen. Ich nahm an Organizing-Workshops teil, konnte mich im Betrieb darin praktisch üben und Erfahrungen sammeln. Die Einbindung touristischer Salts birgt hier jedoch „eine weitere organisatorische Gefahr: Sobald man im Betrieb ist und Anlaufstelle für die Kampagne oder die Organisation wird, bekommt man im Fall der IWW – aufgrund unserer Struktur – plötzlich eine Glaubwürdigkeit und eine soziale und organisatorische Macht, die auch ein Problem sein kann.“[21]Lees 2020b

Studentischen Aktivist:innen fehlen Erfahrung, Wissen und Selbstbewusstsein in der betrieblichen Organisierung. Als hauptberufliche Student:innen fehlt diese oft auch in der eigenen existenziellen Auseinandersetzung mit der Lohnarbeit. All das haben sie umso mehr im internen Hickhack der politischen Organisation des Syndikats. Als Mitglied einer BG steigt z.B. die Bedeutung der eigenen Meinung in Richtungsdebatten und Entscheidungsprozessen in der Schar der Feierabendaktivist:innen deutlich an. Hier kann der eigene Salting-Tourismus zur „Ressource werden, zur aktivistischen street credibility als Wertmaßstab im Feilschen und Handeln.“[22]Nappalos 2021: 15 Ich hätte bspw. als Sprecher eines aktiven Arbeitskampfes auftreten können. Ich hätte dies intern oder gegenüber der Presse tun können. In den Fallbeispielen von MK Lees nimmt die Medienarbeit generell eine wichtige Rolle ein, wie auch im Speziellen in der Kampagne im Lieferland.

Ich könnte damit beginnen, BG-Workshops in anderen Syndikaten zu geben und das soziale Kapital der Aktivist:innen zu sammeln. Ich könnte in einschlägigen Medien, wie dem Express, die eigene ‚radikale‘ Publizistikkarriere zart anschieben. Ganz ohne mich tatsächlich militant entlang meiner eigenen existentiellen Interessen als Lohnabhängiger zu organisieren. Ich könnte meine Glaubwürdigkeit in der linksradikalen Nische ausbauen, die von den FAU-Syndikaten mehr als überlappt wird:

„Je länger der RK [Revolutionäre Kampf] bei Opel [Anfang der 70er – F.H.] tätig war, desto schwieriger wurde es, genau zu sagen, was die Betriebsarbeit eigentlich erreichen sollte. In Frankfurt war sie vorallem nützlich für das Prestige der Gruppe in der Szene; sie war das politische Aushängeschild des RK, das besonders an der Universität wirkte. Umgekehrt brauchten die RK-Innenkader die Zugehörigkeit zum Kollektiv mit seinen ‚revolutionären Aktionen‘ in Frankfurt, um sich überhaupt als Revolutionäre fühlen zu können.“[23]Arps 2011: 101

Die linksradikale Nische, innerhalb derer man mit Arbeitskämpfen unerfahren ist, reitet auf der auslaufenden Welle ‚Neuer Klassenpolitik‘. Plötzlich spricht man auch in ihr von einer schwer antastbaren Position der ‚klassenkämpferischen‘ Autorität. Möglicherweise fährt man lediglich Essen aus und traut sich nicht einmal, den ersten Schritt des Organizing zu machen und die Kolleg:innen nach ihren Problemen zu fragen. Tatsächlich nimmt man vielleicht nur an BG-Treffen oder auf Vollversammlungen des Syndikats aktiv teil und redet ‚radikal‘ auf die eigenen Genoss:innen ein. Das ist noch fataler, da man mit seinen rein aktivistischen Anliegen den Raum einnimmt, der für die Selbstorganisation der festangestellten Kolleg:innen und ihre Probleme da sein sollte. Eine BG sollte eine effektive Interessenorganisation im Betrieb sein. Die persönlichen Interessen von Salting-Tourist:innen sind aber vorrangig andere als die der meisten anderen Kolleg:innen. Deswegen müssen Salts „andere Verhaltensstandards und andere Verantwortlichkeiten auferlegt werden [als den organisierten Arbeiter:innen]. Salting sollte als eine zeitlich begrenzte Aktion definiert werden, die einer Kampagne Auftrieb gibt. Damit unterscheiden sich Salts kategorisch von allen anderen Arbeiter:innen, die ganz andere Beweggründe hatten, als sie ihre Jobbewerbung schrieben“[24]Lees 2020a, meint MK Lees.

