Auch in diesem Jahr findet vom 16. bis 18. November 2018 wieder der A-Kongress „Anarchistische Perspektiven auf Wissenschaft" an der Universität Hamburg statt. Ein persönlicher Rückblick und Bericht eines Beteiligten.
Die „Anarchistischen Perspektiven (auf Wissenschaft)“ entstanden zunächst aus einer Initiative der Hochschulgruppe AL („Alternative Linke“). Nachdem diese für eine angemessene Anschubsfinanzierung durch eine Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gesorgt hatte, wurden einschlägige Gruppen und potentiell Interessierte aus Hamburg und Umland zu einer Teilnahme an der Orga eingeladen. So bin auch ich im Mai 2015 hinein geraten.
Wie in unserem Begrüßungstext auf a-perspektiven.org beschrieben, besteht das wesentliche Ziel des Kongresses „in anarchistischer Diskurspflege, also in Schaffung von Öffentlichkeit und Selbstverständlichkeit für anarchistische Thematiken, um auf diesem Wege das Interesse an anarchistischer Vielfalt und ein Bedürfnis nach Anarchie zu fördern“.
Weiter verengende Schwerpunkte, außer den des Anarchismus, setzen wir nicht. Im Gegenteil, es wird versucht, möglichst viele Ansätze abzubilden, um Pluralität als Stärke des Anarchismus anzubieten. Dabei behalten wir uns selbstverständlich ausdrücklich vor, unter dem anarchistischen Label gänzlich inakzeptabel firmierende Ideen wie „Anarchokapitalismus“ oder „Nationalanarchismus“, die mit Herrschaftslosigkeit kaum bis gar nichts zu tun haben, keine Plattform zu bieten. Doch sei dabei erwähnt, dass es aus diesen Richtungen bisher keinerlei Bestrebungen gab, einen Programmplatz zu ergattern. Gleichwohl bekamen wir dieses Jahr tatsächlich eine nicht mal anonyme Zuschrift, die uns erst für das ehrenwerte Projekt gratuliert, um umgehend zu monieren, dass wir uns nicht mit der „nahezu ungebremsten Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ beschäftigen, also der Frage, die angeblich derzeit alle beschäftigen würde.
Über die Einladungspraxis gab es anfangs noch sehr ausführliche Debatten. Im ersten Jahr wurden alle Gäste gezielt eingeladen. Es kannte uns ja auch niemand. Im zweiten Jahr wurde dann ein sogenannter Call, also ein Aufruf, veröffentlicht. Der wurde leider etwas kompliziert geschrieben und nicht genügend verbreitet, so dass es daraufhin nicht ausreichend Angebote gab. Deswegen wurde im Sommer 2016 zunächst wieder auf die klassische Einladungspraxis zurückgegriffen.
Seit dem dritten Jahr wird auf einen klassischen Call verzichtet, aber im Begrüßungstext ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir uns über Unterstützung und inhaltliche Angebote freuen. Deswegen, und wohl aufgrund gestiegener Bekanntheit, bekamen wir 2017 genügend Zuschriften, so dass wir nun die angenehme Möglichkeit besaßen, das Programm mit einer Mischung aus Wunschgästen und „Freiwilligen“ gestalten zu können. So in etwa funktionierte das auch dieses Jahr. Wer aus der Orga jemand bestimmtes einladen wollte, meldet das kurz an und sofern es kein Veto gibt, führt diese Person die Einladung am besten auch selber durch.
Dabei wird stets versucht, ausgewogene Verhältnisse zu befördern. Das ist teilweise gut gelungen, was die anarchistische Ideenwelt betrifft, oder das Verhältnis von bekannten Namen zu „Neulingen“. Doch Lücken entstehen trotzdem immer. Wo etwas besetzt wird, fehlt automatisch der Platz für etliche andere wichtige Anliegen. Nach durchaus nicht unberechtigter Kritik am fehlenden Frauenanteil im zweiten Jahr, woran leider eine Reihe unglücklicher und kurzfristiger Absagen entscheidenden Anteil hatten, haben wir 2017 penibel darauf geachtet, dass alle Veranstaltungen (Vorträge, Workshops, Podium) mindestens zur Hälfte mit Frauen und Nicht-Cis-Männer zu besetzen waren. Diese Politik haben wir in diesem Jahr wieder leicht gelockert. Jedoch soll und darf es keinen Kongress mehr ohne feministischen Anteil geben.
