Hintergrund

Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 3)

Grundlagen der Konstruktion: Das Gefüge transformatorischer Organisationen

Großes verändert sich nur in der Kulmination vieler kleiner Prozesse, die für die Neuordnung einer komplexen Gesellschaft zu durchlaufen sind. In diesem Sinne gibt es »keine Abkürzungen« auf dem Weg zu einer sozialeren Welt. [1]Vgl. dazu Jane McAlevey, No Shortcuts. Organizing for Power in the New Gilded Age, Oxford 2016. Der Titel der jüngst erschienenen deutschen Übersetzung (»Keine halbe Sachen«) ist leider etwas irreführend, da er weiter die Semantik bedient, begrenzte Forderungen seien abzulehnen. Dabei geht es doch vielmehr darum, ein nachhaltiges Fundament zu schaffen, auf dem »echte Macht« (McAlevey) aufbauen kann, also den zweiten oder dritten Schritt nicht vor dem ersten zu gehen. Halbe Sachen sind daher durchaus notwendig, um sich dem Ganzen strategisch anzunähern. Es erfordert, sich auf das long game einzulassen und die »Mühen der Berge« auf sich zu nehmen. [3]So bezeichnete Bertolt Brecht die Aufgaben, die vor dem revolutionären Durchbruch anfallen, in dessen Folge dann das Erstrittene zu bewahren und auszugestalten sei (»die Mühen der Ebene«). Siehe Bertolt Brecht, »Wahrnehmung« (1949), in: ders. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1993, S. 205. Der dafür nötige Atem und Weitblick gehen der radikalen Linken jedoch häufig ab. Frustriert über ihre isolierte Lage, will sie schon länger mit dem Kopf durch die Gebirgswand – und findet sich dadurch immer wieder im Jammertal wieder. [2]Das heißt nicht unbedingt, dass sie ungestüm im Sinne der berüchtigten ›revolutionären Ungeduld‹ sei, die freie Gesellschaft ohne Umwege erreichen zu wollen. Vielmehr haben wir es mit einem Unvermögen zu tun, die eigene Lage zu bestimmen, die Route abzustecken und die für sie notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Wieso dieses epistemische Unvermögen in der linken Mikropolitik wurzelt, darum geht es v.a. in diesem Teil der Serie. Multiple Gewerkschaften, die an den konkreten Interessen der unteren Klassen ansetzen, wären hingegen ein Weg aus jener Isolation. Wie im zweiten Teil dieser Serie dargelegt, [4]Siehe Holger Marcks, »Skizze eines konstruktiven Sozialismus (Teil 2). Multiple Gewerkschaften als Unterbau: Erste Bausteine der Gegenmacht«, auf: direkteaktion.org, 31. Okt. 2018 (online hier). lassen sich aus einer strategischen Interaktion mit der Realität, die auf Handlungsmacht abzielt, utopische Keimformen so nähren, dass sie auch tatsächlich Gegenmacht erlangen. Mehr Realismus kann insofern das emanzipatorische Bestreben der Utopie näherbringen als ein radikaler Utopismus. Diese Dialektik der realutopischen Sozialtechnik ist, wie wir von Camus lernen, eine Frage des richtigen Maßes. Es gilt, mit der Wirklichkeit so zu arbeiten, dass sich am realistisch Machbaren eine breite Kollektivität entfaltet – um mit dieser Kollektivität die Situation »abzutragen«, [5]Siehe Teil 1, Anm. 5. an denen die »praktischen Realisierungsmöglichkeiten« der Utopie ihre Grenzen finden. [6]Siehe Teil 2, Anm. 49.

Diese Grenzen sind nicht einfach gesetzt durch objektive Bedingungen, sondern, das lehrt uns wiederum Schapiro, liegen auch in der Unzulänglichkeit der Emanzipationssubjekte selbst begründet. [7]Zur Nachvollziehbarkeit dieses Gedankens stelle man sich einen eingerosteten Büroarbeiter vor, der sich in einer exzessiven Tenniseinheit versucht. Dabei zieht er sich Schmerzen im Rücken zu, da ihm Leistungen abverlangt werden, denen er aufgrund seines Trainingszustands nicht gewachsen ist. »Die geforderte Leistung (Anspruch) kann durch die vorhandene Muskulatur (Wirklichkeit) nicht erbracht werden« (vgl. hier). Eben deswegen ist eine Mesopolitik erforderlich, die auf Handlungsmacht abzielt. Im Versuch, diese über Alltagspraxen entlang sozialer Widersprüche herzustellen, kann nämlich auch das Bewusstsein über die eigenen Widersprüche wachsen. Und diese verlangen in Konsequenz eine realistische Anpassung der Mikropolitik (also der Gestaltung der Keimform) und damit der Makropolitik (also der utopischen Konstruktion, die durch die Keimform vorgezeichnet wird). Ein solch praktischer Materialismus fehlt der radikalen Linken weitestgehend. Sie wünscht sich zwar Handlungsmacht – und unterstreicht dies mit Bekenntnissen zur Klassenpolitik –, dieses Desiderat bleibt aber illusorisch, weil sie alles in utopischen Idealen vollzogen sehen will, die praktisch nicht mit der Realität der unteren Klassen kompatibel sind. So soll die Bewegung organisch, ja geradezu naturwüchsig reifen, völlig horizontal wie auch inklusiv funktionieren und keinen Leistungs- oder Optimierungszwängen unterliegen. Zugleich soll sie innovative Beziehungsweisen und ein höheres Bewusstsein hervorbringen, subalterne Subjekte erheben und regressive Elemente exkludieren sowie die richtigen Strategien finden, um Herrschaft effektiv zu überwinden.

Es ist eine eierlegende Wollmilchsau, als die sich die radikale Linke imaginiert: eine Schimäre aus theoretischen Parametern, die, wie zu zeigen ist, praktisch unvereinbar sind. Allenfalls ließe sich zwischen ihnen vermitteln. Doch statt das mittlere Maß zu suchen, will jene Linke alles in vollem Maße – und geht so leer aus. Denn dadurch, dass ihre Vermittlungsformen selbst widersprüchlich sind, also nicht mal zwischen ihren eigenen Parametern vermitteln, sind sie auch nach außen nicht vermittelbar. Diese Formen missachten elementare Gesetze der sozialen Interaktion und sind der Realität entrückt. Sinnbildlich dafür mag der überstrapazierte Leitspruch der ZapatistInnen sein, die Schwerkraft besiegen zu wollen. [8]»Jemand sagte, gegen den Neoliberalismus zu sein, ist wie gegen das Gesetz der Schwerkraft zu sein. Nun denn: Nieder mit dem Gesetz der Schwerkraft!« (Subcomandante Marcos). Dieser mag als Negation der angeblichen Alternativlosigkeit Sinn ergeben, nicht aber als Negation allgemeiner Gesetze der Vergesellschaftung, denen sich jede inter- und transpersonale Vermittlungsform beugen muss. [9]Weder ist der Mensch beliebig formbar, noch sind die Möglichkeiten zwischenmenschlicher (interpersonaler) und institutioneller (transpersonaler) Beziehungen unendlich. Zum einen unterliegt intersubjektive Verständigung stets psychologischen Differenzen, die widersprüchliche Wertungen der Beziehungen bedingen. Zum anderen enthält jeder Beziehungskomplex immanente Widersprüche, die neben ihren Vorteilen auch Nachteile bereithält. Im realutopischen Sinne kann ein »fragendes Voranschreiten« daher nur meinen, [10]So der zapatistische Slogan der ersten Stunde (»Fragend schreiten wir voran«), der ebenso überstrapaziert wird, um Widersprüche zwischen Anspruch und Wirklichkeit als Probleme zu rationalisieren, die sich schon irgendwie lösen werden. diese Mechanismen in (mesopolitischen) Versuchen der Massenorganisierung abzutasten und entsprechend eine realistische Anpassung von (mikropolitischen) Beziehungsweisen und (makropolitischen) Institutionen vorzunehmen. Im Folgenden wird nun erörtert, was eine solche Heuristik für die Mikropolitik, also das konkrete Gefüge transformatorischer Organisationen bedeutet.

Auf Sand gebaut: Die Entzauberung der unverstandenen Momente

Zwangsläufig muss so eine Reflexion von Praxiserfahrungen zu einer Kritik an der vorherrschenden Mikropolitik der radikalen Linken geraten. Denn in dieser werden die gewünschten Beziehungsweisen eben nicht daran gemessen, ob sie Handlungsmacht ermöglichen. Vielmehr gelten jene Beziehungsweisen, die als Keime der Utopie identifiziert wurden, selbst als Maßstab, an dem sich linke Praxis messen muss. Handlungsmacht ist zwar – ebenso wie Gegenmacht – wünschenswert, aber nur, wenn sie aus genau den Beziehungsweisen erwächst, die den eigenen Normen sozialer Interaktion entsprechen. Vielen gilt heute gerade das als Essenz des Radikalseins, lässt das doch ein Selbstverständnis als Garant der Utopie zu, die man nicht für machtpolitische Versuchungen zu verwässern bereit ist. [11]Insbes. in Deutschland ist diese Vorstellung durch die Autonomenbewegung dominant in der radikalen Linken geworden. Kern der autonom gefärbten radikalen Identität ist es ja gerade, sich selbst als Ausgangspunkt der revolutionären Veränderung zu definieren, also sein eigenes Leben in gegenkulturelle Freiräume einzufügen, deren Normen als emanzipatorisch gelten. Entsprechend galt lange als besonders radikal bzw. revolutionär derjenige, der auf größtmöglicher Distanz zu bürgerlichen Lebensformen war und maximale Freiraumpolitik betrieb. Als Kern der radikalen Identität, zu dem sie geworden ist, bildet die Mikropolitik in der linken Psyche den Ausgangspunkt aller praktischer Überlegungen, gilt die Implementierung durch und durch antiautoritärer Prinzipien in den eigenen Zusammenhängen doch als Vorbedingung aller weiteren Politik. Mesopolitische Zielstellungen wie erfolgreiche Massenorganisierung haben sich diesen Prinzipien unbedingt unterzuordnen. Denn als Leistungsanforderung, die diese darstellt, werden sie als Ausdruck der negierten Machtpolitik gesehen – und damit als Quelle der Verunreinigung für das radikale Projekt.

Wir werden noch darauf eingehen, wie es zu dieser kognitiven Verschiebung in der Linken kam, die ja durchaus mal erfolgsorientiert gearbeitet hatte. Hier soll es aber erstmal darum gehen, welche Probleme aus so einer radikalen Identität resultieren. Und dies betrifft zunächst die Selbstbezüglichkeit der Mikropolitik, die durch ihre Verabsolutierung keine Reflexionsinstanz mehr hat. Zwar soll sich in ihr die Utopie widerspiegeln (und andersrum), womit vermeintlich ein reflexives Moment vorliegt, doch werden Keimform und Utopie zumeist synchron gedacht. Das heißt, sie ziehen ihre Prinzipien aus ein- und derselben Quelle: der Negation sozialer Asymmetrien, wie man sie in der Realität vorfindet (z.B. Hierarchien oder Ungleichheiten) und denen man horizontale bzw. ausgleichende Vermittlungsformen als »gelebte Utopien« entgegenstellt. [12]Vgl. Teil 2, Anm. 18. Es ist ja gerade diese Synchronisierung, das keimförmige Handeln nach utopischen Prinzipien, die als besonders radikal, weil konsequent gilt. [13]In dieser Logik gilt es, sich von allen Zwängen fernzuhalten, weil radikale Subjekte sonst kooptiert oder gar korrumpiert würden und das Projekt schließlich die bestehenden Machtverhältnisse reproduzieren würde. Dabei steht die eigene Bewegung selbst immer unter einem »Totalisierungsverdacht«, über den man sich nur erhaben machen kann, indem man die eigene Politik auf mikropolitische Subversionen beschränkt (vgl. Adamczak, Beziehungsweise, S. 233) und den Aufbau von Strukturen verweigert, mit denen Leistungszwänge einhergehen. Jedenfalls handelt es sich dabei tatsächlich um ein rekursives Denken, das um sich selbst kreist. Denn durch die Unterordnung oder gar Ablehnung von mesopolitischen Zielstellungen gibt es kein pragmatisches Moment, welches das Selbstgefallen der utopischen Prinzipien irritieren könnte. Die Mikropolitik (als absolute Spiegelung dieser Prinzipien) verkommt so zum Selbstzweck.

Gewiss, man könnte darin auch eine löbliche Haltung erkennen, eine nämlich, die Erfolg nicht um jeden Preis möchte und solcherlei Machtpolitik ablehnt, wo der Zweck die Mittel heiligt – und sich dadurch nur allzu oft korrumpiert. Dieser Impuls ist verständlich. Doch leider hat die Linke das Problem einfach invertiert, wenn sie nun die Mittel heiligspricht. Denn genau das bedeutet die Synchronisierung der Mikropolitik mit dem Zweck der Emanzipation. Es findet ein identitärer Verschluss statt, bei dem die Mittel als absolut in der Kognition gesetzt werden, womit sie von den Zielen entkoppelt werden, an denen konkrete Praktiken eigentlich zu messen sind. Durch diese Auflösung der Achse von Mittel – Ziel – Zweck sind die mikropolitischen Prinzipien, [14]Siehe Teil 2, Anm. 3. die ja utopische sind, quasi konkurrenzlos, werden also nicht mehr mit realistischen Maßgaben (wie etwa Leistungsfähigkeit oder Erfolg) konfrontiert. Und eben jener Verschluss hat erhebliche Auswirkungen auf die Bearbeitung der Realität, die so keine strategische, sondern eine idealistische ist. Es ist ja gerade kennzeichnend für die Neue Linke ab 1968, die prägend für die Gegenwartslinke war, dass sie den politischen Fokus auf Subkulturen verschob, in denen das emanzipatorische Bedürfnis unmittelbar und subjektiv befriedigt werden sollte: durch (ideale) interpersonale Beziehungen, in denen autoritäre Zwänge praktisch-alltäglich negiert werden.

