Kultur

Schluss mit der Abschiebehaft!

Einige Jubiläen sorgen für Prestige und führen zu einiger Selbstbeweihräucherung. Andere dagegen zeugen von einer langen Geschichte der Unterdrückung und von einem strukturellen Rassismus, der nur geringfügig in Frage gestellt wird.

Dies zeigt auch der Rückblick auf 100 Jahre Abschiebehaft in Deutschland. Dabei ist nicht nur die Tatsache, dass seit 100 Jahren Menschen systematisch in Haft genommen werden, ohne überhaupt ein Verbrechen begangen zu haben, ein Problem, sondern auch der gesellschaftliche Umgang damit. Ebenso ist die Tatsache ein Problem, dass systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen werden, die durch aktuelle Gesetzesänderungen noch verstärkt werden. Und dennoch erregt dieses Thema nur vereinzelt die gesellschaftliche Aufmerksamkeit.

Über das 100-jährige Jubiläum des Bauhauses gab es Dokumentationen, Radio-Features, Artikel-Serien. Es gab Interviews und Kommentare. Es wird eine Kultur hofiert, auf die wir uns gern beziehen. Daneben steht eine Kultur der systematischen Inhaftierung von Menschen, die kein Verbrechen begangen haben, sondern nach einer lebenswerten Zukunft suchten und suchen. Die bundesweite Kampagne „100 Jahre Abschiebehaft“ will dieser Schieflage etwas entgegensetzen und ruft in diesem Jahr verstärkt zur Solidarität mit den betroffenen Menschen auf.

Rassistische Tradition seit 1919

Die Wurzeln der Abschiebehaft fußen auf den Ausländergesetzen der Weimarer Republik, die wiederum aus dem Allgemeinen Preussischen Landrecht von 1794 resultieren. Diese bezogen sich vorrangig auf eine wirtschaftliche Verwertbarkeit der Arbeitskraft von Ausländer*innen, die anpassungswillig waren. Die Abschiebehaft wird jedoch erst seit der Weimarer Republik als systematisches Ordnungsinstrument angewendet. [1]zag online Wie aus dem Text „Geschichte der Abschiebehaft“ der Abschiebehaftgruppe Leipzig hervorgeht, ist sie „als staats- und ordnungspolitische Umsetzung des gesellschaftlichen Antisemitismus, vor allem gegen die Juden und Jüdinnen aus Osteuropa“ eingesetzt worden. [2]Ebd. „Bis heute sind die gesetzlichen Grundlagen zunehmend verfeinert und verschärft worden. Erweitert auf alle Ausländer*innen bildet sie den unveränderten Kern der seit den 20er Jahren praktizierten Abschiebehaft.“ [3]Ebd.

Die Situation verschlimmerte sich in den letzten Monaten durch eine Zementierung dieser rassistischen Tradition per Gesetz. Das am 17. April 2019 vom Bundeskabinett beschlossene und von Horst Seehofer forcierte „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“ ist dabei mit dem europäischem Recht nicht vereinbar. Darin wird ein struktureller Ausbau der Institutionen gefordert, der Menschen unschuldig in Haft bringt und eine Ausweitung der Inhaftierung auch auf ’normale‘ Haftanstalten regeln soll. Und das, obwohl der europäische Gerichtshof im Jahr 2014 urteilte, dass die Unterbringung in regulären Gefängnissen untersagt ist.

Außerdem wird es für Asylsuchende durch die Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetz zunehmend schwerer, in Deutschland eine Zukunft zu finden. Durch den Entzug von Sozialleistungen und die Verunsicherung von anerkannten Geflüchteten durch die Verlängerung der Frist für Widerrufsverfahren auf fünf Jahre wird eine systematische Verdrängung von Geflüchteten gesetzlich verankert, was unter anderem von ProAsyl stark kritisiert wurde. Zudem wurde eine neue Duldungsart eingeführt, die »Duldung für Personen mit ungeklärter Identität«, durch die betroffene Menschen stigmatisiert werden und ihnen der Weg in ein Bleiberecht erschwert wird. Laut Aussagen von ProAsyl wird auch die Arbeit mit geflüchteten Menschen stigmatisiert und kriminalisiert. [4]ProAsyl vom 17.04.2019

Die Abschiebehaft ist ein Ausdruck des struktureller Rassismus, dem wir täglich begegnen. Im Jahr 2018 hätten 57.035 Menschen abgeschoben werden sollen [5]Zeit online vom 17.04.2019. Nur die Hälfte dieser Menschen hat das Land verlassen. Dabei wird der häufigste Grund für gescheiterte Abschiebungen, laut Bundesregierung, im Untertauchen der Betroffenen gesehen.

Unschuldig in Abschiebehaft

Wer keinen gesicherten Aufenthaltsstatus hat, so das aktuelle Ausländergesetz, hat auch kein Recht, sich innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen zu bewegen und riskiert eine Inhaftierung. Der Alltag in Abschiebeknästen ist ein tabuisiertes Thema, welches die alltägliche Repression rassistischer Willkür verschleiert. Die Menschen sind nicht nur von einem Freiheitsentzug betroffen, sondern sind teilweise der Isolationshaft ausgesetzt, werden gefesselt, von ihren Familien getrennt und sind immer wieder auch von Polizeigewalt betroffen. Bei jedem dritten Fall einer Inhaftierung war diese jedoch rechtswidrig. Der Rechtsanwalt Peter Fahlbusch betont weiterhin, dass die Bundesregierung die Fälle der unrechtmäßigen Inhaftierung statistisch nicht erfasst und betont dabei den systemischen Charakter dieser Praktiken. [6]Ebd. Oft werden Menschen nur aufgrund der Vermutung inhaftiert, dass sie untertauchen könnten. So zum Beispiel, wenn sie bei einem unangemeldeten Besuch der Justiz nicht zugegen sind.