Am Anfang war vieles noch sehr turbulent. Eine große, heterogene Gruppe von bis zu 25 Leuten führte fast zwangsläufig zu langen und unproduktiven Sitzungen. Nach und nach wurde die Gruppe zwar übersichtlicher, doch wurden plötzlich veraltete Hamburger Konflikte in die Orga getragen. So bestand ein älterer Mitstreiter darauf, dass keine Personen der FAU Hamburg oder Roten Flora teilnehmen dürften. Das wurde selbstverständlich abgelehnt, blockierte jedoch wochenlang eine vernünftige Planung. Dieser holprige Start führte dazu, dass im zweiten Jahr die Orga mehr oder weniger neu zusammengesetzt wurde. Ein paar Leute gingen, andere kamen neu dazu. Man musste sich also wieder neu finden und so lief auch jenes Jahr nicht immer alles gänzlich konfliktfrei. (… wenngleich lange nicht so dramatisch als noch das Jahr zuvor.)
Auch die Finanzierung musste neu gedacht werden. Erstens war kein Nachschub aus der Ursprungsquelle zu erwarten. Zweitens führte der Umstand, dass im ersten Jahr der Bundestruthahn mit auf das Plakat genommen werden mussten, verständlicher Weise zu spöttischer Kritik. Seither wird der größte Anteil der Finanzierung durch Hamburger Asten (Allgemeiner Studierendenausschuss) getragen. (Ein großes Dankeschön an den HAW-AStA, ohne den unsere Kassen wahrscheinlich längst ratzekahl leer wären!). Zusätzlich wurde sich bemüht, weitere Geldgeber zu gewinnen, welche schließlich bei der FAU und Cafe Libertad gefunden wurden.
Doch auch nach der zweiten Runde sprangen wieder mehr Leute ab, als neue dazu kamen. Einige von ihnen kündigten an, nur temporär aussteigen zu wollen, um ihre Kräfte für die G20-Vorbereitungen bündeln zu können. So sind wir 2017 auf etwa sechs bis sieben Leute zusammengeschrumpft. Das hieß im Schnitt mehr Arbeit für jeden, doch hatten wir dabei eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit und entsprechend viel Freude bei der Planung und Durchführung des Kongresses.
Eine Konsequenz, die aus den Vorjahren gezogen wurde, war eine strenge zeitliche Begrenzung der Plena. Das zwang uns die gegebene Zeit gut zu nutzen und verhinderte endlose und erschöpfende Sitzungen, in denen bis in die Nacht über Farbtöne, Satzzeichen und ähnliche Nebensächlichkeiten debattiert wurde, Sitzungen, bei denen am Ende sich regelmäßig diejenigen durchsetzen konnten, die am nächsten Tag nicht unbedingt früh aufstehen mussten.
Inzwischen sind wir ein eingespieltes Team. Dennoch bleiben wir weiterhin explizit offen für neue Leute. Ein solches Projekt braucht immer wieder frische Einflüsse und die Verbliebenen sollten nicht Gefahr laufen müssen, sich irgendwann als reine Dienstleister wahrzunehmen.
Realistisch betrachtet wird der Anarchismus auf absehbare Zeit wohl keine entscheidende Rolle spielen. Um so wichtiger ist es, die eigenen Verbreitungskreise zu erweitern. In Zeiten, in denen der diskursive Rechtsrutsch unübersehbar wirkt, ist es um so bedeutsamer, emanzipative Gegengewichte zu bilden.
Anarchismus über die Universität zu verbreiten, erweist sich dabei als sehr widersprüchliche Angelegenheit. Einerseits können Menschen erreicht werden, die sich nur schwerlich in einen dunklen Szeneladen ziehen lassen würden. Zugegeben, der überwiegende Teil des bisherigen Publikums bestand aus den üblichen Verdächtigen, doch verirrten sich auch immer wieder ein paar Neugierige zu uns, die dann zudem sehr kontaktfreudig waren. Und wenn diese Leute erst mal soweit sind, dass sie gerne zugeben, dass es sich um erstrebenswerte Ideen handelt und dem Anarchismus lediglich mangelnde Realisierbarkeit zu unterstellen ist, kann sehr einfach darauf hingewiesen werden, dass auch die herrschenden Ideen, allen voran Demokratie, immer nur aus Idealen und Zielvorstellungen bestehen.