Es lohnt sich hier, bei Jürgen Habermas nachzuschlagen, der bereits 1969 diesen kulturrevolutionären Ansatz für seine »zwanghafte Abwehr von Kompetenzforderungen und Leistungsorientierungen« kritisierte, die der Zurückweisung von »Leistungsimperativen« bzw. der »autoritären Leistungsgesellschaft« folge. [15]Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a.M. 1969, S. 16. Siehe dazu auch Anm. 13. Angesichts der daraus aufkeimenden politischen »Selbstbefriedigung«, bei der »Kriterien des Erfolgs zweckrationalen Handelns« nicht mehr galten, [16]Ebd., S. 14. sollte es nicht verwundern, dass die radikale Linke kaum mehr in die gesellschaftlichen Entwicklungen eingreifen kann. Denn wo sie sich jeglicher Rationalität verweigert, die sich auf die Zwänge der realen Machtverhältnisse einlässt, kann sie eben keine Handlungs- oder Gegenmacht entfalten. Schließlich stellt der Aufbau solcher Macht, auch wenn sie emanzipatorisch verfasst sein soll, eine Bewegung vor vielschichtige Leistungs- und Kompetenzanforderungen. [17]Es ließe sich sogar sagen, dass keine Politik voraussetzungsreicher ist, als eine egalitär-sozialistische Transformationspolitik. Schließlich hat sie nicht einfach die ›kleine‹ Kunst zu beherrschen, sich die politischen Regeln der spezifischen Ordnung zunutze zu machen, sondern auch die ›hohe‹ Kunst, mit den sozialen Regeln allgemeinen Ordnungswandels zu arbeiten, zumal auch noch in einer besonders umwälzenden Weise. Und dies ist umso herausfordernder, als dass es sich der primären Wahrnehmung entzieht und eine Revolutionstheorie verlangt, die durch transhistorische und kontextübergreifende Erfahrungen empirisch fundiert ist. Wir werden auf das Problem spezifischer und allgemeiner Ordnungskritik noch in Teil 4 der Serie eingehen. Hier geht es mitunter um die Frage, wie das Gefüge einer Organisation (nicht) gestaltet sein muss, damit sie die dafür nötige reflexive Praxistheorie epistemisch bewältigen und praktisch anwenden kann. Es erfordert Strukturen, die anschluss-, aufnahme- und durchsetzungsfähig genug sind, um die Interessen einiger gegen den Willen mancher geltend zu machen. Und das zwingt wiederum dazu, solchem Wissen Geltung zu verleihen, das versteht, wie sich Menschen zur Organisierung bewegen lassen und wie sich deren individuellen Differenzen kollektiven Zielen unterordnen lassen – um dieses effektiv für eine möglichst selbstbestimmte Bearbeitung der Realität zu nutzen.

Wo sich die Linke diesen immanenten Zwängen verweigert, ist sie zum reflexiven, strategischen Denken nicht in der Lage. Sie übt vielmehr ein »motiviertes Denken« aus, [18]So wird ein kognitiver Mechanismus bezeichnet, bei dem die Wahrnehmung und Beurteilung von Informationen durch Erwartungen und Wünsche angeleitet werden. Vgl. Ziva Kunda, »The Case for Motivated Reasoning«, in: Psychological Bulletin, Nr. 3, Jg. 108 (1990), S. 480–498. Dieser Mechanismus ist nur allzu menschlich, weswegen er gerade im strategischen Denken zu transzendieren ist. Dabei gilt es nicht nur zu antizipieren, wie andere (sowohl Ziel- als auch Gegnergruppen) aufgrund ihrer ideologischen Dispositionen auf bestimmte Botschaften und Praxen reagieren, sondern eben auch darum, eigene Gewissheiten zu hinterfragen, die (kommunikativen) Handlungen im Wege stehen, mit denen sich jene anderen doch bewegen ließen. in dem die Gedankenarbeit darauf verwendet wird, selbstverständlich gemachte, also zu Ideologie geronnene Prinzipien zu rationalisieren – [19]Vgl. Teil 1, Anm. 16. Ein typischer Rationalisierungsmechanismus ist die Externalisierung von Kritik: An dem, was in den eigenen Zusammenhängen nicht klappt, ist die Umwelt schuld, die keine Einsicht in die richtigen Normen haben will und dadurch Kontextbedingungen reproduziert, die eine freie Entfaltung jener Zusammenhänge behindern. Entsprechend sind linke Analysen ständig auf der Suche nach Repressions- und Verblendungszusammenhängen, welche den Menschen vom richtigen Bewusstsein abhielten, während die Agitationsbemühungen daraus ausgerichtet sind, dieses ›raus aus den Köpfen‹ zu bringen oder jenes zu ›zerschlagen‹. Wie sehr die eigenen Normen aus der Welt gefallen sind, ja vielleicht sogar emanzipatorische Prozesse verhindern, steht selten zur Debatte. statt die Prinzipien dahingehend zu überprüfen, wie sie sich in der Realität bewähren, und sie für die Erlangung politischer Ziele (utopieverträglich) zu relativieren. Politisch-psychologisch betrachtet, handelt es sich bei dieser Rationalität, die so tut, als fände die soziale Interaktion bereits unter utopischen Bedingungen statt, um eine »Beeinträchtigung von Aneignungsvollzügen«. [20]Jaeggi, Entfremdung, S. 55. Siehe auch Teil 1, Anm. 46. Denn ohne eine Beziehung zu der Welt, in der diese als Voraussetzung des eigenen Handelns angenommen wird, ist das Vermögen gestört, »sich die Welt zu Eigen zu machen« und »das eigene Leben [zu] gestalten«. [21]Ebd., S. 58. Man beugt sich nicht ihren Zwängen, um die Kapazitäten ihrer Transformation aufzubauen, sondern ignoriert sie – womit man sich und die Welt ihnen umso mehr ausliefert. Die Rationalisierung dieser Entfremdung findet ihren Ausdruck in einem Transformationsverständnis, das nominell zwar konstruktiv ist, weil es den Aufbau neuer Beziehungsweisen betont. Diese stehen selbst aber in keiner Beziehung zur Realität, die ja die Bedingungen für deren Aufbau vorgibt – und sind somit auf Sand gebaut.

Das Transformationsverständnis ist daher ein magisches, in dem Handlungsmacht als Mysterium daherkommt. [22]Siehe dazu auch Teil 2, Anm. 37. Sie soll aus der Wirkungsmacht idealistischer Prinzipien folgen, die in Erzählungen des »Schöner wär’s, wenn’s schöner wär« beschworen werden – auf dass die Welt sie sich als Normen zu Eigen mache. [23]Siehe Kolja Möller, »Die Politik der Sache selbst. Revolutionäre Realpolitik statt Märchenstunde«, auf: oxiblog.de, 21. Apr. 2018 (online hier). Und wenn der Berg doch nicht zur Prophetin kommt, dann stehen die Sterne eben nicht günstig! Das ist in etwa die Semantik, die viele radikale Linke, ob nun marxistischen oder anarchistischen Selbstverständnisses, zum Ausdruck bringen: Sie neigen dazu, die mangelnde Wirkungsmacht linker Prinzipien – und damit das Ausbleiben von Handlungsmacht – nur mit der Vorstellung rationalisieren zu können, dass die Bedingungen für sie nicht günstig seien oder nicht genug für ihre Vermittlung getan worden sei. [24]Hier zeigt sich auch eine strukturkonservative Mentalität am Wirken, die in allen politischen Milieus – mehr oder weniger –, vorhanden ist, weil sie nicht ideologiegebunden, sondern schlichtweg menschlich ist. Radikale Linke höhnen zwar besonders gerne über z.B. die SPD, weil sie stetig an Zuspruch verliert und sich kaum einen anderen Reim darauf machen kann, als dass sie ›den Wähler nicht erreicht‹ habe. Zugleich aber ist man selbst nicht bereit, radikale Brüche mit den eigenen Gepflogenheiten zu vollziehen, die man – ungeachtet der Tatsache, noch viel weniger Zuspruch als die Sozialdemokratie zu erhalten – ohne Abstriche in die Köpfe der Massen bringen will. Menschen neigen eben dazu, sich die Zusammenhänge schönzureden, in denen sie engagiert sind. Wo Herzblut und Lebenszeit in etwas gesteckt werden, hängt sich die Identität im besonderen Maße auf, und um sie stabil zu halten, werden Widersprüche häufig ausgeblendet und Missstände mit Apologetik bedacht. Gerade deswegen funktionieren Techniken der Kooptation ja so gut: Indem man Kritikerinnen und Widersacher in bestimmte Strukturen einbindet, passen sich diese häufig deren Logik an, um die kognitive Dissonanz aufzulösen, die aus der Identifikation mit der neuen Position und den alten Vorbehalten gegenüber dieser resultiert. Insofern ist die antiautoritäre Sorge, Menschen würden z.B. in einem Funktionärsapparat befangen werden, durchaus nachvollziehbar. Andererseits bedeutet das aber auch, dass Organisationen, die das Problem zu umgehen versuchen, indem sie allein auf Basisaktivismus setzen, den Strukturkonservatismus noch verstärken. Während nämlich vertikal differenzierte Zusammenhänge zumindest eine Basis haben, die aufgrund ihres relativen Abstands als kritischer Stachel der befangenen Funktionäre wirken kann, ist in solchen horizontalen Gruppen quasi die gesamte Basis befangen und neigt dazu, sich ihr Engagement schönzureden. Ob dies nun in materialistischer oder spontaneistischer Terminologie daherkommt, in beiden Varianten gibt es »unverstandene Momente« der Emanzipation, die einer konstruktiven Bearbeitung der Welt im Wege stehen. [25]Siehe dazu den Kasten »Die unverstandenen Momente und der Heilige Geist«. Insbesondere das Problem, wie Wirkungs- und Handlungsmacht zusammenhängen, erscheint als black box, die durch den identitären Verschluss – also die Verabsolutierung mikropolitischer Prinzipien – nicht geöffnet werden kann. Es ist dieser Bereich, der in der linken Theorie in die Ecke der Mysterien verbannt wurde und nach Entzauberung verlangt.

Die unverstandenen Momente und der Heilige Geist

Bini Adamczak hat klugerweise auf das Problem unverstandener Momente in Emanzipationsdiskursen aufmerksam gemacht (siehe Teil 2, Anm. 37). Allerdings verlangt dieser Hinweis danach, vom Kopf auf die Füße gestellt zu werden. Denn so richtig es ist, dass Probleme der Revolution eine Sprache benötigen, um intellektuell verarbeitet werden zu können (d.h. intelligibel zu sein), so verrutscht scheint es, diesen Gedanken auf »das Begehren nach solidarischen Beziehungsweisen« zu richten, das sich laut Adamczak in der Geschichte nicht ausreichend artikulieren konnte, um Revolutionen zu einem happy end zu verhelfen. Abgesehen davon, dass nach idealen – umfassenden, unteilbaren, queeren, ausgleichenden usw. – Solidarbeziehungen zu verlangen (siehe Adamczak, Beziehungsweise, S. 284–285), keine Problemdifferenzierung darstellt, sondern eine normative Versprechung, steht die Essentialisierung jenes Begehrens, die die dabei vorgenommen wird, für eine erneute Externalisierung der Kritik.

Indem das Begehren zur Essenz der Revolution erklärt wird, entziehen sich nämlich Lebensformen, welche ihre Normen zu verkörpern meinen, weiterhin der Reflexion eben jener Normen und werden ihre inneren Differenzen (ja, auch Solidarbeziehungen beinhalten Probleme, die sich über die Solidarität erheben können) nivelliert. Der Fokus der Kritik richtet sich dann auf externe Bedingungen, welche die Lebensform an der Entfaltung hindern, einschließlich des Menschen, der sich dem Ideal der Lebensform anzuvertrauen hat, wenn er auf einen glücklichen Ausgang von Revolutionen hoffen möchte. Diese Semantik, in der das Begehren, das sich artikulieren soll, einerseits menschliche Züge erhält und zum anderen purifiziert wird, ist der vom Heiligen Geist nicht unähnlich.

Mit dieser religiösen bzw. magischen Projektion lässt sich zwar eine spannende Theologie der Revolution begründen, aber keine Praxistheorie, welche die Widrigkeiten transformatorischer Prozesse heuristisch auslotet. Das Begehren ist so gesehen ein Platzhalter für die nach wie vor unverstandenen Momente der Emanzipation: die immanenten Probleme der Beziehungsweisen, mit denen Transformation vollzogen werden soll. In diesem Bereich liegen nicht nur die Antworten darauf, warum (vermeintlich) emanzipatorische Beziehungsweisen nicht aufnahme-, leistungs- und durchsetzungsfähig sind, sondern auch darauf, warum ihnen die epistemische Kapazität fehlt, intelligible Probleme der Revolution angemessen in Theorie und Praxis zu verarbeiten.

Die Machtlosigkeit absoluter Prinzipien: Warum weniger oftmals mehr ist

Im Grunde steht die Linke sich selbst im Weg. Denn im Zentrum des unverstandenen Bereichs liegt das linke Subjekt selbst, das in seiner Rolle als (unzulänglicher) Emanzipationsakteur untertheoretisiert ist, ja, dem ganz besonders mit der von Habermas attestierten »Theoriefeindschaft« begegnet wird. [26]Habermas, Protestbewegung, S. 16. Wo Erfolgskriterien aus der eigenen Rationalität verbannt sind, gibt es eben kein reflexives Moment, an dem sich das Selbst in Form seiner Mikropolitik überhaupt verstehen lernen könnte. Dann baut die Mikropolitik allein auf Affekten der Verweigerung auf und verheddert sich in Widersprüchen. Erfolgskriterien sind nun mal wichtig, um zu überprüfen, ob die Prinzipien tatsächlich dem Zweck der Emanzipation dienlich sind. Ohne sie sind keine »interne Kritik« des Selbst möglich – geschweige eine »immanente Kritik«. [27]Interne Kritik meint, eine Lebensform (oder hier: eine Keimform) anhand ihres normativen Anspruchs zu messen, diesen also mit ihren tatsächlichen Wirkungen abzugleichen – und aus den dabei auftretenden Widersprüchen Konsequenzen zu ziehen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass man diesen Maßstab auch in die Hand nimmt, was in der Mikropolitik der Leistungsverweigerung ja ausgeschlossen ist. Immanente Kritik geht darüber hinaus und identifiziert Spannungsfelder innerhalb einer Formation, die diese »über sich selbst hinaustreiben« (Jaeggi, Kritik, S. 287). Es geht dabei also um die immanenten Probleme von Organisationspraxen, die selbst normative Fakten schaffen, im Guten wie im Schlechten. Immanente Kritik fragt also nach den Eigenschaften, aufgrund derer ein Zusammenhang im Umgang mit Problemen andere bzw. weitere Probleme schafft, die letztlich seine Eigenschaften (re-)konfigurieren. Es ist dann einerlei, ob die deduktiv aufgestellten Prinzipien bei den adressierten Massen Resonanz erfahren, ja mit deren Klassenrealität kompatibel sind. Solche empirischen Erfahrungen, an der sich die Zwänge der Realität wie auch die eigenen Widersprüche abzeichnen, zählen nicht; sie werden daher nicht auf die Prinzipien zurückgeführt, um sie induktiv anzupassen. Und damit ist denn auch der Weg verbaut, das Selbst in ein Verhältnis zur Welt zu setzen, in dem man diese zielgerichtet, also strategisch bearbeitet, was ja die Arbeit mit den Zwängen voraussetzt.