Eine Genossin betonte nochmal in der Diskussion, dass die BG in den zwei Jahren enorm viel erreicht habe und man das nicht vergessen dürfe. Dass vielleicht auch das Problem gerade diese Suppe gewesen sei, also dieser bestimmte Store, welchen ich mir zum salten ausgesucht hätte. Vielleicht seien die Leute hier auch einfach nicht bereit gewesen, sich selbst zu organisieren. Ein anderer Genosse meinte in der Diskussion, dass es ein Unterschied sei, ob man in eine Arbeit reingehe, weil man diese gesellschaftlich relevant und für sich erfüllend fände, oder ob man nur für die Entwicklung der FAU reingehe. Und in letzerem Falle solle man es lieber gleich bleiben lassen. Ich würde beiden Genoss:innen nicht grundlegend widersprechen, würde jedoch der ersteren Genossin entgegnen: Auch wenn mein Einsatz nicht wirkungslos geblieben wäre, wären darin dieselben, für mich zu kritisierenden, aktivistischen Fühl-, Denk- und Handlungsweisen zur Wirkung gekommen. Denn Aktivist:innen handeln ganz grundlegend als „Außeriridische“:

„Sie genießen ihre Exteriorität gegenüber jeder Situation. Sie hängen in der Luft und leiten daraus das Gefühl einer irgendwie gearteten Besonderheit ab. Lieber leben sie als Außerirdische – das ist der Komfort, den das Leben der Metropolen, ihr bevorzugtes Biotop, noch einige Zeit lang zulässt.“[25]Unsichtbares Komitee: 2015. Das Zitat meint hier Pazifisten und Radikale, lässt sich aber auch, so würde ich behaupten, auf das beschriebene Phänomen von Aktivist:innen generell, Salting-Tourist:innen im Speziellen, übertragen.

Aber andererseits würde ich auch mit MK Lees dem letzteren Genossen entgegnen:

„Zugegeben, es gibt Orte und Zeiten für ein Strategie der Einwirkung von außen. Wenn wir uns ganz strikt darauf beschränken würden, nur unsere eigenen Arbeitsplätze zu organisieren, dann würden wir unsere Vielfalt opfern oder unsere Fähigkeit einschränken, einen strategischen Organisierungsplan aufzustellen. Salts sind ein Instrument, das uns helfen kann, unser Organizing gezielt und strategisch zu erweitern. Salting kann nützlich sein, wenn die Salts geschult und rechenschaftspflichtig sind. Wenn der ganze Plan aber darin besteht, dass sich diese Leute selbst als Held:innen in einem John-Steinbeck-Roman herbeifantasieren, werden wir uns auf sehr enttäuschende Weise die Suppe versalzen. Wenn wir Salts einsetzen, dann müssen wir uns über deren Zweck im Klaren sein.“[26]Lees 2020a

Ich möchte nicht – und ich denke, wir können auch nicht aus unserer derzeitigen Schwäche heraus – den außeriridischen Aktivismus für unsere Organisierung völlig verwerfen. Ich argumentiere nicht für das Umkippen in ein „rätekommunistisches Extrem“.v In den nächsten Teilen der Artikelserie werde ich hingegen ganz anarchosyndikalistisch ‚Gewerkschaftsaktivismus‘, für welchen Salting-Tourismus ein Fallbeispiel ist, weiter analytisch durchleuchten und produktiv kritisieren. Meine vorgeschlagene Zielrichtung wäre dabei, einerseits Ressourcen von (meist studentischen) Aktivist:innen – bspw. als Salts, wenn sie „von den direkt Beteiligten gewünscht werden“[27]Endnotes 2019 – für Betriebsorganisierung zu nutzen, sowie zugleich die für proletarische Selbstorganisierung und -verteidigung mit außeriridischem Aktivismus einhergehende Probleme kollektiv einzudämmen. Welche das sind, versuche ich ebenfalls in den nächsten Teilen auszubuchstabieren.