Somit trägt dieses Format bescheiden dazu bei, Miss- und Fehlverständnisse im Bürgerlichen abzubauen. Wie könnten diese Kinder der europäischen Aufklärung, den auf die Spitze getriebenen Humanismus, die höchste Vereinigung von Gerechtigkeit und Freiheit, denn bloß nicht gut finden? Andererseits darf keinesfalls ignoriert werden, dass Universitäten zu den autoritätserzeugenden Institutionen überhaupt gehören und dass gerade sie wesentlich zur herrschaftlichen Segmentierung der Gesellschaft über Bildung und Titel beitragen. Entsprechend darf auch die Janusköpfigkeit von Bildung nicht verkannt werden. Sie eignet sich zwar durchaus zur geistigen Selbstermächtigung und damit zu einer Ausweitung persönlicher Handlungsmöglichkeiten. Doch schafft Bildung alleine noch keine bessere Menschen und das Wissen um Anarchismus noch nicht automatisch Anarchist*innen.
Wir wollen dennoch alle Menschen ermutigen, sich Bildung kritisch anzueignen, sie dabei aber nicht zu glorifizieren; sich zu ermächtigen, um sogleich reflektierten Machtverzicht zu üben; keine Scheu zu haben, Anarchismus in die Seminare, Kolloquien und Abschlussarbeiten zu tragen, sofern es eben das ist, mit dem man sich wirklich gerne beschäftigt.
Für das Wissen um Anarchismus – für die Anarchisierung des Wissens!
Freitag, 16. November
17:00 Begrüßung
18:00 Louise Michel – Die Anarchistin und die Menschenfresser – Eva Geber
20:00 Video zu den Libertären Tagen 1993 – dem wohl bis heute größten anarchistischen Kongress in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg – Thomas Schupp
Samstag, 17. November
10:00 Premium – Kollektivbetrieb 2.0 – Premium Cola
12:00 Workshops I
15:00 Workshops II
17:30 Die Antinomie des Denkens des Pierre Joseph Proudhon – Werner Portmann
19:30 Feministische Potentiale revolutionär-syndikalistischer Wirtschaftsbegriffe am Beispiel der Internationalen Arbeiter-Assoziation (seit 1922) – Theresa Adamski
Sonntag, 18. November
10:30 – Capulcu Kollektiv
13:00 Abschlussplenum
Interview mit Torsten Bewernitz und Gabriel Kuhn.
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Kommentare
Danke für den Artikel. Bis jetzt kenne ich eure Veranstaltung seit Entstehen v.a. dem Namen nach. Das diesjährige Programm erscheint mir v.a. wie das Programm von "Libertären Tagen" o.ä. anderen Orts, nur eben mit Zielpublikum an der Uni. Das finde ich ein wenig Schade. Bis jetzt hatte ich mir vorgestellt, eure Veranstaltung bietet eine Art Kongress an dem sich Wissenschaftler_innen der verschiedensten Bereiche wie Sozialwissenschaftler_innen, Historiker_innen, Physiker_innen, Verkehrs- und Stadtplaner_innen über ihre explizit anarchistischen Gedanken zu ihren Wissenschaftszweigen austauschen und vielleicht auch die Formung von dahingehenden Instituten vorzeichnen können. Wurde sowas in Erwägung gezogen? Bedarf dafür nehme ich immer wieder wahr. Auch sonst ist der Artikel v.a. informativ bzgl. Planung größerer Events, inhaltliche Outputs hätten aber gern ausführlicher dargestellt werden können bzw. sind vielleicht auch noch einen eigenen Artikel wert.
Lieben Gruß!
Hallo,
ja, irgendwie kommt mir der Titel bei dem Programm auch falsch herum vor - sind das nicht eher wissenschaftliche Perspektiven auf den Anarchismus und keine anarchiste Perspektive auf die Wissenschaft?
Grüße