Eine reflexive Praxistheorie, wie sie Schapiro andeutete, richtet sich also gegen die Entfremdung, die sich in der Ausblendung eigener Unzulänglichkeiten spiegelt. Sie zielt nicht auf Abstriche in der Selbstbestimmung, sondern auf deren Erweiterung. Selbstbestimmung ist nämlich niemals absolut, sondern (doppelt) relativ: Sie endet theoretisch dort, wo die Zwänge, die man (zunächst) nicht ändern kann, beginnen; und sie ist praktisch dann am größten, wenn die eigene agency die strukturellen Spielräume voll ausfüllt, die ja immer auch durch die agency anderer Akteure beschnitten werden. [28]Zum Begriff siehe Teil 2, Anm. 9. Es liegt jedenfalls nichts Selbstbestimmtes darin, seine Linie ungeachtet aller »unbeabsichtigten (Neben-)Folgen« durchzuziehen, [29]Siehe Teil 2, Anm. 52. die aus den Interaktionen mit Gegnern, aber auch der angenommenen Bezugsgruppe hervorgehen. Mit solch einer »Gesinnungsethik« setzt man sich schachmatt, [30]Siehe Teil 2, Anm. 54. noch bevor das Spiel von Herrschaft und Widerstand so richtig begonnen hat. Anders gesagt: Selbstbestimmt agieren kann nur die Schachspielerin, welche nicht nur die Spielregeln beherrscht, sondern auch das Verhalten anderer Spieler einzuschätzen vermag. [31]Siehe dazu den Kasten »Die Spielregeln für die Veränderung von Spielregeln«. Insofern setzt Selbstbestimmung das größtmögliche Wissen darüber voraus, wie die Umwelt – unter gegebenen Bedingungen – auf die eigenen Praxen reagiert, und die Fähigkeit, diese verstandenen Momente in die eigenen Praxiserwägungen zu integrieren.

Die Spielregeln für die Veränderung von Spielregeln

Vordergründig lautet die Aufgabe von Transformationspolitik natürlich: »Wie lassen sich die Beziehungen der Figuren zueinander neu konstruieren, wodurch sich sowohl das Spiel als auch die Figuren transformieren?« (Adamczak, Beziehungsweise, S. 238). Aber auch diese Aufgabe vollzieht sich unter Regeln, die zwar nicht »vermachtet und verdinglicht« (ebd.), aber – weil sie allen sozialen Interaktionen immanent sind – umso zwingender sind. Wer z.B. unilateral die Funktionen der Figuren und ihre Beziehung neudefiniert, wird wahrscheinlich alleine spielen müssen; und wer die anderen eigenmächtig am gewohnten Spiel hindert, läuft wohl sogar Gefahr, die Hucke voll zu kriegen.

Diese überpolitischen Regeln zu verstehen, unter denen kontextunabhängig Vergesellschaftung und Vermittlung stattfindet, ist die eigentliche, hintergründige Kunst der Transformationspolitik. Wie aber das spezifische Selbst, welches das Spiel und seine Figuren transformieren will, überhaupt in eine Beziehung zu den anderen SpielerInnen tritt, in der man in der Lage wäre, alternative Beziehungsweisen erfolgreich vermitteln zu können, gehört allgemein immer noch zu den unverstandenen Momenten linker Emanzipationsdiskurse, die sich entsprechenden Einsichten aus der Soziologie und Psychologie verschließen. Vgl. dazu auch Anm. 25.

Eine solche »Verantwortungsethik«, die (voraussehbare) Reaktionen auch als Folge der eigenen Praxis versteht, für sie also Verantwortung übernimmt, [32]Siehe Teil 2, Anm. 54. Genau genommen ist das sogar die Essenz eines nicht-entfremdeten Zustands: die (kritische) Identifikation mit den eigenen Handlungsfolgen in einem gegebenen Kontext. ist der Schlüssel zum strategischen Denken. Im Gegensatz zur gesinnungsethischen Rationalität, Misserfolge einer nicht begreifen wollenden Welt anzukreiden, [33]Nicht zu Unrecht verweist Weber auf die quasi-religiöse Denkart der Gesinnungsethik: »der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim«; Weber, Politik, S. 82. reflektiert sie heuristisch, ob man bei der Annäherung an ein Problem – das ja stets in eine komplexe Realität eingebettet ist, die von Interaktionsdynamiken geprägt ist – die »durchschnittlichen Defekte des Menschen« nicht hinreichend berücksichtigt hat. [34]Ebd. Es nützt eben auch die gutgemeinteste Praxis nichts, wenn ihre Folgen keine guten sind bzw. am Problem nichts ändern. Und diese Folgen ergeben sich nun mal aus den (Nicht-)Reaktionen anderer auf die eigene Praxis, womit sowohl die von Gegnern als auch die des Publikums, das man eigentlich mobilisieren will, gemeint sind. Kolja Möller hat hierzu passend bereits in der Oxi festgestellt, dass der Linken eine »Politik der Sache selbst« guttun würde. Darunter ist, in Anlehnung an Machiavelli, die Methode zu verstehen, eine gegebene Situation einzuordnen, indem man die Verfasstheit und die Einflüsse der verschiedenen Akteure in dem betreffenden Problemfeld versachlicht – um anhand dieser Sachfaktoren dann »Handlungsoptionen zu bestimmen, Handlungsfehler zu identifizieren und neue Wege auszuloten«. [35]Möller, »Politik der Sache«.

Bei dieser Methode nähert man sich Problemen nicht auf eine prinzipielle Weise, sondern orientiert sich in der jeweiligen Gemengelage an den Widersprüchen, um durch Versuch und Irrtum einen handlungsmächtigen Ansatz zu finden. Freilich kann so eine Heuristik aus emanzipatorischer Perspektive nicht im Sinne des Machiavellismus gedacht sein, dessen Zweck allein darin besteht, Herrschaft zu erlangen oder zu erhalten, und der keine Prinzipien kennt. Die am emanzipatorischen Zweck ausgerichteten Prinzipien haben ebenso also Orientierung zu dienen, sind aber zu den Erfordernissen für Handlungsmacht in Relation zu setzen. Das bedeutet keineswegs, die Prinzipien bloß für Erfolge zu opfern und den radikalen Kern der Utopie aufzugeben. Vielmehr kommt der Radikalismus in seiner Anpassung an sachliche Zwänge überhaupt erst zu sich selbst. Denn eine Politik, die nicht kompatibel mit den Menschen ist, die es für eine Neuordnung der Verhältnisse nun mal bedarf, kann gar nicht radikal sein. Sie ist schlichtweg zwecklos. Wie der Rätekommunist Sam Moss bereits in den 1930ern feststellte, sind die Massen im fortgeschrittenen Kapitalismus vor allem an der Erhaltung oder Verbesserung ihrer Lebensbedingungen interessiert. [36]Sam Moss, »On the Impotence of Revolutionary Groups«, in: Living Marxism, Nr. 7 (1939), S. 216–220. Akteure, die ihre Prinzipien nicht relativieren wollen, um erfolgreich entlang dieser Interessen zu mobilisieren, sind zur Machtlosigkeit verdammt.

Vorausgesetzt, dass dieses menschliche Problem in der Natur der revolutionären Sache liegt, dann ist das radikale Maximum der relative Utopiegehalt, der sich realistisch in Massenorganisierungen einbauen lässt. Akteure hingegen, die utopische Prinzipien absolut setzen, sind zu transformativer Interaktion nicht in der Lage, so dass ihr Radikalismus in Selbstgefälligkeit umschlägt. Damit sind zwei Abhänge angezeigt, zwischen denen die realutopische Sozialtechnik manövrieren muss: Eine Mesopolitik, mit der sich Massen interessieren lassen (Handlungsmacht), schafft Beschränkungen für die Makropolitik, die sich zur Utopie erheben soll (Gegenmacht); und zugleich vermag eine Mikropolitik, die zu sehr utopieschwanger ist, keine Massen einzubinden, um die Mesopolitik hinreichend interessant zu machen (Wirkungsmacht). Für eine kritische Keimformtheorie ist das wesentlich, weil es realutopische Organisationen vor epistemische Leistungsanforderungen stellt. Denn um in dieser kurvenreichen Gratwanderung die Passgenauigkeit zwischen sachlichen Zwängen und utopischem Gehalt herzustellen, müssen sie eine komplexe Gemengelage analysieren, die Wirkung von Beziehungsweisen qualifizieren und strategische Folgen antizipieren können. Für so eine (kollektive) Heuristik bedarf es Mechanismen, durch die entsprechende Kompetenzen und Erfahrungen in der Organisation zur Geltung kommen.

Genau hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Weil die radikale Linke sich in einem identitären Verschluss befindet, entziehen sich ihre mikropolitischen Prinzipien einer kritischen Reflexion. [37]Zur Erinnerung: Da sich linke Mikropolitik bloß als Spiegelung der utopischen Prinzipien begreift – und vice versa –, gibt es keine leistungsorientierte Reflexionsinstanz (z.B. das mesopolitische Ziel einer Massenorganisierung), die ihre Untauglichkeit, Wirkungsmacht zu entfalten, als Problem von Gewicht qualifizieren würde. Und diese selbstgefälligen Prinzipien, in denen sich die vermeintliche Utopie widerspiegelt, äußern sich vor allem in Beziehungsweisen, die antiautoritär wirken sollen. An diesem Impuls ist erstmal nichts falsch – in der Linken ab 1968 nahm er aber geradezu infantile Ausmaße an. Nun ging es nicht mehr nur darum, möglichst hierarchiearm zu arbeiten, sondern darum, jeglicher Autorität aus Prinzip zu trotzen. Damit jedoch erfuhren auch Kompetenz und Erfahrung eine Abwertung. Denn in dem Maße, wie nun den TrägerInnen solchen Wissens – der natürlichsten Quelle von Autorität – als potentiellen Machtsubjekten misstraut wurde, verlor auch deren Wissen selbst an Geltung. Und damit wiederum schlitterte die Linke in eine epistemische Krise, [38]Als epistemische Krise soll hier das Unvermögen eines intersubjektiven Zusammenhangs verstanden werden, Wissen hervorzubringen, abzurufen und/oder zu verwerten, mit dem sich Probleme, welche den Zweck des Zusammenhangs betreffen, qualifizieren und Lösungsmöglichkeiten entwickeln ließen. die sich selbst reproduziert. Denn es bedarf einer Geltung sozialtechnisch relevanten Wissens, um Mikropolitik so zu gestalten, dass in ihr solches Wissen auch zur Geltung kommt. Anders gesagt: Die Abwertung des Wissens macht es unmöglich, die Wissensprobleme einer Mikropolitik zu fassen, die sich nur als Spiegelung der utopischen Prinzipien begreift. Insofern ist der infantile Antiautoritarismus sowohl Ausdruck als auch Stabilisator des identitären Verschlusses. [39]Siehe dazu den Kasten »Der infantile Antiautoritarismus und der Kampf gegen Wissen«.

Der infantile Antiautoritarismus und der Kampf gegen Wissen

›Infantil‹ ist diese Autoritätsfeindlichkeit, die über die Autoritätskritik hinausschießt, nicht nur deswegen, weil im Zentrum ihres trotzigen Überschwangs allein das unreife Motiv steht, dass niemand über etwas verfügen soll, über das man nicht selbst verfügt. Sie ist es auch deswegen, weil sich das zwangsläufig gegen ältere Menschen richtet. Denn deren natürlichen Erfahrungs- und Wissensvorsprünge werden aus dieser verkürzten Perspektive, die auf Personen anstelle von Inhalten und Strukturen schaut, als unzumutbare Machtasymmetrie wahrgenommen.

Statt also derlei Vorsprünge hinzunehmen und aus ihnen einen kollektiven Nutzen zu ziehen, werden die TrägerInnen solchen Wissens zurechtgestutzt – und damit das Wissen selbst eingehegt. Der Kampf gegen Wissenshierarchien, der ja eine Anerkennung und Verbreitung von Wissen voraussetzen würde, ist daher im Endeffekt ein Kampf gegen Wissen.

Exklusiver Horizontalismus: Mechanismen einer klassistischen Klassenpolitik

Der Mangel an Wirkungsmacht ist also ein immanentes Problem linker Lebensformen. Denn seine Lösung erfordert, einen heuristischen Blickwinkel einzunehmen, der innerhalb der selbstverständlich gemachten Autoritätsfeindlichkeit versperrt ist. [40]Siehe dazu den Kasten »Probleme und Lösungen erster, zweiter, dritter Ordnung«. Damit schreibt diese Ideologie das Problem immer weiter fort, ja verstärkt es sogar zunehmend, so dass, in einer Art Keimformschmelze, die linke Mikropolitik die Grundlagen einer realutopischen Mobilisierung untergräbt. Denn es ist zwar primär die Funktion der Mesopolitik, breite Massen für eine Organisation zu interessieren, doch hängt deren Anschlussfähigkeit letztlich auch von den anderen Ebenen der Transformationspolitik ab. Wenn etwa die makropolitische Vision keine realistische Korrektur erfährt, weil die Zwänge ignoriert werden, die sich in der Mikropolitik – dem Labor der Utopie – als Grenze der Möglichkeiten erweisen, bestimmte Beziehungsweisen zu realisieren, dann kann das realutopische Programm nicht glaubhaft vermitteln, eine praktikable Alternative zu sein, die der komplexen Aufgabe gesellschaftlicher Reorganisation gerecht wird. Und ebenso werden auch gute mesopolitische Ansätze ihr Potential an Handlungsmacht nicht entfalten können, wenn die Mikropolitik nicht mit den Realitäten der zu mobilisierenden Menschen resoniert, man diese also nicht mit wirkungsmächtigen Prinzipien einbinden kann.

