Kultur

Geschichten aus dem Arbeitsalltag

Eine Rezension zum Buch "Spuren der Arbeit. Geschichten von Jobs und Widerstand"

Dass Arbeiter:innen unzensiert zu Wort kommen, war schon das Anliegen von Initiativen wie dem Werkkreis Literatur der Arbeitswelt in den 1970er Jahren. Damals wurden noch Bücher produziert, was oft zeitaufwendig war. In der digitalen Welt ist der Austausch schneller. Unter dem Titel systemrelevant.tv produziert Clemens Melzer seit der Corona-Pandemie Videos, in denen Menschen über die großen und kleinen Probleme am Arbeitsplatz, aber auch über kleine Erfolge gegen ihre Bosse berichten. In den USA nutzen Lohnabhängige zunehmend auch die digitale Welt, um sich auszutauschen.

Ungefilterter Arbeitsalltag

„Ich hatte schon Wochen, in denen sich jeder Traum um die Arbeit drehte. Das ist das Problem im Kapitalismus: nicht nur den Schaden, den er den Arbeiter:innen und Patient:innen zufügt, sondern dass seine Hölle verweilt, in unsere Träume eindringt und sie entwürdigt.“

So beschreibt der Krankenpfleger Scott Nikolas Nappalos, wie ihn seine Lohnarbeit bis in den Schlaf verfolgt. Liberte Locke arbeitet im Einzelhandel und dokumentiert, wie sie der Rhythmus der Arbeit bis in die Freizeit verfolgt:

„Ich bin wach, aber unfähig, produktiv zu sein. Meine Zeit ist nicht meine Eigene. Ich bin ausgestempelt, zu Hause, angeblich in meiner eigenen Zeit, aber ich schlüpfe konstant rein und raus aus dem Bewusstsein.“

Das sind zwei Stimmen von Arbeiter:innen in den USA, die über ihre Situation im Betrieb, über ihre Probleme mit dem Abschalten und dem performanten Stress auf der Online-Publikation Recomposition geschrieben haben. Betrieben wurde sie von Mitgliedern der in den USA und Kanada aktiven Basisgewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW). Dort konnten die Beschäftigten ungefiltert über ihren Arbeitsalltag schreiben, über den Frust und die Langeweile, aber auch über manche kleinen Aktion der Solidarität unter den Kolleg:innen.

Die Website hat die Trump-Ära in den USA nicht überlebt. Doch eine Sammlung der Texte wurde kürzlich von Mark Richter, Levke Asyr, Ada Amhang und Scott Nikolas Nappalos im Verlag Die Buchmacherei herausgegeben. 23 Autor:innen, viele mit Alias-Namen, kommen in dem Buch zu Wort. Einige schuften in der Fastfoodbranche, andere sind LKW-Fahrer:innen, Postangestellte, arbeiteten im Pflegebereich, im Bioladen oder als Lehrer:innen. Das Buch ist in die drei großen Kapitel Widerstand, Zeit, Schlaf und Träume aufgeteilt.

Geschichten bewahren

Am Schluss des Buches diskutierten die Herausgeber:innen mit den ehemaligen Verantwortlichen von Recompostion. Dabei wird betont, dass eben nicht nur über die kleinen und größeren Erfolge im alltäglichen Kampf im Arbeitsalltag, sondern auch über die vielen Niederlagen berichtet wurde.

„Man lernt aus seinen Niederlagen genauso wie aus seinen Erfolgen“,

erklärte die IWW-Aktivistin Marianne. Beklagt wird jedoch, dass viele aktive Lohnabhängige ihre eigene Geschichte nicht aufschreiben, weil sie sie für zu unwichtig halten. Dagegen haben die Macher:innen von Recomposition immer betont:

„Die Kapitalisten schreiben unsere Geschichte nicht auf. Sie werden es niemals tun“.

Tatsächlich waren die sozialen Medien heute eine wichtige Unterstützung beim Arbeitskampf der Beschäftigten des Lieferdienstes Gorillas in Berlin. Deshalb ist die Dokumentation aus den USA auch in Deutschland besonders interessant zu lesen.

