Der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben kann, muss er neu erfunden werden.
Vorbemerkung: Dieser Text wurde bereits 2019 in englischer Sprache veröffentlicht. Hier veröffentlichen wir ihn in deutscher Übersetzung (Fritz Faul). Ein separates Interview mit den beiden Autoren soll folgen.
Der Kapitalismus, in dem wir aufgewachsen sind, ist zusammengebrochen. Seine demokratische Maske ist durchsichtig geworden, seine sozialen Versprechungen ausgehöhlt. In Krisenzeiten gleicht der Kapitalismus einem verwundeten Raubtier, das wahllos um sich beißt. Zwar eröffnen Krisen auch neue Möglichkeiten für Widerstand von Arbeiter:innen. Doch dafür braucht es Organisationen, die diesen auch tragen und verstetigen können. Das letzte Jahrzehnt hat schmerzlich gezeigt, dass es solche Organisationen nicht gibt. Die aktuelle Krise des Kapitalismus ist aber noch lange nicht vorbei. Es gibt noch eine Chance.
Wir sind beide in syndikalistischen Organisationen aktiv. Einer von uns in der Freien Deutschen Arbeiter*innen-Union (FAU), der andere in der Zentralorganisation der Arbeiter in Schweden (SAC). [1]Anm. d. Ü.: Torsten Bewernitz ist mittlerweile kein Mitglied der FAU mehr. Gabriel Kuhn ist mittlerweile bezahlter Generalsekretär der SAC. In diesem Text werfen wir die Frage auf, wo die Zukunft syndikalistischer Organisationen liegt. Unser Vorschlag mag ironisch erscheinen: Um die Massenorientierung des Syndikalismus zu retten, muss die Konzentration auf die Gewerkschaftlichkeit (“unionism“) überwunden werden.
Seit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, dem Brexit-Referendum und dem Aufstieg der extremen Rechten in verschiedenen europäischen und lateinamerikanischen Ländern, wird viel darüber diskutiert, dass die Linke den Kontakt zur Arbeiterklasse verloren habe. Seltsamerweise sind Syndikalist:innen in dieser Debatte weitgehend abwesend. Obwohl doch die syndikalistische Tradition sie dazu prädestinieren würde, eine wichtige Stimme in dieser Debatte zu sein und praktische Erfahrungen zu teilen. Wenn linke Expert:innen über das diskutieren, was oft als „neue Klassenpolitik“ bezeichnet wird, berufen sie sich regelmäßig auf Aspekte der syndikalistischen Tradition: von direkter Aktion, Selbstverwaltung bis hin zu Horizontalismus und Internationalismus.
Dennoch müssen sich die Syndikalist:innen ihre Abwesenheit in solchen Debatten selbst vorwerfen. Der „echte Syndikalismus“ hat sich weitgehend als cliquenhaft, paranoid und damit als sich selbst marginalisierend erwiesen. Diese Haltung erklärt sich zwar teilweise aus der Ablehnung und Feindseligkeit, die wir von den etablierten Gewerkschaften erfahren. Aber das ist noch nicht das ganze Bild.
Ein Grund für den Zustand der syndikalistischen Bewegung ist, dass die Syndikalist:innen dogmatisch an einer bestimmten Organisationsform festhalten. Diese hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in fast hundert Jahren nicht bewährt: die syndikalistische Massengewerkschaft. Seien wir ehrlich: Wenn syndikalistische Gewerkschaften, die seit mehreren Jahrzehnten bestehen, mit vierstelligen Mitgliederzahlen zu kämpfen haben, sind sie als aufstrebende Massengewerkschaften gescheitert. Die spanische CGT ist mit fast 100.000 Mitgliedern die einzige syndikalistische Gewerkschaft, die heute Massenunterstützung für sich beanspruchen kann – und sie wird von anderen syndikalistischen Gewerkschaften oft des „Reformismus“ oder sogar „Verrats“ bezichtigt.
Syndikalistische Gewerkschaften profitieren nicht von der gegenwärtigen Krise der etablierten Gewerkschaften, welche nicht mehr als zehn Prozent des globalen Proletariats organisieren. Und das, obwohl der Neoliberalismus ein neues Heer „unorganisierbarer“ Arbeiter:innen (heute oft als „Prekariat“ bezeichnet) hervorgebracht hat. Eben diese ließen die Reihen syndikalistischer Massengewerkschaften noch vor einem Jahrhundert anschwellen. Kurzum, der revolutionäre Syndikalismus, wie wir ihn kennen, gehört vielleicht der Vergangenheit an. Damit er überleben kann, muss er neu erfunden werden.