Probleme und Lösungen erster, zweiter, dritter Ordnung

Ein immanentes Problem kann auch als Problem zweiter Ordnung bezeichnet werden. Wenn etwa eine Organisation vorgibt, besonders inklusiv zu sein, aber letztlich nur eine erlesene Klientel einzubinden vermag, dann ist das erstmal ein Problem erster Ordnung. Wenn aber die Organisation diesen Widerspruch nicht erkennen kann oder nur zu Lösungsversuchen imstande ist, die es verschärfen, dann haben wir es mit einem Problem zweiter Ordnung zu tun, insofern die epistemische Verfasstheit der Lebensform den Widerspruch immer wieder reproduziert. Vgl. Rahel Jaeggi, »Experimenteller Pluralismus. Lebensformen als Experimente der Problemlösung«, auf: polar-zeitschrift.de, 2. Apr. 2015 (online hier).

Um das Problem aufzuheben, bedürfte es also einer Lösung zweiter Ordnung, die mit der Logik bricht, die das Problem verursacht hat. Das Problem dabei ist: Damit eine Lösung zweiter Ordnung von der Lebensform angenommen wird, müsste diese epistemisch so verfasst sein, dass sie ein Problem zweiter Ordnung – also ihr eigenes epistemisches Unvermögen – erkennen kann (gewissermaßen ein Problem dritter Ordnung). Es setzt also eine Verfasstheit voraus, die als Teil der Problemlösung überhaupt erst noch herzustellen wäre. Deswegen kommen Organisationen so häufig nicht aus ihrer Pfadabhängigkeit heraus: Es setzen sich in ihnen nur Lösungen erster Ordnung durch, die gewöhnlich nur ein Mehr des üblichen Problemumgangs darstellen – und das Problem somit verschärfen.

Die Interdependenz der Mikropolitik lässt sich gut am Beispiel der FAU verdeutlichen. Diese unterscheidet sich durchaus von den neoanarchistischen und autonomen Gruppen, die sich einer »Tyrannei der Strukturlosigkeit« hingeben, [41]So das Verdikt der Feministin und Sozialwissenschaftlerin Jo Freeman in ihrer viel beachteten Kritik an politischen Gruppen, die formelle Strukturen, insbes. Arbeitsteilung und vertikale Entscheidungsweisen, ablehnen. Ihnen ist es nicht nur eigen, dass sie kaum aufnahme- und leistungsfähig sind (weswegen man sich der Wirkungslosigkeit unterwirft). Auch bilden sich in der scheinbaren Strukturlosigkeit trotzdem Hierarchien heraus, die noch weniger zu kontrollieren sind als formale Hierarchien. Siehe Jo Freeman, »The Tyranny of Structurelessness«, in: Berkeley Journal of Sociology, Nr. 17 (1972/73), S. 151–164. Ironischerweise hat die von Freeman geprägte Vorstellung einer informellen Hierarchie im Kontext des infantilen Antiautoritarismus nicht etwa dazu geführt, dass solche Hierarchien formalisiert und dadurch kontrolliert würden, wie es Freeman anregte, sondern dazu, dass auch informelle Macht – personifiziert durch epistemische Autoritäten – bekämpft wurde, wodurch ihre Zusammenhänge noch weniger leistungsfähig in Theorie und Praxis wurden (siehe auch Anm. 40). Damit ist dann auch angezeigt, was es bedeutet, wenn eine Lebensform aufgrund ihrer immanenten Eigenschaften auf ein Problem so reagiert, dass sie neue Probleme schafft, die ihrem Charakter den Stempel aufdrücken (siehe auch Anm. 27). mit der potentielle Machtpolitik bereits im Keim erstickt werden soll – mit der Folge eines Verzichts auf jegliche Handlungsmacht. Im Gegensatz dazu lässt der Versuch der FAU, formale Gewerkschaftsorganisationen aufzubauen, schon eher »Strukturen der Tyranneilosigkeit« erwarten, [42]Vgl. Peter Seyferth, »Strukturen der Tyranneilosigkeit gegen die Tyrannei der Strukturlosigkeit. Machtanwendung bei der Findung und Durchsetzung von Entscheidungen«, in: Klaus Mathis & Luca Langensand (Hg.), Anarchie als herrschaftslose Ordnung?, Berlin 2019, S. 121–144. die ein Potential an Handlungsmacht zulassen. Jedoch sind auch ihren Strukturen Prinzipien eingeschrieben, die keine Wirkungsmacht haben. Denn auch hier wirkt das neoanarchistische Erbe fort, eine ausgesprochen autoritätsfeindliche Funktionsweise als selbstverständlich anzunehmen. [43]Davon zeugen: ständige VVs mit extensiven Entscheidungsprozeduren, schwache Sekretariate in Dauerrotation, Ämter mit nur geringen Ausführungskompetenzen, rein ehrenamtliche Funktionsweise, zahllose autonome Arbeitsgruppen, Delegationen ohne Entscheidungsspielräume, zeitintensive und entscheidungsblockierende Abstimmungsmodi, überforderte Kongresse, Syndikatsgründungen ohne größere Voraussetzungen usw. usf. Ihrem Gefüge mangelt es daher an Beziehungsweisen, die in strukturellen und strategischen Fragen das sozialtechnische Wissen zur Geltung bringen könnten, das für eine resonanzfähige Transformationspolitik nötig wäre. Und auch hier verhindert die Ablehnung von Erfolgskriterien, dass mikropolitische Gewissheiten hinterfragt werden, die den Anspruch einer mesopolitischen Massenorganisierung ad absurdum führen und die makropolitische Vision fragwürdig erscheinen lassen. Dass die FAU von einer reflexiven Praxistheorie angeleitet würde, wie sie in den ersten Teilen dieser Serie als notwendig für einen konstruktiven Sozialismus herausgearbeitet wurde, darf durchaus bezweifelt werden.

Deutlich wird das etwa an den Widersprüchen des (Ultra-)Horizontalismus. [44]Wenn hier von Horizontalismus die Rede ist, dann meint das seine extreme Auslegung in der neoanarchistisch bzw. autonom geprägten Linken. Denn natürlich war auch der Syndikalismus – mit seinen Konzepten von Föderalismus und Autonomie – schon immer eine (relativ) horizontale Bewegung. Die Organisationen des klassischen Syndikalismus, die durchaus vertikale Elemente und einen politischen Überbau beinhalteten, haben aber kaum etwas mit dem maßlosen Ultrahorizontalismus des Gegenwartssyndikalismus zu tun. Während man der bürgerlichen Demokratie stets vorzuhalten weiß, dass ihre formale Gleichheit durch materielle Verhältnisse unterlaufen wird – politische Einflüsse also eine Klassenfrage sind –, scheint man mit Blick auf die eigenen Beziehungsweisen keine klassistischen Mechanismen erkennen zu wollen. Dabei wohnt der »Basisdemokratie«, wie sie heutige Syndikate praktizieren, selbst eine starke Asymmetrie zwischen sozialen Gruppen inne. Zwar ist auch hier jedes Mitglied formal gleichberechtigt, faktisch aber ist Einfluss an den Einsatz von Ressourcen gebunden: Wer immer an den Versammlungen teilnimmt, wo seriell abgestimmt wird, hat implizit mehr Stimmgewicht als Mitglieder, die dies nur selten können. Und umso mehr fällt das ins Gewicht, als dass diese Abstimmungen häufig und auf verschiedenen Ebenen stattfinden, um in langatmigen Verfahren kleinste Entscheidungen durch die Basis verantworten zu lassen. Das ist nicht nur mit Blick auf die Makropolitik abstoßend – man stelle sich etwa eine »Utopie« vor, wo Mitbestimmung vom individuellen Einsatz abhängig wäre –, [45]Siehe dazu den Kasten »Der dystopische Schatten in utopischen Versprechungen«. es unterminiert auch die mesopolitischen Ziele. Denn in dieser Mikropolitik wird insbesondere ein sozialer Typus übervorteilt: arbeitende Menschen mit wenig (Zeit-)Ressourcen – die eigentliche Basis linker Klassenpolitik.

Der dystopische Schatten in utopischen Versprechungen

Transformationstheorie muss sich auch fragen, ob die utopische Versprechung, die so manche horizontale Mikropolitik macht, überhaupt so verheißungsvoll ist. Denn eine sich ständig in Versammlungen ergehende Gesellschaft, in der diejenigen, die sich nicht ständig mit KollegInnen, NachbarInnen usw. in Endlosplena auseinandersetzen wollen, verhältnismäßig weniger Stimmgewicht haben, kann man durchaus als Dystopie begreifen. Im schlimmsten Falle schafft sie eine Aristokratie von AktivistInnen, die über so einen Ressourcenwettbewerb überproportionalen Einfluss generieren; im besten Falle bedeutet sie eine ständige Mobilisierung, da alle regelmäßig teilnehmen müssen, um gleichwertigen Einfluss zu haben. Nicht nur hält der damit verbundene Sozialterror ein enormes Potential für personalisierte Konflikte bereit, er treibt auch einen Keil zwischen die Bevölkerung, wie es die bestehende Ordnung nicht könnte. Wo nämlich die Mitmenschen in Basisversammlungen die Gestaltung ihrer Umwelt selbst klären sollen, treffen die subjektiven Vorstellungen ungefiltert aufeinander, so dass sich die Menschen – ohne vermittelnde, repräsentative Instanz, die den Druck aus dem Kessel zwischenmenschlicher Dynamiken nimmt – schnell die Köpfe einschlagen.

Solche Schattenseiten der »Basisdemokratie« denken Vorschläge basisorganisierter communities selten mit; siehe exemplarisch Erna Rauch, »Perspektiven gewinnen: Organisierte Nachbarschaften und Föderationen Hand in Hand!«, auf: direkteaktion.org, 17. Jan. 2018 (online hier). Sie sehen nur eine generalisierte »Kreativität«, die unterdrückt wird, nicht aber, dass in den unterschiedlichen Vorstellungen dieser Kreativität ein destruktives Potential liegt. Ganz abgesehen davon, dass solche Modelle auch Legitimationskonflikte auslösen können. Wo z.B. Nachbarschaftsräte den Stadtteil umgestalten, weil sie sich qua ihrer basisdemokratischen Funktionsweise dazu berufen sehen, mag es eine Mehrheit von Betroffenen geben, welche die Entscheidungen dort gar nicht getroffen sehen möchte. Sie können daher auch als anmaßende Selbstermächtigung empfunden werden – und so die Distanz zwischen AktivistInnen und Bevölkerung noch vergrößern.

Tom Wetzel hat bereits dargelegt, dass eine Organisation, die besonders ressourcenaufwendig funktioniert, keine Arbeiterorganisation sein kann. [46]Siehe Tom Wetzel, »On Organisation«, in: Ideas & Action, Nr. 9 (1988), oder auf libcom.org, 20. Apr. 2017 (online hier). Der Text kritisiert v.a. das Konsensprinzip, das aufgrund seiner Zeitintensivität Menschen mit wenig Zeit (z.B. Lohnabhängige) übervorteilt. Das Argument lässt sich allerdings weiterspinnen und auf alle Organisationselemente – struktureller und kultureller Art – münzen, die einen kollektiven Zusammenhang langsam und schwerfällig bzw. entscheidungs- und handlungsunfähig machen. Diese Feststellung folgt ganz logisch aus einem praktischen Materialismus, wie er im zweiten Teil der Serie dargelegt wurde. Setzt man nämlich die Implikationen von Organisationspraxen ins Verhältnis zur materiellen Realität, dann ist leider festzustellen, dass der Horizontalismus des Gegenwartssyndikalismus die unteren Klassen strukturell auf Distanz hält. Denn insgesamt können diese kein Interesse daran haben, ihre knappen Ressourcen in eine Struktur zu investieren, die mehr Aufwand als Nutzen erzeugt. [47]Von einem Kostennutzenstandpunkt betrachtet ist z.B. die FAU ein großes Verlustgeschäft. Denn in langwierigen und zähen Kämpfen, die oftmals für Einzelne oder nur kleine Gruppen geführt werden, schlägt sie nur minimale Erfolge raus, die in keinem Verhältnis zu dem überverhältnismäßig hohen Einbezug von Mitgliedern in Entscheidungen und Aktionen stehen. Rechnen würde sich das allenfalls mittelfristig, wenn diese Beispiele dazu führen würden, dass sich mehr Menschen anschließen. Jedoch bleiben in diesen Kämpfen nur wenige Menschen ›hängen‹, erfahren sie doch unmittelbar, dass die Solidarität, die sie da genießen und als Mitglied an andere KollegInnen zurückgeben könnten, einen teuren Preis hat, welche den Ertrag aus den Kämpfen bei Weitem übersteigt. Insofern würde man, materiell betrachtet, mehr für sich tun, wenn man seine Freizeit genießt, statt seine Ressourcen in die FAU zu investieren. Es sollte daher nicht verwundern, dass die alten syndikalistischen Organisationen, die noch Massen interessierten, weniger horizontal funktionierten und durchaus Verantwortung vertikal delegierten. [48]Der klassische Syndikalismus kannte sehr wohl (bezahlte) Vorstände und Leitungsgremien, die mit Entscheidungskompetenzen ausgestattet waren, während Delegierte häufig aufgrund ihrer persönlichen Autorität mit relativ freien Mandaten entsendet wurden. Wer etwa glaubt, CNT-Syndikate hätten sich trotz 60- bis 70-Stundenwochen voller Knochenarbeit ständig getroffen, um sich in konsensualen Verfahren über allerlei Angelegenheiten zu verständigen und Aufgaben rotieren zu lassen, der projiziert den heutigen Neoanarchismus auf die Vergangenheit. An solchen Beziehungsweisen kann man sicherlich kritisieren, dass sie zu einer Entmächtigung der Basis führen können. Aber in der Basisdemokratie ist, so paradox das klingt, diese Entmächtigung schon von vornerein eingebaut. Repräsentation garantiert eben allen Mitgliedern erstmal ein gleiches Mindestmaß an Stimmgewicht, das nicht vom Ressourceneinsatz abhängt. Horizontalismus hingegen bedeutet für die Mitglieder von Beginn an ungleiche Stimmgewichte, abhängig davon, wieviel Mitsprache sie sich leisten können. [49]Siehe dazu den Kasten »Asymmetrische Basis: Der Ressourcenwettbewerb im Horizontalismus«.