Abschieberealität

In Deutschland gibt es ungefähr 500 Abschiebehaftplätze. Abschiebeknäste, wie die in Büren, Eichstätt, München, Berlin und Dessau, sind gigantisch aufgeblasene institutionelle Organisationsrahmen, die in keinem Verhältnis zu der Sache stehen. In München überbieten sich die surrealen Ideen der Verfechter dieser Praktiken. Hier warten Menschen in Wohncontainern gleich in einem Flughafen-Hangar auf ihre Abschiebung. Diesen hat die Bundesregierung für monatliche 420.000 Euro angemietet. Die Unterkunft bietet Platz für ungefähr zehn Personen.

Es sollen weitere Plätze und Institutionen dazukommen. Die zunehmende Zahl an Plätzen in Abschiebegefängnissen bedeutet aber nicht im gleichen Maße auch mehr Abschiebungen. Laut der Bundesregierung wurden zwischen 2015 und 2017 mehr als doppelt so viele Menschen inhaftiert, die Zahl der Abschiebungen ist aber kaum gestiegen. Daher fordert die Kampagne „100 Jahre Abschiebehaft“ auch eine komplette Abschaffung dieser rechtswidrigen Praktiken. An diesem Wochenende wird daher in mehreren Städten mobilisiert.

Bundesweite Aktionstage “Abschiebehaft abschaffen!”

Vom 10.-12.05.2019 wird es bundesweite Aktionstage geben, hier sind einige Städte aufgelistet:

  • Erding – 10.05.: Film und Diskussionsveranstaltung (Flyer)
  • Mainz/Ingelheim – 11.05.: Demonstration – Start 13:00 Uhr Schillerplatz Mainz (Link | FB-Event)
  • Dessau  – 11.05.: Interkulturelles Straßenfest “Spielplätze statt Haftplätze!” (Link| FB-Event)
    Halle (Saale) – 11.05.: Kundgebung und gemeinsame Anreise nach Dessau (FB-Event)
  • Glückstadt – 11.05.: Fahrraddemo gegen Abschiebehaft, Sternfahrt aus SH, MV, Hamburg (Link | FB-Event)
  • Pforzheim – 11.05.: Demonstration “100 Jahre sind genug – Abschiebehaft abschaffen!” und gegen den zeitgleichen Aufmarsch der Partei ‘Die Rechte’ (Link | FB-Event)
  • Eichstätt – Demonstration gegen Abschiebehaft 11.05. (Link | FB-Event)
  • Hannover – Kundgebung am 11.05. (Link | Flyer)
  • Darmstadt – 12.05.: Knastbeben, Treffpunkt 13:30 Uhr am Bahnhof Darmstadt-Eberstadt (Link | FB-Event)
  • Darmstadt, 06.-17.05.: Ausstellung “Break the Isolation – Portraits aus dem Abschiebegefängnis” (FB-Event)
  • Büren (NRW) – 12.05.: Kundgebung und Kulturprogramm (Link | FB-Event)
  • Berlin-Schönefeld – 12.05.: Demonstration “Abschiebehaft abschaffen! Für eine (Un)Geordnete Rückkehr zur Menschenwürde und Solidarität!” (Link mit Aufruf in 4 Sprachen | Facebook | Twitter)

Großdemo in Büren und Paderborn (Infos hier)

31.08.2019: “100 Jahre Abschiebehaft” richtet sich an alle, die sich für Abschiebehaftgefangene einsetzen (wollen) und von einer Gesellschaft ohne Abschiebehaft träumen. 100 Jahre lang blieb dieser Traum verwehrt. Es wird also höchste Zeit, gemeinsam aktiv zu werden! Um diesen Traum zu realisieren, braucht es eure Unterstützung! Organisiert Aktionen, Demos, Ausstellungen, Vorträge, Gottesdienste – was euch gefällt.

 

Beitragsbilder: © Frank Gockel

JayParker

Share
Veröffentlicht von
JayParker

Recent Posts

Syndikalismus für das 21. Jahrhundert II

Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.

13. November 2024

Syndikalismus für das 21. Jahrhundert

Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben…

23. Oktober 2024

Aber es braucht viele.

Rezension zum Buch der Sanktionsfrei e.V. Gründerinnen über Bürgergeld, Armut und Reichtum.

9. Oktober 2024

Arbeiter:innen für die Zukunft des Planeten

Arbeits- und Klimakämpfe verbinden - zum neuen Buch von Simon Schaupp und dem Film Verkehrswendestadt…

2. Oktober 2024

Back to Agenda 2010?!?

Alter Chauvinismus oder die Kehrtwende in eine neue Fürsorglichkeit.

31. August 2024

Marxunterhaltung und linker Lesespaß

Rezension zu „Die kleinen Holzdiebe und das Rätsel des Juggernaut“

24. August 2024