Besonders eindrucksvoll ist die Klage über, durch die entfremdete Lohnarbeit, vergeudete Lebenszeit, die in vielen Beiträgen eine wichtige Rolle spielt. So beschreibt Pablo Barbanegra die permanente Schaflosigkeit eines Lehrers, der sich im Unterricht bemüht, die Leidenschaft der Schüler:innen zu fördern und dafür viel Vorbereitungszeit braucht. Sein Beitrag endet mit dem Hinweis auf eine Statistik, nach der 50 Prozent der Lehrer:innen in den ersten fünf Jahren den Beruf aufgeben. Im Personenverzeichnis erfährt man, dass auch Pablo Barbanegra eine Pause vom Lehrerberuf macht.

Es gibt in dem Buch viele Texte, die von Verzweiflung geprägt sind und bei denen kein Hauch von Solidarität zu spüren ist. So schreibt „der Unsichtbare“ einen Essay über einen pakistanischen Journalisten, der sich für Menschenrechte in seinem Land einsetzte, dafür verfolgt wurde und in Kanada Asyl beantragte. Weil die konservative kanadische Regierung unter Stephan Harper mit einer Anti-Asyl-Rhetorik Wahlen gewinnen will, wurde der alte Journalist plötzlich zur Gefahr erklärt und ausgewiesen.

Weiterhin beschreiben viele Autor:innen des Sammelbandes die Passivität und Hoffnungslosigkeit ihrer Kolleg:innen:

„Jedes Mal, wenn ich frage, wie wir gemeinsam gegen unsere Missstände vorgehen können, bekommen ich immer die gleiche zynische Antwort: »Dieser Ort wird sich nie ändern, wir können nichts tun, damit sie sich ändern«“,

so das IWW-Mitglied Monica Costas. Eine Einstellung, die auch in Deutschland leider vielen Gewerkschaflter:innen und Arbeiter:innen bekannt sein dürfte.

Arbeiter:innengeschichten zum Anhören

Doch ab und an taucht in den Geschichten ein Hoffnungsschimmer auf und die oft ähnliche Erkenntnis, dass Arbeitskämpfe unvorbereitet und aus spontanen Situationen heraus entstehen können. Sie erfüllen nicht immer Vorstellungen davon, wie sie abzulaufen hätten oder erfüllen große, idealistische Ansprüche. Und sollte es nicht eher darum gehen, erste Möglichkeiten des Widerstands im Kleinen und dem sozialen Miteinander zu sehen? Somit können die gesammelten Erfahrungen in Spuren der Arbeit Denkanstöße bewirken und eine kollektive Erfahrung bewirken: Was macht mich wütend an meiner Lohnarbeit und wie vielen geht es genauso? Wie hat in dieser Geschichte ein erster Widerstand funktioniert und wie könnte er verbessert werden?

Wie im Vorwort erwähnt können Arbeiter:innengeschichten somit zu einer Form von Wissensvermittlung werden und zu einem vielleicht sogar ausschlaggebenden Werkzeug im kreativen Denken und dem Aufbau von mehr Solidarität der Arbeiter:innen – damit die Antwort auf die oben gestellte Frage irgendwann lautet: „Dieser Ort kann sich doch verändern, wenn wir uns zusammentun.“ So haben die Herausgeber:innen das Buch allen Kolleg:innen gewidmet, „die in ihrer Praxis Feminismus, Antirassismus und Klassenkampf verbinden“. Das Buch kann dazu eine Ermutigung sein.

Eine zu unbekannte Tradition aus dem Arbeiter:innenleben ist das Einsetzen von Vorleser:innen, besonders in Zigaretten-Manufakturen mit besonders gleichförmiger Arbeit im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von diesem schönen Brauch erfolgt hiermit die Einladung, euch Spuren der Arbeit bei eventueller monotoner Lohnarbeit oder auf dem Weg zu ihr anzuhören. Auf open.audio wird ab jetzt jeden Montag ein neues Kapitel veröffentlicht.

Weiterhin findet derzeit eine Lesetour mit den Herausgeber:innen statt.

 

Mark Richter, Levke Asyr, Ada Amhang, Scott Nikolas Nappalos (Hg.). Spuren der Arbeit, Geschichten von Jobs und Widerstand. Verlag Die Buchmacherei. September 2021. 260 Seiten. ISBN 978-3-9823317-1-3, 14 Euro.

Hier geht es zum Buch.

Beitragsbild: Jona Larkin White

Peter Nowak and Jona Larkin White

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Peter Nowak and Jona Larkin White

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