Asymmetrische Basis: Der Ressourcenwettbewerb im Horizontalismus

Es ist hier klar zu unterscheiden zwischen einer Machtasymmetrie, die zwischen FunktionsträgerInnen und ›einfachen‹ Mitgliedern besteht, und einer Machtasymmetrie zwischen jenen Mitgliedern selbst. Ersteres delegiert formale Macht in einer kontrollierten Weise aus einer Basis von absolut Gleichen heraus: bei zyklischen Wahlen von VertreterInnen hat jedes Mitglied das gleiche Stimmgewicht. Letzteres bedeutet eine Basis von Ungleichen, die sich die Macht zwar formal teilen, in der aber die jeweiligen Anteile an dieser Macht immer relativ sind: bei seriellen Abstimmungen summiert sich das Stimmgewicht durch die Teilnahme – und zählt umso mehr desto weniger andere Mitglieder teilnehmen. Durch diese Relativität findet implizit immer ein politischer Ressourcenwettbewerb statt, insofern die Richtung der Organisation davon abhängt, welche TrägerInnen von Standpunkten am häufigsten zu den Versammlungen mobilisiert werden. Im Endeffekt läuft das auf eine ständige Mobilisierung heraus, weil diejenigen im summarischen Stimmgewicht einbüßen, die hier und da keine Präsenz zeigen.

Wer das Interesse hat, dass die Organisation einem bestimmten Kurs oder Stil folgt (und sei es nur der bestehende), ist gezwungen, das immer wieder mit aktiver Teilnahme zu vertreten bzw. verteidigen. Denn weil es – im Gegensatz zu repräsentativen Strukturen, die mit zyklischen Wahlen Kurs und Stil für eine bestimmte Periode festlegen – keine Atempause für Richtungsfragen gibt, ergibt sich die Richtung aus der Summe der vielen Einzelentscheidungen. Obendrauf gibt es dann auch noch ein verschärftes Konfliktpotential, da solche Entscheidungen – vgl. Anm. 45 – nicht etwa über Wahlen abstrahiert werden, sondern durch ihre Unmittelbarkeit viel stärker die konkreten Personen in den Fokus von Entscheidungskritik rücken. Und diese Konflikte einzudämmen, ist wiederum besonders zeitaufwendig, weil in der horizontalen Verfasstheit die Dynamiken ungefiltert und unter Einbezug vieler aufeinandertreffen. Für Menschen mit wenig Ressourcen ist dieses Gemisch (relativ geringes Stimmgewicht + hoher Mobilisierungszwang + personalisierte Konflikte + zeitaufwendige Klärungsprozesse) geradezu toxisch.

Repräsentation wirkt daher in erster Linie inklusiv und setzt die Basis in eine symmetrische Beziehung; auf dieser horizontalen Breite bauen sich dann exklusivere Kompetenzebenen vertikal auf. Dagegen wirkt Basisdemokratie in erster Linie exklusiv und schafft vertikale Asymmetrien bereits in der Basis; horizontal ist sie nur insofern, als dass dann ein erlesener Kreis in der Breite aller Fragen mitsprechen kann. Im Gegenwartssyndikalismus wird letztere Asymmetrie jedoch kaum problematisiert. Aufgrund des autoritätsfeindlichen bias werden nur die möglichen Probleme zwischen Basis und FunktionärInnen wahrgenommen. Positive Aspekte der Repräsentation werden ebenso ausgeblendet wie die Probleme des Horizontalismus. Dadurch wird nicht nur eine Mikropolitik aufrechterhalten, die inkompatibel mit den Klassenrealitäten ist; auch werden die Interessen der ressourcenschwachen Mitglieder, um die es ganz wesentlich bei syndikalistischer Klassenpolitik gehen sollte, wenig bis gar nicht in der Willensbildung und Organisationsentwicklung abgebildet. [50]Während in repräsentativen Strukturen jedes Mitglied den gleichen formalen Einfluss bei der Wahl von VertreterInnen hat, ist im ultrahorizontalen Modell der formale Einfluss derer, die etwa wegen beruflichen und familiären Verpflichtungen weniger auf Treffen teilnehmen können, im Verhältnis zu anderen gemindert. Können Sie gar nicht teilnehmen, haben sie sogar keine Stimme und können allenfalls informell Einfluss ausüben. Ferner verstärkt sich das Problem auch durch die verschiedenen Ebenen der horizontalen Mitsprache. So haben viele ArbeiterInnen gerade mal genug Ressourcen, um sich in ihre Betriebsgruppe einzubringen, wo die konkrete Gewerkschaftsarbeit stattfindet. Auf Vollversammlungen des Syndikats müssen sie häufig passen. Gerade dort werden aber die strategischen und politischen Rahmenentscheidungen getroffen, die auf die konkrete Gewerkschaftsarbeit zurückwirken. Dass es dann nicht gerade Entscheidungen sind, die nah an den Bedürfnissen der ArbeiterInnen sind, wenn jene Versammlungen eher von Mitgliedern frequentiert werden, die in Ermangelung von Betriebsarbeit sich die Teilnahme leisten können, sollte auf der Hand liegen. Auch das ist Teil der epistemischen Verfasstheit. Wenn sich der Syndikalismus also nicht durch solche klassistische Mechanismen ad absurdum führen will, muss er Repräsentation beinhalten. Nur wenn Mitglieder RepräsentantInnen wählen können, von denen sie ihre Interessen vertreten sehen, ist es möglich, die für Transformationspolitik nötigen Massen einzubinden.

In Konsequenz erfordert dieser Sachzwang weitere Prinzipien heraus. Das Prinzip der Ehrenamtlichkeit etwa verhindert ebenso, dass Verantwortung in einer Weise delegiert wird, die ressourcenschwache Menschen nicht übervorteilt. Denn es dreht die klassistische Schraube nur weiter, wenn Funktionen nur von denen übernommen werden, die sich das leisten können. [51]Bezahlung hat eben auch eine partizipative Funktion. In der attischen Demokratie etwa wurden Diäten einst eingeführt, um dem politischen Engagement von Bürgern mit nur geringem Einkommen eine materielle Basis zu geben. Nicht nur schließt es viele Mitglieder davon aus, selbst Verantwortung zu übernehmen, letztlich haben sie sogar keine andere Wahl, als sich von denen stellvertreten zu lassen, die ihre Lebensrealität nicht verstehen. [52]Das bedeutet es eben, wenn die Rahmenentscheidungen in einer sozialen Zusammensetzung getroffen werden, die nicht repräsentativ für die Zusammensetzung in den Betrieben ist. Vgl. Anm. 50. Lösen lässt sich das auch keineswegs damit, Aufgaben auf vielen Schultern zu verteilen und das Personal häufig zu rotieren, wie es in anarchistischen Kreisen beliebt ist. Zum einen schafft es weiteren Koordinations- und Beratungsaufwand, der den Entscheidungskorpus zeitaufwendiger macht; zum anderen macht das die Organisation insgesamt ineffektiver, da die Aufgabenerfüllung starken Kompetenzschwankungen und Diskontinuitäten unterliegt. [53]Siehe dazu den Kasten »Warum geteilte Arbeit nicht gleich weniger Arbeit ist«. Eine Organisation aber, die ineffektiv ist und enorme Mengen Zeit allein für ihre Aufrechterhaltung frisst, ist für die unteren Klassen doppelt uninteressant. Insofern ist Professionalisierung tatsächlich ein mikropolitischer Schlüssel für breite Inklusion – und damit Bedingung einer Mesopolitik, welche die unteren Klassen entlang ihrer Interessen effektiv mobilisiert.

Warum geteilte Arbeit nicht gleich weniger Arbeit ist

Bei den Versuchen, die Überforderung der Organisation durch weitere Dezentralisierung zu beheben, handelt es sich um eine Lösung erster Ordnung (vgl. Anm. 40), wie sie für die neoanarchistische Logik typisch ist: Sind Aufgaben aber einer gewissen Größe nicht mehr zu bewältigen – und das setzt bei ultrahorizontalen Gruppen schon im Übergang von der Kleinst- zur Kleingruppe ein –, wird intuitiv vorgeschlagen, die Gruppe aufzuteilen, Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen und/oder diese noch stärker rotieren zu lassen. Diese streng mathematische Sichtweise lässt aber grundlegende Mechanismen sozialer Interaktion außer Acht und verschärft letztlich die Ressourcenprobleme.

Denn durch jeden weiteren Grad der Dezentralisierung erhöht sich auch der Koordinationsaufwand (sowohl zwischen den Mandatierten als auch zwischen den Organisationseinheiten), so wie auch die Basis mehr Aufwand im Besetzen, Kontrollieren, Entlasten, Abwählen und Neubesetzen von Aufgaben zu erbringen hat. Zugleich müssen immer mehr Aufgaben an Menschen übertragen werden, welche nicht hinreichend kompetent dafür sind, während die durch Überforderung oder Rotation geschaffene höhere Frequentierung dafür sorgt, dass mehr Zeit für Einarbeitung und Übergabe aufgebracht werden muss, als kontinuierlich an einer Sache gearbeitet werden kann.

Fatal ist diese Herangehensweise vor allem auch deshalb, weil sie auf kleinster Ebene den Anschein machen mag, das Problem gelöst zu haben, den Druck aber auf die höheren Ebenen der Föderation verlagert. Denn da steigt durch die Fragmentierung nicht nur der Koordinationsaufwand bei zugleich knapperen Ressourcen für die Mandatsbesetzung, sondern wird auch die gemeinsame Entscheidungsfindung so weit verkompliziert, dass kaum mehr Handlungsfähigkeit gegeben ist. Letztlich wird damit dann auch die utopische Vision unglaubwürdig, da das Modell nicht vermitteln kann, breitere gesellschaftliche Kreise entscheidungs- und handlungsfähig integrieren zu können.

Ausschluss durch Einschluss: Das epistemische Versagen des Horizontalismus

Gerade eine klassenpolitische Transformationsorganisation steht und fällt mit ihrer Effektivität. Davon hängt nicht zuletzt auch die Glaubwürdigkeit der utopischen Perspektive ab, muss diese doch auch vermitteln, komplexe Probleme bewältigen zu können. Dabei versteht es sich von selbst, dass Vertikalisierung und Professionalisierung auch akute Risiken beinhalten. Aber erstens können diese durchaus eingehegt werden, etwa durch Konzepte des Föderalismus und der Autonomie oder spezifische Mechanismen von Input, Kontrolle und Gewaltenteilung. [54]Siehe dazu den Kasten »Die Kontextabhängigkeit von Vertikalisierung und Professionalisierung«. Und zweitens stehen dem ja der chronische Klassismus von Horizontalität und Ehrenamtlichkeit gegenüber. Es ist daher falsch, Emanzipation und Effektivität als Antagonismen zu verstehen, die sich gegenseitig beschneiden. Vielmehr ist eine Emanzipation der unteren Klassen ohne Effektivität nicht möglich. Eine Organisation, die Instrument zur Gewinnung von mehr Ressourcen sein soll, kann ihre Nützlichkeit nicht glaubhaft machen, wenn sie in erster Linie Ressourcen verbrennt. Was etwa die FAU an Verbesserungen zu gewinnen vermag, steht in keinem Verhältnis zu dem Aufwand, den sie erzeugt. Ihre Ökonomie, in der – zugespitzt gesagt – ein Dutzend Leute im Einsatz sind, um eine Glühbirne auszuwechseln, stellt eine herbe Verlustrechnung dar, die auf Dauer nur besonders opferbereite AktivistInnen zu binden vermag. [55]Die ständige Mobilisierung aufgrund der permanenten Kurs- und Stilunklarheit (siehe Anm. 49) kommt einem Aktivismuszwang gleich, dem nur wenige nachkommen können. Übrig bleibt für viele nur, Mitglied zweiter oder dritter Klasse zu sein – oder auszutreten. Z.T. macht der Gegenwartssyndikalismus keinen Hehl daraus, damit kein Problem zu haben. Nicht selten hört man, dass Mitsprache eben Engagement verlangt, zuweilen gepaart mit einer Abwertung von Mitgliedern, welche sich nicht an zeitintensiven Arbeiten und Aussprachen beteiligen (können); von der Verachtung von passiven Mitgliedern, die man gar nicht erst als Mitglied haben will, gar nicht zu reden. Abgesehen davon, dass das eine Ignoranz gegenüber den materiellen Realitäten vieler Menschen darstellt, schwingt darin ein fast schon religiöses Ehrengebot mit, das insbes. dann deutlich wird, wenn der selbstausbeutende Charakter des Engagements anerkannt wird, dies aber als notwendiges Opfer für die Wegbereitung des revolutionären Paradieses eingefordert wird.

Die Kontextabhängigkeit von Vertikalisierung und Professionalisierung

Die neoanarchistische Kritik an vertikalen und professionellen Strukturen beruht im Wesentlich auf einem unzulässigen Vergleich. Denn sie nimmt zentralistische Organisationen mit ganz spezifischen Arbeitsweisen und Programmatiken, wie etwa den DGB oder (autoritäre) Parteien, als Beispiel, um die Gefahren solcher Strukturen zu belegen. Die Wirkungsweise von Organisationen zu qualifizieren, erfordert aber eine holistische Betrachtung, welche das Zusammenspiel der Organisationselemente als Ganzes in den Blick nimmt. Immerhin hängt in jedem sozialen System die Funktion eines bestimmten Elements von seiner kontextualen Einbettung ab.

Die Kritik müsste sich daher an einem vergleichbaren Kontext orientieren, etwa den früheren syndikalistischen Organisationen. Und da lässt sich nicht gerade sagen, dass die vertikalen und professionellen Elemente immer zu einer autoritären Degeneration oder reformistischen Korruption der Organisation geführt hätten. Vielmehr zeigt die Geschichte, dass in einem von Föderalismus und Autonomie geprägten Kontext vielfältige Mechanismen möglich sind, mit denen sich Probleme der Vertikalisierung und Professionalisierung einhegen oder gar vermeiden lassen. Im DGB-Kontext werden diese Mechanismen aber ebenso wenig praktiziert wie in gewöhnlichen Parteien. Und auch der Gegenwartssyndikalismus ist weit davon entfernt, sie für sich nutzbar zu machen, wenn er über die Feinheiten vertikaler oder professioneller Strukturen aufgrund von pauschalen, falschen und ahistorischen Urteilen gar nicht erst nachdenken will.