Kleinstgewerkschaften können nicht die Antwort sein. Militante Arbeiter:innenorganisationen jedoch durchaus. Eine Gewerkschaft mit tausend Mitgliedern kann nur eine begrenzte Wirkung haben; eine klassenkämpferische Organisation mit tausend Mitgliedern kann eine enorme Wirkung haben, wenn sie aus engagierten Militanten und Organizer:innen besteht.
Das dogmatische syndikalistische Festhalten an der Massengewerkschaft beruht auf einer falschen Interpretation der Geschichte. Das Endziel des Syndikalismus war nicht die Gründung von Massengewerkschaften. Das ultimative Ziel des Syndikalismus war es, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten. Oder, wie es in manch‘ syndikalistischer Präambel heißt, einen „libertären Sozialismus“. Vor hundert Jahren schien der Aufbau von Massengewerkschaften dafür ein gangbarer Weg. Heute ist er es nicht mehr. Das diskreditiert nicht die syndikalistische Idee, die Selbstorganisation und Solidarität der Arbeiter:innen zu stärken, um Kapital und Staat zu bekämpfen. Es bedeutet nur, dass der Syndikalismus sich in anderen Formen ausdrücken muss.
Der Versuch, diese Formen vorzuschreiben, wäre reine Zeitverschwendung. Sie können sich nur aus der Selbstorganisation der Arbeiter:innen entwickeln. Der Syndikalismus ist das, was die Arbeiter:innen tun. Als Philosophie der Aktion erfindet er sich ständig neu. Arbeiter:innen kämpfen auf kreative Weise. Sie vernetzen sich, tauschen Erfahrungen aus und geben sich gegenseitig materielle Unterstützung und analytische Werkzeuge. Hier beginnt der Syndikalismus für das einundzwanzigste Jahrhundert.
Der Syndikalismus, den wir uns vorstellen, kreist nicht ausschließlich um sich selbst. Die Arbeiter:innen gehen ständig Bündnisse ein: mit politischen Parteien, Solidaritätsbewegungen und den großen Gewerkschaften. Syndikalist:innen müssen bereit sein, das Gleiche zu tun, auch wenn dies jedes Mal eine sorgfältige Analyse erfordert. Begreift sich der Syndikalismus als der verlängerte, organisierte Arm der Arbeiter:innenrevolte an der Basis, so ermöglicht er den Syndikalist:innen einen Masseneinfluss. Seine Organisationen müssen von engagierten, klassenkämpferischen Militanten aufgebaut werden, die den Widerstand der Arbeiter:innen an der Basis stärken.
Für einige sind Gewerkschaften immer noch der Inbegriff von Einheit und Kampf der Arbeiter:innenklasse. Für viele der heutigen Arbeiter:innen – insbesondere für die am stärksten ausgebeuteten – bedeuten Gewerkschaften jedoch entweder schlicht nichts, weil sie für ihr Leben nicht relevant sind. Oder sie lehnen sie sogar ab, nachdem sie sich als Zeitarbeiter:innen oder Beschäftigte in prekären Sektoren von diesen im Stich gelassen gefühlt haben. Im günstigsten Fall sehen die Arbeiter:innen Gewerkschaften als Institutionen, die von Professionellen geleitet werden, welche ihnen vielleicht helfen können, mit denen sie aber nichts gemein haben. Die Mehrheit betrachtet sie jedenfalls nicht mehr als Trägerinnen eines radikalen sozialen Wandels.
Wir brauchen Arbeiter:innenorganisationen, die über den Rahmen der heutigen Gewerkschaftlichkeit hinausgehen und eine starke Minderheit von Arbeiter:innen vereinen, die in der Lage sind, ihre Kolleg:innen zu radikalisieren. Konkrete Beispiele wären Vereinigungen von worker’s centers oder lokale Solidaritätsnetzwerke. Worker’s centers sind auch in prekären Sektoren relevant, denn sie können auf Arbeitsmigration reagieren, sie können leicht mit der Organisierung von communities verbunden werden und sie bieten kollektive Räume für eine Arbeiter:innenkultur, die während der neoliberalen Umstrukturierung weitgehend verschwunden sind.