Zum Beispiel hätten die meisten von uns Salts nicht sechs Monate warten sollen, um aktiv zu werden. Wir hätten von Anfang an mit einem konkreten Plan in den Betrieb geschickt werden sollen, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen, für welche wir uns nicht hätten exponieren müssen. Tabea meint dazu: „Ich finde es interessant, dass du das vorschlägst. Genau so habe ich meinen Arbeitsauftrag wahrgenommen, um ehrlich zu sein.“ Ich empfehle trotzdem, auf Grund meines selbstkritischen Berichts, solche Leitlinien kollektiv aufzustellen und bewusst auf ihre Einhaltung zu achten. Auch wenn sie von manchen wie Tabea eher intuitiv befolgt werden mögen, sollten wir sie wohl nicht der individuellen Einhaltung, gerade durch wild Entschlossene, überlassen. Auch MK Lees gibt, wie geschrieben, konkrete Empfehlungen für sinnvoll geplanten und begrenzten Salting-Aktivismus. Diese könntet Ihr selbst lokal diskutieren und anpassen.

 

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Titelbild: Ino Scheid

Danke an alle Genoss:innen, die gelesen, kritisiert und kommentiert haben!

Liebe Genoss:innen, bitte diskutiert öffentlich mit mir über solche Fragestellungen. Entweder ihr veröffentlicht direkt in der DA, oder ihr schreibt mir: franzheuholz   [ääätttt]   riseup     [punkt]    net

 

Endnoten

i„‚Wild Entschlossene‘ [im Betrieb] sind selten mit Schlüsselpersonen identisch. Sie sind mit ‚Herzblut‘ bei der Sache, haben den Veränderungswunsch verinnerlicht und bilden oft die ‚Motoren‘ bei Aktivitäten […] Deswegen ist manchmal darauf zu achten, dass nicht allein die wild Entschlossenen die Planungen und Vorgehensweisen bestimmen. Im Aktivenkreis sorgen häufig die ruhigeren und besonneneren Stimmen für eine gute Balance des Aktionsniveaus.“ (Renneberg 2020)

ii“Jeder Einzelne ist – unabhängig von seiner sozialen Stellung – vom Wohlwollen seiner Oberen abhängig. Und er ist gegenüber denen, die unter ihm stehen, privilegiert. Dieses Prinzip ist nur zu durchbrechen, wenn die Vereinzelung aufgehoben wird. Also durch Solidarität. Da ist die Barrikade: Ist einer bereit, sich mit Seinesgleichen und Untergebenen zu solidarisieren – oder ist er bestrebt, sich nach oben anzupassen? Jenachdem ist er in seinem Verhalten revolutionär oder nicht. Der Feind steht immer oben. Der konkrete Feind ist jeweils der nächsthöhere Vorgesetzte, der sich nicht mit seinen Untergebenen solidarisiert. Für einen Arbeiter ist die Unterdrückung durch einen despotischen Vorarbeiter viel anschaulicher, als die durch einen jovialen Direktor.” (Kelb 1974: 5)

iiiVergleich das Beispiel aus einer IWW-Kampagnen-Analyse: „Das Problem war, dass Bobs schnelles Organizing keine wirklichen Betriebsgruppen aufbaute, nicht richtig impfte und keine wirkliche Stärke in den Betrieben entwickelte, bevor er den Abzug betätigte. Infolgedessen kam es häufig zu Massenentlassungen und anderen Vergeltungsmaßnahmen, wie z. B. dem Entzug von Arbeitspapieren (offiziell oder nicht) durch den Arbeitgeber. Bob ist auf diese Weise durch vier oder fünf Betriebe gerast. Ein IWW-Mitglied schätzte, dass er im Laufe der Jahre der Grund war, dass 170 Leute gefeuert wurden.“ (Garneau 2019)

ivDieser Punkt ist richtig spannend und verrät etwas über die internen Statusparameter in der FAU: niedrige FAU-Mitgliedsnummer erzeugt eine Aura der Erfahrenheit. Bei mir allerdings ist das Quatsch, da ich zwar früh ins Syndikat eingetreten, aber erst vor zweieinhalb Jahren aktiv geworden bin und zudem keine Gewerkschaftserfahrung mitbringe.