Auf kurze Sicht lässt sich die Lebenslüge des Gegenwartssyndikalismus, er könne mehr erkämpfen als die viel gescholtene »Stellvertreterpolitik«, übertünchen, indem Einzelne außergewöhnlich viel Einsatz erbringen. Auf mittlere Sicht erstickt dieser Raubbau an Ressourcen aber die Handlungs- und Entwicklungsfähigkeit. Denn ein Funktionärsapparat ermöglicht nicht nur Routinen, mit denen vermieden wird, dass in jedem Problemfall vieles aufs Neue geklärt werden muss. [56]Zur positiven und notwendigen Funktion eines Funktionärsapparats bzw. einer Organisationbürokratie siehe Thomas Goes, »Gewerkschaften: Wieso weshalb warum«, auf: adamag.de, 26. Juni 2018 (online hier). Er kann auch die nötigen Kapazitäten freisetzen, um Probleme der Organisationspraxis zu evaluieren und Reformen zu implementieren. Ansonsten führen Wachstumsschübe, die eine Anpassung der Organisation verlangen, zu Reformstau und letztlich Krisen, die nicht lösbar sind. Denn deren Lösung setzt eben Strukturen voraus, in denen das relevante Wissen zielgerichtet allokalisiert wird. In Strukturen, wie sie etwa die FAU pflegt, sind aber erfahrene AktivistInnen – die potentiellen Träger solchen Wissens – ständig damit beschäftigt, Minimalstandards einer fluktuierenden Mitgliedschaft nahezubringen und Neumitglieder für Aufgaben anzulernen. [57]Im Ultrahorizontalismus sind erfahrene AktivistInnen mit zweierlei voll beschäftigt: Zum einen müssen sie die notwendigsten Dinge unter großem Legitimations- und Kommunikationsaufwand am Laufen halten. Denn jedes kleine Problem verlangt, dass das Problem einer breiteren, ständig fluktuierenden Basis erstmal vermittelt werden muss, so dass Maßnahmen dagegen eine Genehmigung erhalten können. Zum anderen sollen sie neuen Mitglieder ihr Wissen weitergeben, damit diese an ihre Stelle treten können, wobei aber stets nur ein Bruchteil vermittelt wird, so dass sie selbst immer wieder als backup einspringen müssen. Denn vieles auf Erfahrung basierende Wissen (sogenanntes ›implizites Wissen‹), ist nichts, was sie durch explizite Kommunikation weitertragen lässt, während nur ein kleiner Teil der Anzulernenden letztlich überhaupt Verantwortung übernimmt. Logischerweise bleiben in so einem Kontext keine Kapazitäten mehr, um Erfahrung und Wissen in notwendige Reformprozesse zu übersetzen, zumal solche Prozesse im Ultrahorizontalismus auch noch besonders zeitintensiv sind aufgrund des beschriebenen Legitimations- und Kommunikationsaufwands. Statt also wichtige Aufgaben zu erledigen und die Organisation weiterzuentwickeln, müssen sie all ihre Kapazitäten darauf verwenden, Grundlagen zu vermitteln und Rückentwicklungen zu verhindern. Und umso breiter der Horizont der Basis wird, desto größer wird der dafür nötige Aufwand.

Was hier als Einschluss und Aktivierung gedacht ist, hat letztlich den gegenteiligen Effekt. Zum einen sind ad-hoc angelernte Mitglieder häufig überfordert mit wichtigen Aufgaben, was nicht nur bei ihnen zu Frustration und Rückzug führen kann, sondern auch bei Mitgliedern, die Kontinuität und Effektivität erwarten. [58]Siehe dazu den Kasten »Die Gewerkschaft als Feigenblatt individueller Selbstfindung«. Zum anderen müssen erfahrene Mitglieder dadurch immer wieder Lücken stopfen, was im Kontext eines autoritätsfeindlichen Klimas jenen Aktivposten zusätzliche Rechtfertigungsbemühungen abverlangt. [59]Selbstverständlich gibt es auch im Gegenwartssyndikalismus natürliche Autoritäten, die durch Erfahrung, Wissen und Engagement ihre Organisation zusammenhalten und mehr oder weniger voranbringen. Das kollidiert jedoch mit der autoritätsfeindlichen Ideologie, aber auch der Außendarstellung, wonach es keine Autoritäten geben darf. Entsprechend reagieren Mitglieder, die jener Ideologie anhängen oder aufgrund der Versprechungen der Außendarstellung beigetreten sind, ungehalten auf Personen, die sich als verhältnismäßig einflussreich erweisen, stehen sie doch für etwas, das vermeintlich gegen die Prinzipien ist. Erfahrene Mitglieder sind daher zu einer eigentümlichen Gratwanderung gezwungen, um die Stabilität der Organisation zu gewährleisten: Sie müssen ihrem Wissen Geltung verschaffen, ohne dass dies in zu direkter Weise zu tun. Dabei riskieren Sie immer wieder unter Beschuss zu geraten, da der infantile Antiautoritarismus besondere Aufmerksamkeit darauf legt, potentielle ›Strippenzieher‹ zu identifizieren und ihren Einfluss zu egalisieren. In Konsequenz können Sie Erfahrung und Wissen nur tröpfchenweise und unter maximalem Aufwand diffundieren lassen – mit der Folge, dass sie sich über kurz oder lang fragen müssen, ob ihre Fähigkeiten woanders nicht weniger verschwendet sind. Auch das beeinträchtigt die epistemische Leistungsfähigkeit der Organisation. In dieser Mühle werden letztlich auch die erfahrenen Mitglieder aufgerieben, nicht zuletzt deshalb, weil sie in der Regel älter sind, also häufig mehr berufliche und/oder familiäre Verpflichtungen haben, die diesen Einsatz nicht auf Dauer leistbar machen. Im Endeffekt hat dies denn auch fatale Konsequenzen für die soziale Zusammensetzung einer Organisation. Denn dieses Organisationsmodell, das sich nur durch die Selbstaufopferung von AktivistInnen einigermaßen stabil halten kann, ist vornehmlich kompatibel mit Sozialtypen, die entweder noch nicht so sehr in beruflichen und familiären Verpflichtungen sind oder Lebensentwürfen folgen, die sich solchen Verpflichtungen weitestgehend entziehen. [60]Es ist eine Binse, dass die radikale Linke vorwiegend eine postadoleszente Veranstaltung ist. Das gilt auch für die FAU, auch wenn sie mit dem Appeal einer zumindest nominellen Arbeiterorganisation etwas mehr Altersdiversität vorweisen kann. Dabei wird das Altersproblem durchaus in der Szene zur Kenntnis genommen (siehe z.B. den Debattenabend von Wilhelmsburg Solidarisch zu »Sackgasse Aktivismus«; online hier). Statt aber im Sinne eines praktischen Materialismus die Strukturen an die Realitäten der Zielgruppe anzupassen, lässt man i.d.R. die eigenen Beziehungsweisen unhinterfragt – stattdessen sollen sich, im Sinne der religiösen Opferbereitschaft (vgl. Anm. 55), die Leute selbst anpassen, also Entbehrungen in Kauf nehmen oder gar die Lebens- und Berufsplanung dem unterordnen. Dabei ist v.a. zu bedenken, dass es für soziale Veränderungen natürlich hingebungsvolle AktivistInnen bedarf; wo aber eine Struktur so funktioniert, dass dies Voraussetzung für die An- und Einbindung von Mitgliedern wird, läuft das auf Sektierertum hinaus. Denn dann gibt es eben über Sympathiebekundungen hinaus keine Identifikations- und Anschlussmöglichkeiten für breitere Kreise – und wachsen älter werdende Mitglieder immer wieder aus der Organisation heraus. Eine Ausnahme stellen dabei vielleicht solche Mitglieder dar, deren Mitwirkung primär gar nicht politisch motiviert ist, sondern denen die Form der ›Gewerkschaft‹ als sinnstiftendes Band für soziale Interaktion dient, der ihnen sonst im Leben fehlt. Dass z.B. die FAU vielen als Surrogat für soziale Teilhabe gilt, hört man gar nicht mal so selten. Es liegt auf der Hand, dass sich so die Reihen des Gegenwartssyndikalismus – trotz aller Arbeiterrhetorik – vor allem aus studentischen und subkulturellen Linken füllen. [61]Das heißt natürlich nicht, dass diese nicht auch arbeiten bzw. ArbeiterInnen sind oder dass die atypischen Beschäftigungsverhältnisse, in denen sie sich häufig befinden, keine Organisierung erfahren sollten. Dennoch ist die Unterscheidung von Abkömmlingen der unteren Klassen und proletarisierten Abkömmlingen des Bildungsbürgertums wichtig. Zum einen haben Letztere trotz (selbstgewählter) prekärer Lebensphase nicht selten andere Sicherheiten, die ihnen die Familie bei einer Revision des Lebensentwurfs bieten kann. Zum anderen bringt die Sozialisation einen anderen Habitus mit sich, der sich von den Umgangs- und Wahrnehmungsformen der unteren Klassen unterscheidet. Beides schlägt sich in Entscheidungspräferenzen und kulturellen Praktiken nieder, die mit denen der eigentlichen Zielgruppe nicht resonieren.

Die Gewerkschaft als Feigenblatt individueller Selbstfindung

Im neoanarchistischen Denken gilt es als hoher Wert, ja fast schon als Essenz von Emanzipation, dass Menschen Aufgaben übernehmen und persönlich daran reifen können. Damit wird letztlich sogar begründet, dass Aufgaben häufig rotieren sollen und Kompetenzanforderungen erstmal nicht so wichtig seien. Während dieser Fetisch individueller Selbstentfaltung in Kleinstgruppen ohne nennenswerte Praxis noch sozialverträglich funktionieren mag, haut das in Zusammenhängen mit gewachsener Verantwortung (z.B. hohes Finanzaufkommen, juristische Risiken, Arbeitskämpfe, wo es um Existenzen geht usw.) bei Weitem nicht hin. Vielmehr existieren hier notwendigerweise hohe Anforderungen an die Aufgaben als auch ein sozialer Druck, diese hinreichend zu erfüllen. Wo Leuten solche Aufgaben anvertraut werden, denen sie nicht gewachsen sind, reifen sie nicht, sondern werden verheizt. Und zugleich fördert es die Frustration bei denen, die etwa viel Lebenszeit in den Aufbau von etwas gesteckt haben, das durch eine schlechte Mandatsausführung zurückgeworfen oder gar zunichtegemacht wird, so wie auch Mitglieder, die für die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen eine belastbare Organisation benötigen, die nicht ständig wie ein Kartenhaus zusammensackt, davon verprellt werden.

Im Endeffekt zeigt sich hier eine weitere Facette des infantilen Antiautoritarismus, die den Zweck des Syndikalismus ad absurdum führt: Damit sich ein paar wenige Menschen, denen es an sozialer Einbindung und Verantwortungserfahrung mangelt, ausprobieren können, muss die gesamte Organisation Defizite in Kauf nehmen, die eine effektive Organisierung und die Durchsetzung von subalternen Interessen verunmöglichen. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, dass dieses Modell nur für einen sehr speziellen Sozialtypus einen Nutzen hat: sozial isolierte Menschen, die mangels beruflicher und familiärer Verpflichtungen, aber auch Qualifikationen ein Bedürfnis haben, sich in Aufgaben auszuprobieren. Gerade für ältere Menschen, die beruflich und familiär im Leben stehen und dabei natürlich stets Verantwortung nehmen, muss es als Hohn wirken, dass sie als Experimentiermasse in einer Art Sozialtherapie für postadoleszente Subjekte herhalten sollen. Vgl. dazu auch Anm. 55.

Gerade dieses Problem ist nicht zu unterschätzen, weil es die epistemische Krise, die der mangelnden Allokation von Kompetenz und Erfahrung entspringt, noch weiter verschärft. Es ist ohnehin ein Widerspruch des Gegenwartssyndikalismus, dass er vorgibt, dynamisch und progressiv zu sein, aber Entscheidungen von einem Schwarm treffen lässt, in dem nur eine kleine Minderheit aktiv zu gestalten bereit ist. [62]Tatsächlich haben psychologische Studien festgestellt, dass die überwiegende Mehrheit von Menschen nur ungern Entscheidungen für ein Kollektiv trifft, weil für sie ihre Konsequenzen nicht eindeutig zu erkennen sind; siehe z.B. Micah G. Edelson u.a., »Computational and Neurobiological Foundations of Leadership Decisions«, in: Science, Nr. 6401, Jg. 361 (2018). Für eine horizontale Organisation bringt das ein folgenschweres Problem mit sich: Ihre durchschnittlichen Versammlungen tendieren dazu, komplexere Entscheidungen nicht zu treffen. Dadurch kommt nicht nur der Menschen eigene Strukturkonservatismus stärker zu tragen als in Organisationen, die bestimmte Entscheidungen qualifizierten Personen zuzuordnen versuchen (vgl. dazu Anm. 24), es führt auch zu einer Schwerfälligkeit in der strategischen Interaktion. Mit dem Anspruch, sich als Keimform ausprobieren und flexibel in sozialen Kämpfen agieren zu wollen, ist das natürlich unvereinbar. Und selbst wenn versucht wird, ein wenig Verantwortung zu delegieren, macht es das selten besser. Denn viele der Aufgaben, die sich einer Transformationsorganisation stellen, sind einfach zu komplex, als dass der Durchschnitt der zufälligen Versammlungskonstellationen kompetent bewerten könnte, wer kompetent für ihre Erledigung wäre. [63]Um die Kompetenz anderer auf einem Gebiet bewerten zu können, ist eben die Voraussetzung, selbst eine gewisse Kompetenz auf dem Gebiet zu haben (siehe Justin Kruger & David Dunning, »Unskilled and Unaware of it. How Difficulties in Recognizing One‹s Own Incompetence Lead to Inflated Self-Assessments«, in: Journal of Personality and Social Psychology, Nr. 6, Bd. 77 (1999), S. 1121–1134. Denn: »Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen« (David Dunning im Interview mit der New York Times; online hier). Dass Modelle der repräsentativen Demokratie z.B. Parteien bei der Auswahl des genauen Personals zwischenschalten, ist daher gar nicht mal abwegig, während etwa Personalentscheidungen als Folge von Direktwahlen zuweilen besonders gruselig ausfallen (exemplarisch: Donald Trump). Von lernfähigen Organisationen, wie sie Pouget einst als »Schule der Revolution« einforderte, ist der Gegenwartssyndikalismus weiter entfernt als der klassische Syndikalismus, dessen strukturelle, strategische und programmatische Ausrichtung durchaus von führenden Köpfen geprägt wurde. [64]Zu Pouget siehe Teil 1, Anm. 49. Es ist geradezu bizarr, dass der Neoanarchismus nicht müde wird, die Bedeutung solcher historischen Köpfe für die Bewegung zu betonen, mit seinem infantilen Antiautoritarismus aber ein Klima pflegt, in denen sie sich und die Bewegung niemals hätten so profilieren können, als dass sie ihren heutigen Epigonen überhaupt bekannt sein dürfte. In der genannten sozialen Zusammensetzung kommt noch hinzu, dass mit der Entwicklungsunfähigkeit ein Zustand konserviert wird, der besonders inkompatibel mit der breiten Masse ist. Denn dank ihr sind es vor allem Szenenormen, welche die Wahrnehmung falscher und richtiger Beziehungsweisen ordnen.