All dies bedeutet nicht, dass wir gegen Gewerkschaften sind. Es ist wichtig, die noch existierenden Bereiche der organisierten Arbeiter:innenmacht zu schützen. Die Gewerkschaften gehören dazu. Je breiter man sich zu organisieren versucht, desto mehr leuchtet einem:einer das ein. Die meisten Syndikalist:innenen wissen, dass sie ohne die Unterstützung der etablierten Gewerkschaften in der Regel nicht sehr weit kommen. Denn diese macht Kampagnen und Arbeitskämpfe effektiver. Wenn die Arbeiter:innen eine Nutzen darin sehen, sind wir auch für Doppelmitgliedschaften. Syndikalistische Organisationen sollten eine Ergänzung, nicht eine Konkurrenz zu den etablierten Gewerkschaften sein. Ihre Aufgabe besteht nicht nur darin, die Arbeiter:innenkämpfe an der Basis zu unterstützen. Sie sollten auch dazu beizutragen, eine Arbeiter:innenkultur zu schaffen, die diese Kämpfe tragen und verstetigen kann. Diese Kämpfe müssen dokumentiert, interpretiert, bewertet und weiterentwickelt werden. Es ist also von entscheidender Bedeutung, von der Theorie zur Praxis überzugehen, d.h. die eigene Politik in den Wirren des Alltagslebens zu entwickeln. Wenn man aus einem „Infoladen“ ein „worker’s center“ macht, indem man einfach den Namen ändert, wird man nichts erreichen.
Auch wenn sich die Linke wieder auf die Klasse konzentriert, betrachten viele Linke die Arbeiter:innenklasse immer noch als etwas ihnen Äußerliches. Das macht die Arbeiter:innen misstrauisch gegenüber der Linken. Häufige Fragen wie „Warum interessiert sie das?“ und „Was wollen sie damit erreichen?“ sind nachvollziehbar. Es gibt gute Gründe, gewerkschaftlichen Organizer:innen gegenüber misstrauisch zu sein, welche sich von der Arbeiter:innenklasse abheben.
Heute besteht eine Kluft zwischen der Arbeiter:innenklasse und der Arbeiter:innenbewegung im globalen Norden. Die Arbeiter:innenklasse ist multinational, weiblich und zunehmend prekär. Die Arbeiter:innenbewegung ist nach wie vor überwiegend weiß, männlich und in den sichersten Sektoren angesiedelt. Wenn diese Kluft nicht überwunden werden kann, wird die Kritik an der Arbeiter:innenbewegung als einer angeblich antiquierten und überholten Tradition tragischerweise Recht behalten.
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Kommentare
Ich finde der Text kündigt sich mit dem Titel ziemlich groß an, sagt dann aber gar nicht mal so viel. Das der historische Syndikalismus gescheitert ist und der aktuelle Syndikalismus an die historischen Bewegungen kaum anschließen kann, ok, Zustimmung. Damit haben wir uns auch im internen Papier "Neue Thesen zur Ausrichtung der FAU" beschäftigt und zwar wesentlich mehr im Detail. Der Text lässt die Frage, warum dem so ist dagegen ziemlich offen. Über bestimmte Entwicklungen geht der Text auch einfach hinweg, z.B., dass der revolutionäre Syndikalismus in Spanien durch verschiedene Organisationen vertreten, durchaus Massenbewegung ist, siehe auch Generalstreiks, dass es dahingehend auch in Italien seit Jahrzehnten spannende Entwicklungen gibt und dass die OZZ IP der Solidarność bei bspw. Amazon und VW den Rang abgelaufen hat. Ich würde die Kernbotschaft des Textes so ähnlich verstehen, wie den Appell, nicht nur auf quantitatives Wachstum zu starren, sondern immer auch die Qualität der politischen Haltung und der Beziehungen innerhalb der syndikalistischen Bewegung mit zu betrachten - eben die Militanz. Gut. Warum das die *Workers Center* allerdings so viel besser schaffen sollen, als eine IP in Polen oder eine CNT in Spanien, das lässt der Text ziemlich offen. Völlig unklar ist mir auch dieser Satz: _Die meisten Syndikalist:innenen wissen, dass sie ohne die Unterstützung der etablierten Gewerkschaften in der Regel nicht sehr weit kommen._ Das deckt sich ehrlich gesagt ungefähr mit nichts, in meinem nunmehr 13 Jahren syndikalistischer Organisationserfahrung. Meiner Erfahrung kann mensch einfach froh sein, wenn einem die "etablierte Gewerkschaft" (wenn mensch denn in der eigenen Branche überhaupt davon sprechen kann) nicht in wilder Konkurrenz-Panik ein Bein stellt beim eigenen Kampf.
Ich finde der Text hätte in seinen organisatorischen Vorschlägen wesentlich konkreter sein sollen und er hätte gut daran getan, sich damit zu befassen, was die tatsächlichen großen Mobilisierungen innerhalb der Arbeiter:innenklasse in den letzten Jahren waren, warum das selten Arbeitskampfthemen waren und warum sie meist nicht aus der Appell- und Symbolpolitik heraus kamen und dann durch geringe Selbstwirksamkeitserfahrung "on the long run" wieder demobilisierend wirkten.