Hintergrund

Treffen zum 150jährigen Jubiläum der Ersten Antiautoritären Internationalen vom 19. bis 23. Juli 2023 in St. Imier

Ein Bericht aus anarcha-feministischer Perpektive.

Einerseits war der Kongress, der vom 19. bis 23. Juli 2023 in St. Imier stattfand, absolut beeindruckend: das Orgateam wusste nicht, wie viele Menschen überhaupt kommen, und bekam es logistisch hin, 5000 Menschen mit Mahlzeiten (inklusive Sondermahlzeiten für Allergiker*innen), Zeltplätzen und sanitären Anlagen zu versorgen.

Andererseits war das Treffen keineswegs so harmonisch und solidarisch, wie es zunächst wirkte. Während des Kongresses meldete sich das Careteam mit einer schriftlichen Info an die Teilnehmenden, in welchem erklärt wurde, die Arbeitsbedingungen auf dem Camp seien so anstrengend und unzumutbar, dass mehrere sich aus dem Careteam zurückzogen. Und in der Halle wurde ein Büchertisch umgekippt, worüber gegenseitige Vorwürfe kursierten.

Ich sehe drei Grundproblematiken bei der Organisierung eines so großen antiautoritären Kongresses: erstens die Verteilung der Aufgaben, vor allem des Mental Load, auf möglichst viele Teilnehmende, zweitens die Frage, wie Menschen mit vielen unterschiedlichen und zum Teil widersprechenden Überzeugungen zusammengebracht werden, und drittens die solidarische Integration aller Menschen, die Lust auf dieses Treffen haben.

Es gab zwar viele Gruppen, die sich im Vorfeld zusammengeschlossen haben, um das Treffen zu organisieren. Einer der Köch*innen erzählte mir, dass es allein 9 Kochgruppen gab, die alles organisiert hatten und dann die vielen Freiwilligen vor Ort anleiteten. Aber tatsächlich suchten die Orgateams bis zum Ende des Camps Freiwillige zum Gemüseschneiden und Abwaschen. Die Mindestanforderung war es, sich zwei Stunden lang einzubringen – ich schätze, selbst diese kurze Zeit haben etliche der 5000 Teilnehmenden ignoriert und lieber wie bei einem Festival konsumiert, so dass die Arbeit doch an weniger Menschen hängenblieb.

Das zweite Problem ist auch bei einem anarchistischen Treffen, dass der Grundkonsens eben nicht alle Einstellungen abdeckt. Standardstreitpunkte sind Israel/Palästina, Sexismus, Rassismus – aber auch andere Punkte, bei denen Menschen bzw. Gruppen sich anderen gegenüber respektlos, übergriffig, diskriminierend oder dogmatisch verhalten.

Die dritte Problematik ist die der solidarischen Integration aller Interessierten. Ich habe in der ganzen Zeit extrem wenig Kinder gesehen und war froh, ohne meine Kinder angereist zu sein. In der Graswurzelrevolution las ich hinterher den Bericht einer Genossin, die ihre Erfahrungen mit Tochter beschrieb: eigentlich hat sich fast niemand um die Kinder gekümmert, die Kinderbetreuung war ganz oben auf dem Berg, so dass es zeitlich kaum zu schaffen war, zu Veranstaltungen zu kommen, und mit Verpflegung und Beschäftigung war die Genossin dann auch ziemlich alleine. So stelle ich mir eine Vorwegnahme einer freien Gesellschaft nicht vor. Und Kinder sind ja nur eine der vernachlässigten Gruppen.

In dem speziellen Fall von St. Imier frage ich mich, ob die geographische Beschaffenheit Menschen mit Einschränkungen in der Mobilität von vorne herein abgeschreckt hat. Cécile Lecomte, bekannt als „Eichhörnchen“ des gewaltfreien Widerstands, hat von den Schwierigkeiten berichtet, überhaupt mit dem Zug anzureisen, weil die Umsteigezeiten vor Ort zu kurz waren und es keine oder schlechte Unterstützung beim Ein- und Aussteigen seitens der Bahn gab. Ich habe sie nicht gefragt, wie oft sie in St. Imier von ganz oben (Filmsaal und Kinderbetreuung) nach ganz unten (Essen, Halle mit Büchertischen) gekommen ist.

Integration ist aber auch, für alle Menschen verständlich zu sein. Es wurde sehr gut organisiert, dass große Veranstaltungen in bis zu 10 Sprachen übersetzt wurden – mithilfe vieler Teilnehmender. Aber die vielen kleinen Veranstaltungen wurden nicht übersetzt, d.h. Gehörlose oder Menschen, die nicht Englisch, Französisch oder Deutsch sprechen, hatten nur eine eingeschränkte Anzahl von Veranstaltungen zur Auswahl. Und barrierefrei war auch nicht die Übersicht über die Veranstaltungen: statt gedruckter Programme war alles nur online einsehbar und das bei einem häufig zusammenbrechenden Netz.

Vielleicht können bei einem nächsten Treffen dieser Größenordnung sich alle vorher einer Untergruppe anschließen und im Vorfeld mit Anderen Aufgaben übernehmen? Denn insgesamt ist es ja eine empowernde Art des internationalen Austauschs und wir sollten uns durch die Probleme in St. Imier nicht entmutigen lassen!

Vera Bianchi

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Vera Bianchi

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