Das epistemische Versagen spiegelt sich daher auch in einer politischen Kultur, die sich gegen die eigentlichen Zielgruppen richtet. Deutlich wird das an der linken Identitätspolitik, die auch im Gegenwartssyndikalismus Einfluss hat. Darunter kann ein normativer Modus verstanden werden, in dem politische Wahrheiten qua Identität definiert werden. [65]Siehe dazu den Kasten »Der doppelte Strohmann: Die Verwirrung um Identitätspolitik«. Zentral ist dabei die Standpunkt-Theorie, wonach der Blickwinkel einer deprivilegierten über den einer privilegierten Gruppe zu stellen ist. [66]Die Standpunkt-Theorie besagt, dass die Episteme einer deprivilegierten Gruppe für eine objektive Wahrnehmung der Welt besser geeignet seien. Was als Orientierung durchaus sinnvoll sein mag, um ›blinde Flecken‹ privilegierter Perspektiven aufzudecken, wurde in der Linken aber zu einer politischen Maßgabe erhoben. In ihrer stumpfesten Anwendung führte sie etwa dazu, dass ›anti-imperialistische‹ Kämpfe kritiklos unterstützt werden, ganz egal wie reaktionär ihre dominanten Kräfte sind – oftmals ungeachtet der Tatsache, dass gerade progressive Kräfte aus der Referenzgruppe externe Unterstützung gegen die reaktionäre Dominanz benötigen. Die Standpunkt-Theorie neigt also in der Praxis zu einer Essentialisierung von Gruppen, die deren inneren Differenzen ausblendet. Der Einfluss dieser simplifizierenden Deutungsweise in der Linken, die ja mal darauf aus war, die Komplexität der Welt zu ergründen, hat deren epistemisches Niveau erheblich gesenkt. In der Folge verkittet die Linke nicht selten Hierarchie und Herrschaft unter dem Banner der Emanzipation, weil sie die dominanten Stimmen einer Gruppe mit dem Standpunkt und den Interessen dieser (heterogenen) Gruppe verwechselt. Für sich genommen ist diese Norm sinnvoll, in Verbindung mit anderen Normen der Szenelinken wirkt sie aber toxisch. Zum einen werden durch das Paradigma, dass das Persönliche politisch sei, individuelle Verhaltensweisen zu Machtfragen aufgeblasen, die durch eine Hierarchie von Identitäten zu entscheiden sei. [67]Das ist die Folge eines in den 1960ern einsetzenden Paradigmenwechsels in der Linken, der dem einzelnen Subjekt zunehmend Bedeutung bei der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen zurechnete. Mit diesem subjective turn verlegte sie sich auf eine neue Strategie: Um Herrschaft (vermeintlich) radikal aufzuheben, galt es, direkt am Verhalten des Individuums anzusetzen. Die Folge davon ist ein »rigider Radikalismus«, in dem sich der als besonders radikal fühlen darf, der seine Mitmenschen für ›falsches‹ Bewusstsein und Verhalten maßregelt, ihnen also das ›korrekte‹ Radikalsein eintrichtert (siehe grundsätzlich Carla Bergman & Nick Montgomery, Joyful Militancy. Building Thriving Resistance in Toxic Times, Oakland 2017). Es sollte daher nicht verwundern, dass die Linke besonders anfällig für personalisierte Konflikte ist. Denn diese »Dislokation von Macht« (Saul Newman, From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power, Lanham 2007), welche die interpersonalen Beziehungsweisen zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Veränderung macht, politisiert in Konsequenz die Persönlichkeit der Einzelnen: Daran, wofür sie symbolisch steht, entscheidet sich, wer Freund und Feind ist. Es begründet eine call-out culture, in der Einzelne an den Pranger gestellt werden und die keinen Sinn für Abweichungen und Komplexität hat. V.a. aber ist sie toxisch, weil sie Misstrauen und Angst verbreitet, Solidarität untergräbt und als Einfallstor für persönliche Machtspielchen dient. Einst dazu gedacht, dass sich Menschen sicherer im politischen Zusammenhang fühlen, hat sie die Linke in ein psychologisches Kriegsgebiet verwandelt. Zum anderen sorgt die »Politik der ersten Person« dafür, dass dabei das Empfinden von Individuen, die mit einer deprivilegierten Gruppe identifiziert werden, als definitionsmächtig gilt. [68]Insbes. dieses Konzept, das – ab den 1970ern – der Sichtweise von subalternen Subjekten mehr Gewicht in Gruppen verleihen sollte, um Macht und Differenz im unmittelbaren Umfeld entgegenzuwirken, ließ die Identitätspolitik in den Irrationalismus kippen. Während es nämlich noch Sinn ergeben mag, in einem Zusammenhang die kollektiven Interessen einer subalternen Gruppe besonders zu berücksichtigen, sorgte dieses Konzept nun dafür, dass individuelle Standpunkte als quasi-repräsentativ für eine subalterne Gruppe gelten. Damit werden nicht nur theoretische Widersprüche erzeugt (wenn z.B. zwei Angehörige einer Gruppe ein Problem unterschiedlich sehen, sollen doch beide definitionsmächtig gegenüber Nicht-Angehörigen sein), in der Praxis wird auch die Gruppe selbst gespalten. Denn durch jede Gruppe verlaufen weitere Interessenwidersprüche, so dass diese informellen Fraktionen jeweils Deutungshoheit für ihren Standpunkt reklamieren. In Konsequenz werden dabei eher die privilegierten Segmente der Gruppe gehört und andere unsichtbar gemacht (vgl. dazu Anm. 66). Wenn aber die standpunkttheoretische Annahme stimmt, dass privilegierte Positionen blinde Flecken in der Wahrnehmung von Machtverhältnissen erzeugen, dann muss eine so komponierte Identitätspolitik in der Linken klassistisch ausfallen. Denn wo der Kontext vor allem von Abkömmlingen des Bildungsbürgertums bevölkert ist, werden kulturelle Konflikte zwangsläufig zuungunsten der proletarischen Identitäten entschieden. [69]Es kommt nicht von ungefähr, dass die durch den ›rigiden Radikalismus‹ sanktionierten Verhaltensweisen (siehe Anm. 67) im Wesentlichen denen der unteren Klassen entsprechen. Denn Sprache und Symbolik der political correctness sind – in ihrer konkret erwarteten Form – eben auch habituell gefärbt, reflektieren also die bildungsbürgerliche Dominanz in der Linken. So gelten z.B. in der Linken ein diplomatisches und leises Auftreten als höflich und korrekt, während sehr direktes und polterndes Auftreten als respektlos und patriarchal-autoritär qualifiziert werden. Gerade Klartext und Nachdruck gelten aber in den unteren Klassen als ehrlich und interessiert, während Diplomatie und Gleichmut als unaufrichtig und teilnahmslos wahrgenommen werden. Diese kulturelle Diskrepanz lässt sich auch materiell erklären, denn immerhin wachsen Angehörige der unteren Klassen nicht nur in einer raueren Umwelt auf, die weniger für Raum für Befindlichkeiten lässt, auch weil Zeit eine knappere Ressource ist, ergibt sich die Notwendigkeit einer direkteren Kommunikation. Und nicht zuletzt schaffen soziale Milieus auch andere Wertigkeiten, Konnotationen und Ambivalenzen von Begriffen, denen das rigide moralische Schema der linken Sprachpolitik nicht ansatzweise gerecht wird.

Der doppelte Strohmann: Die Verwirrung um Identitätspolitik

Es ist in der Linken Mode geworden, unter Identitätspolitik den Einsatz für die Interessen von minoritären Gruppen – oder besser gesagt: subalternen Gruppen (Frauen etwa sind ja keine Minderheit) – zu verstehen. Das ist ideengeschichtlich nicht nur schlecht informiert, sondern hat ein regelrechtes Chaos im Diskurs über »Neue Klassenpolitik« angerichtet, weil sie die Frage, für wen Politik gemacht wird, mit der Frage gleichsetzt, wie Politik gemacht wird. Denn grundsätzlich sind etwa Feminismus und Anti-Rassismus (aber auch Klassenpolitik) keine Identitätspolitik, sondern (subalterne) Interessenpolitik. Und natürlich hat jede Form von Politik auch immer mit Identität zu tun, weswegen Identitätspolitik sich nicht einfach darüber definiert, das Identität im Spiel ist. Vielmehr ging es bei der (linken) Identitätspolitik stets darum, dass die Zugehörigkeit zu einer deprivilegierten Gruppe bzw. die Identifikation mit dieser ein zentrales Kriterium epistemischer Autorität im politischen Diskurs ist.

Deutlich wird das an ihrer Formierungsphase, als die US-amerikanische Neue Linke – das Epizentrum linker Identitätspolitik – die bedingungslose Unterstützung von nationalen Befreiungsbewegungen als Devise ausgegeben hatte und alle, die sich ihren Postulaten nicht unterordnen, als »objektiv reaktionär« qualifizierte. Es geht also um einen epistemischen Modus von Politik, in dem der kategorische Imperativ über subjektgebundene Definitionsmacht gebildet wird. Insofern stehen Identitätspolitik und Klassenpolitik grundsätzlich nicht im Widerspruch, da auch Klassenpolitik in diesem Modus operieren kann. Allerdings ist gerade eine identitätspolitische Klassenpolitik – d.h. eine Politik, die Angehörige einer bestimmten Klasse zu epistemischen Autoritäten macht – in der Linken nicht sonderlich angesagt. Der Vorstellung, dass ArbeiterInnen allein aufgrund ihrer deprivilegierten Lage das politisch Richtige zu definieren vermögen, steht sie ja durchaus skeptisch gegenüber. Zurecht gilt das vielen als eine zu simplifizierende Epistemologie, da die Welt zu komplex und die Identitätsgruppe zu heterogen ist, als dass sich ihr eine Art Leitbewusstsein zuschreiben ließe.

Diese essentialisierende und anti-aufklärerische Wissenslogik wendet die Linke in Bezug auf Feminismus und Anti-Rassismus aber begeistert an. Das ist der Kern der Kritik an Identitätspolitik, die sich zunächst nur unbeholfen artikulierte, bevor sie zunehmend ihre Sprache fand. Allerdings trifft diese Sprache auf eine Semantik, an der sie abprallen muss. Denn jetzt, wo Identitätspolitik mit subalterner Interessenpolitik gleichgesetzt ist, wird unter nomineller Kritik an Identitätspolitik eine Relativierung von subalternen Interessen verstanden, wo doch ein Modus kritisiert wird, der mit Feminismus und Anti-Rassismus keineswegs in Eins zu setzen ist. Für die einen ist z.B. ›identitätspolitischer Feminismus‹ ein Pleonasmus wie ›weißer Schimmel‹, für die anderen eine fragwürdige Verbindung wie ›illiberale Demokratie‹. Diese Indifferenz im Diskurs über »Neue Klassenpolitik« führt einerseits zu einem Unverständnis über den Sinn der Debatte (warum sollten Klassenpolitik, Feminismus und Anti-Rassismus denn nicht zusammengehen!?) und andererseits zu einem Unverstandensein (will man denn nicht verstehen, wie irrational und regressiv Identitätspolitik ist!?).

Damit ist eine Verwirrung perfekt, die durch ein Strohmann-Argument genuiner IdentitätspolitikerInnen in Gang gesetzt wurde, dem viele Linke auf den Leim gingen (exemplarisch Bini Adamczak im Interview mit Raul Zelik, online hier). Denn als die Kritik am Modus der Identitätspolitik Form annahm, bezichtigten sie diese, Kritik an Feminismus und Anti-Rassismus selbst zu sein, ganz nach dem identitätspolitischen Credo: wer meine Definitionsmacht nicht anerkennt, richtet sich gegen meine Gruppe! Im Ergebnis dieses effektiven Gerüchts muss sich die Kritik an der Identitätspolitik selbst des Vorwurfs erwehren, einen Strohmann der Identitätspolitik zu zeichnen, da diese (also subalterne Interessenpolitik) doch viel facettenreicher sei, als es die Kritik nahelege.