v„Der Rätekommunist lehnt den Wunsch nach einer solchen ‚Rolle der Revolutionäre‘ ab. Über die unmittelbare Tätigkeit am eigenen Arbeitsplatz hinaus verbreiten sie vor allem Informationen und Analysen, wobei sie dies lediglich als Versuch verstehen, zu verstehen was die Menschen tatsächlich tun und welche Bedeutung diese Handlungen wirklich haben. Diese Skepsis gegenüber der Bedeutung von ‚Revolutionären‘ und ihrer politischen ‚Intervention‘ in diesen Kämpfen hat eine starke Plausibilität, wenn es um betriebliche Kämpfe geht. Es ist sicherlich so, dass in solchen Konflikten die Unterscheidung zwischen denjenigen, die sich innerhalb und außerhalb des Arbeitsplatzes befinden, normalerweise grundlegend ist. Was von ‚innen‘ zu tun ist, ist unmittelbar ersichtlich, die Möglichkeiten werden durch die Stellung der Arbeiter, ihre Rolle im Unternehmen, die Stellung des Unternehmens in der Wirtschaft, ihre Beziehungen zu den Kollegen usw. bestimmt. Im Vergleich dazu ist das, was man von ‚außen‘ effektiv tun kann, in der Regel nicht viel. Es sei denn, es handelt sich um eine Tätigkeit, die von den direkt Beteiligten gewünscht wird.“ (Endnotes 2019: 36f.)

 

Quellenverzeichnis

Angry Workers. 2020. A response… . https://www.angryworkers.org/2020/06/19/a-response-to-the-organizing-work-review-of-class-power-on-zero-hours/

Arps, Jan Ole. 2011. Frühschicht. Assoziation A.

Bradbury, Alexandra, Brenner, Mark, Slaughter, Jane. 2018. Geheimnisse einer erfolgreichen Organizerin. Schmetterling Verlag.

Endnotes. 2019. We unhappy few. https://endnotes.org.uk/articles/we-unhappy-few.pdf

Garneau, Marianne. 2019. Beware the one man organizing show. https://organizing.work/2019/07/beware-the-one-man-organizing-show/

Garneau, Marianne. 2020a. Better luck next time. https://organizing.work/2020/06/better-luck-next-time/

Garneau, Marianne. 2020b. Big Strikes. https://organizing.work/2020/11/big-strikes-and-the-sabotage-of-the-labor-movement/

Kelb, Berni. 1971. Betriebsfibel. https://arbeitsunrecht.de/wp-content/uploads/2020/06/berni-kelb_betriebsfibel.pdf

Kelb, Berni. 1974. Organisieren oder organisiert werden. Rotbuch.

Lees, MK. 2020a. Salz: Die Würze, nicht die Suppe. https://direkteaktion.org/salz-die-wuerze-nicht-die-suppe/

Lees, MK. 2020b. Consider a salt-free meal. https://www.laborwaveradio.com/post/salting

Nappalos, Scott. 2021. Aussagekräftige Geschichten vom Malochen & Kämpfen. In: Richter, Asyr, Amhang. 2021. Spuren der Arbeit. Die Buchmacherei.

Organisation des jeunes travailleurs révolutionnaires. 1972. Der Aktivismus als höchstes Stadium der Entfremdung. http://www.kommunisierung.net/IMG/pdf/aktivismusentfremdungpdf.pdf

Renneberg, Peter. 2020. Anleitung zum Arbeitskampf. VSA Verlag.

Schneider, Michael. 1971. Gegen den linken Dogmatismus – Eine Alterskrankheit des Kommunismus. In Kursbuch 25/1971.

Unsichtbares Komitee. 2015. An unsere Freunde. Nautilus.

Wildcat. 2014/15. Jahrhundert der Mittelklasse? Ausgabe 97.

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