Immerhin sind Diskriminierungslagen so komplex, dass oft unklar ist, wer in der Privilegienkumulation die Nase vorne hat. [70]Zugespitzt gesagt hat sich das »Drei zu Eins« der Triple-Oppression-Theorie innerhalb linker Zusammenhänge in ein »Zwei gegen Eins« gewendet. Besonders deutlich wird das etwa an den Hochschulen, wo die radikale Linke den stärksten politisch-kulturellen Einfluss ausgeübt hat. Obwohl etwa soziale Herkunft das gewichtigste Ausschlusskriterium im Bildungssystem ist (nur wenige Prozent aus bildungsfernen Familien erreichen überhaupt die Hochschule, während das Geschlechterverhältnis auf allen Hochschulebenen vor der professoralen ausgeglichen ist), sind diversitätsfördernde Strukturen für Arbeiterkinder im Gegensatz zu den vielen für Frauen und LGBTIQ-Personen nicht existent (siehe Jürgen Gerhards & Tim Sawert, »Diversität an Hochschulen. Die Solidarität endet an der Grenze zur Unterschicht«, in: Frankfurter Allgemeine, 14. Jan. 2019; online hier). Gleichzeitig kennen linke Hochschulgruppen allerlei Instrumente, die etwa Frauen und People of Color gegenüber weißen und männlichen Gruppenmitgliedern ermächtigen, während niemand auf die Idee kommen würde, armen, weißen Männern Sonderrechte einzuräumen. Dabei liegt hier durchaus eine klassistische Komponente vor, wenn z.B. die linke Rebellin aus der sie stets gut versorgenden ProfessorInnen-Familie jemanden sanktionieren oder blockieren kann, der es unter großen Entbehrungen an die Hochschule geschafft und es dort mangels finanziellem und kulturellem Kapitel besonders schwer hat. Und wie eine Gemengelage interpretiert wird, ist eben standpunktabhängig, so dass vor allem Deprivilegierte gehört werden, die Privilegien des tonangebenden Milieus teilen. [71]Das ist das immanente Problem der Standpunkt-Theorie: In einer komplexen Gemengelage liegen interpersonal immer (mindestens) drei mal drei Dimensionen von Privilegiendifferenz vor. Und welche dabei in der Wahrnehmung zur Geltung kommen, hängt wiederum vom eigenen Standpunkt und seinen blinden Flecken ab. In einer vorwiegend bildungsbürgerlichen Zusammensetzung sollte es daher nicht verwundern, dass vorwiegend feministische und anti-rassistische Deutungen Solidarität erfahren, die mit der bildungsbürgerlichen Hegemonie vereinbar sind. U.a. deswegen ist die linke Identitätspolitik (unbewusst) stets auch ein Instrument der Klassenherrschaft – auch wenn sie sich nominell mit Klassenpolitik verbunden sieht. Dass das im linken Kontext ein bildungsbürgerliches ist, zeigt sich etwa in der dominanten Lesart des Feminismus, die linke Mikropolitik besonders prägt. Dieser gilt es nämlich als frauenfreundlich, Verhaltensfragen viel Raum zu geben und besonders autoritätsfeindlich zu arbeiten. [72]So ist in linken Kreisen ungestümes Redeverhalten als patriarchal kodiert und soll zur Vermeidung männlicher Dominanz die kommunikative Interaktion in besonderem Maße emotionale Aspekte berücksichtigen. Zugleich gilt die aktive Bereitschaft, Erfahrungen einzubringen und Verantwortung zu übernehmen, als männlicher Geltungsdrang, mit dem Frauen ausgebootet werden, weshalb der Raum für derlei Regsamkeit oft stark beschnitten wird. Das steht für ein Frauenbild, in dem Weiblichkeit als still, zaghaft und empfindlich konstruiert ist, häufig gepaart mit der Vorstellung, dass Männer in der Familie die Knute schwingen und Karriere auf Kosten der Frau machen. Falsch ist das nicht unbedingt. Allerdings sollten auch hier Klassenunterschiede beachtet werden. Denn mit den Realitäten der unteren Klassen haben diese aus der Mittel- und Oberschicht stammenden Stereotype weniger zu tun. Aufbrausendes, ja obszönes Redeverhalten, bis hin zu einer Hurensohn-Rhetorik à la Elena Miras, sind dort unter Frauen durchaus üblich und oft nicht einmal anstößig (eher noch kann eine bevormundende Kritik daran zu Konflikt führen), während Männer, die in der Fabrik buckeln (Karriere!), ihnen nicht selten kleinlaut gegenüberstehen. Wer in der Unterschicht aufwächst, wo die materiellen Realitäten andere Kulturen prägen (vgl. Anm. 69), wird jedenfalls weniger von devoten und empfindsamen Müttern berichten können, sondern mehr von solchen, die wacker (und übrigens überproportional häufig Mehrfachmütter und alleinerziehend) den Verhältnissen trotzen und sich keine Empfindlichkeiten leisten können. Insofern reproduziert die Linke mit ihrer Mikropolitik Geschlechtervorstellungen, die aus den tatsächlich patriarchalen Familienverhältnissen des Bürgertums stammen. Es ist gewiss kein Zufall, dass ihre Kodizes der politischen Korrektheit im Wesentlichen dessen biedere und sittliche Etikette widerspiegeln (das sagt man nicht!). Und zusätzlich mischt sich dies gerade in den vergangenen Jahren, durch den Zustrom bildungsbürgerlicher Millennials, mit einer eigenartig infantilen Befindlichkeit. Denn überbehütet und häufig als Einzelkind erzogen, sind sie emotional oft wenig gereift und machen kollektive Deliberationen besonders stark von ihrem individuellen Seeleninnern abhängig, das oft meint, Sonderbehandlungen verdient zu haben. Gerade solche Praxen steigern aber den Aufwand enorm, so dass sie eher für privilegierte Frauen von Interesse sind. Denn wenn generell für die unteren Klassen gilt, dass ressourcenaufwendige Praxen nicht mit ihrer Realität kompatibel sind, dann fällt dies umso mehr bei deren weiblichen Angehörigen ins Gewicht, die durchschnittlich noch weniger Zeit haben. [73]Nach wie vor leisten Frauen mehr Arbeit in der Gesellschaft als Männer. In der EU etwa sind es – allein unter Personen, die eine bezahlte Beschäftigung (Teil- oder Vollzeit) aufweisen – im Schnitt sechs Stunden mehr pro Woche, die Frauen an Produktions- und Reproduktionsarbeit mehr leisten. Hinzu kommt, dass Frauen deutlich früher Mütter als Männer Väter werden. In Deutschland etwa sind es im Schnitt fast sieben Jahre, die Frauen früher in familiären Verantwortungen sind, die ihre Möglichkeiten für ehrenamtliches Engagement beschränken. Gleichzeitig sorgen materielle Zwänge dafür, dass selbst Elternpaare mit alternativen Rollenvorstellungen letztlich doch beim klassischen »Ernährermodell« landen (vgl. dazu Lisa Yashodhara Haller, Elternschaft im Kapitalismus. Staatliche Einflussfaktoren auf die Arbeitsteilung junger Eltern, Frankfurt a.M. 2018). Was also einschließend auf ein privilegiertes Segment der deprivilegierten Gruppe »Frau« wirkt, schließt die Breite der unteren Klassen – einschließlich ihrer Frauen – aus. [74]Mutterschaft, Familie und Reproduktionsarbeit sind nach wie vor die stärksten Faktoren, die Frauen von politischer Partizipation abhalten. Gleichzeitig ist angezeigt, dass zumindest in nicht-konservativen Kontexten (also da, wo Frauen nicht explizit auf alte Rollenverständnisse festgelegt werden) vermeintlich patriarchale Kulturen keine besonderen Ausschlussmechanismen darstellen. So entspricht etwa in fast allen DGB-Einzelgewerkschaften der weibliche Mitgliederanteil in etwa dem Frauenanteil unter den Beschäftigten ihrer betrieblichen Zuständigkeitsbereiche, während sie häufig in den Vorständen und Gremien überrepräsentiert sind, gemessen an ihrem Mitgliederanteil. Und das obwohl diese Organisationen keine so rigide Verhaltens- und Reglementierungspolitik betreiben, wie sie linksradikale Strukturen als Schlüssel für mehr Frauenpartizipation ausgemacht haben. Im Gegenteil, in vielen Strukturen der Linken, die genau darauf besonders stark setzen, ist der Frauenanteil unter den Mitgliedern schlechter. So auch in der FAU. Denn die ohnehin ressourcenfressende Funktionsweise des Horizontalismus wird dadurch nochmals intensiviert. Nicht nur verlangt sie mehr Raum für die Bewältigung der Aufgabenverteilung, auch die politisch geförderten Befindlichkeiten verlangen häufig zeitintensive Klärungsprozesse. Die emotionale Arbeit, die Frauen ohnehin schon stärker in der Gesellschaft leisten müssten, wird so zum Kern auch der politischen Arbeit. Und da, wo auch noch Quotenregelungen bei einem geringen weiblichen Mitgliederanteil dafür sorgen, dass Frauen überproportional ehrenamtliche Funktionen übernehmen, wird die Ausbeutung weiblicher Arbeitskraft nochmal gesteigert. Denn gerade im autoritätsfeindlichen Kontext bringen diese unbezahlten Jobs weniger Macht mit sich, als dass sie eine Drecksarbeit für das vorwiegend männliche Kollektiv darstellen. Zusammengenommen mit den kulturellen Ausschlussmechanismen (vgl. Anm. 69–71) kann solch eine Funktionsweise nur inkompatibel mit der Realität proletarisierter Frauen sein. Statt die Mikropolitik an deren materiellen Sachzwänge anzupassen, verschärfen die inklusiv gemeinten Organisationspraxen sogar noch die klassistisch-sexistische Exklusion. Das heißt: Zur Doppelbelastung von Produktion und Reproduktion fügen sie noch eine dritte Belastung hinzu, die sich nur durch zusätzliche Selbstaufopferung mit den prekären Ressourcen vereinbaren lässt. Womit erneut eine Zusammensetzung reproduziert wird, welche die mikropolitischen Normen bekräftigt und mesopolitische Ziele unterläuft. Auch damit wird der Teufelskreis aus sozialer Exklusivität und epistemischem Versagen angekurbelt, der dem linken Horizontalismus immanent ist.

Im abschließenden Teil wird diskutiert, welche programmatischen Konsequenzen aus den mikropolitischen Erfahrungen zu ziehen sind und wie sich das auf die utopische Vision auswirkt.

Holger Marcks

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Kommentare

  • Steckt wie immer viel Wahres drin. Die vorgeschlagene Lösung gegen Ende, nämlich Zentralismus, wird hoffentlich im nächsten Teil näher ausgeführt und besser belegt. Hier geht es nicht über ein unbelegtes(!) "Die CNT hat das auch so gemacht." hinaus. Das ist aber wahrscheinlich den meisten zu wenig, wo doch die Idee schon wie eine Absage an die Grundprinzipien des Anarchismus daherkommt.

    Achja, und was ich nicht zu sagen müde werde: Bitte schreib doch etwas einfacher. Es ist absolut nicht nötig, den Text so mit Fremdwörtern aufzublähen. Davon abgesehen, dass das natürlich symptomatisch für die deutsche Linke ist, kann ich mir das so erklären, dass du dich damit weniger angreifbar machen willst, vielleicht auch dass dein Text mehr Gewicht bekommt, weil es intellektueller und mehr auf den Punkt wirkt. Aber spätestens ein näheres Hingucken macht das doch eh zunichte, also was soll das?
    Passt auch irgendwie nicht zum Inhalt des Textes, wenn man einerseits kritisiert, dass der Syndikalismus nur noch etwas für Leute mit zu viel Zeit und Bildung ist und dann Strategiediskussionen so zu führen, dass nur Leute mit zu viel Zeit und Bildung daran teilnehmen können.

  • Merkwürdig wie ruhig es bleibt nach so einer Ohrfeige.
    Zustimmung bei der Diagnose: Theoriefeindschaft. Missbilligung gegenüber dem "Man muss die Leute da abholen, wo sie stehen".Es sind nicht die Strukturen der FAU, die ausschließen und fernhalten, sondern die Lohnarbeit und die kleinbürgerliche Familienstruktur.
    Sicherlich ist es auch mal öde oder es geschieht nicht viel, bis auf den Wechsel der Glühbirne(Warum eigentlich?- weil sich der "Klassenkampf" vor Gericht abspielt, am Verhandlungstisch oder gar nicht)- da braucht es Geduld. Außerdem gibt es kein Wissen darüber, wie die neue große linksradikale Organisation zu bauen ist, da tappen alle im Dunkeln, die Erfahrungen der letzten hundert Jahre waren nicht sehr lehrreich; ungewiss, ob es je wieder Massenorganisationen wie in den 20ern geben wird, "Masse" ist die Wirkung der Herrschaft, lässt sich gut "mobilisieren", will sich aber nicht befreien. Und Erfolg kann man haben - den wollen ohnehin die meisten und gehen lieber zum DGB- aber wenn die Ideen über Bord geworfen werden, kommt nur Murks dabei heraus. Das ist kein Plädoyer für Dogmen.

  • Der Artikel spricht mir aus dem Herzen. Der Syndikalismus braucht eine tiefgreifende Reform. Die besprochenen Mechanismen habe ich schon sehr oft erlebt.

  • Ich finde deine Überlegungen die Struktur betreffend anregend. Dass sozialistische Ideen nicht mehrheitsfähig sind scheint mir damit allerdings nicht ausreichend erklärbar. Diese Gedanken sind ja selbst in der Linken marginal - man arbeitet sich lieber an politischen Gegnern ab, zu dem alle erklärt werden, die nicht das eigene engumsteckte Politikverständnis teilen. Und dann hat die Linke offenbar auch einfach keinen Bock tatsächlich in die Alltage der Menschen einzutauchen, was wohl deine Mikroeben meint. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, dass die Linke in weiten Teilen feindlich gegenüber dem Setzen eigener Themen und Mikropolitik eingestellt ist.

  • Ich finde auch, dass der Text einfacher geschrieben werden könnte. Ich zähle mich eher zur Bildungsschicht und habe trotzdem Schwierigkeiten den Inhalt nachzuvollziehen. Wie schon jemand vor mir gesagt hat: die Schreibweise widerspricht dem Inhalt.

    Ich habe selber wenig Praxis und daher wahrscheinlich ein schlechtes Theorieverständnis. Der Artikel hat mich nun doch etwas davor abgeschreckt mich an der FAU zu beteiligen, weil ich nicht den aktuellen AktivistInnen ihre Ressourcen klauen möchte damit sie mich einführen bzw. ich mit der Organisationsform "experimentieren" kann.

    Abgesehen davon finde ich alle Artikel extrem aufschlussreich! Sie finden große Resonanz bei mir! Super!

    • Warum würdest du Ressourcen klauen?
      Also Mitglieder sind ehrlich gesagt sehr wichtig :D. wenn du mit dem Text schon übereinstimmst, bist du sicher irgendwann ein sehr wertvolles Mitglied.

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Veröffentlicht von
Holger Marcks

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