Globales

Von Lieferbrüdern, Streiks und Papiertigerwelpen

Nicht nur Deliveroo und Foodora erregen international Aufsehen wegen der schlechten Arbeitsbedingungen. Auch in China boomt die Branche. Die gewerkschaftliche Organisation ist aber ein Problem.

In China boomt der Markt für Essenslieferungen noch mehr als in den Großstädten Europas. Überall an Straßenkreuzungen, vor Restaurants und an den Eingängen von Bürogebäuden sieht man die 外卖小哥, sprich: Waimai Xiaoge, zu Deutsch: Lieferbrüder. Der Boom begann 2015 und hält weiter an. Aber zugleich ist dieser Boom ein einziges Hauen und Stechen, das auf dem Rücken der Fahrer und Fahrerinnen ausgetragen wird. Vor ein, zwei Jahren gab es etliche Essensbestellplattformen, heute sind es eigentlich nur noch drei, Meituan, Ele.me und Baidu Waimai, wobei letztere vor einem halben Jahr von Meituan geschluckt wurde.

Ein Meituan-Fahrer kämpft sich durch eine Überschwemmung.

Als das Geschäft neu war, haben Essensbestellplatt–formen um Fahrer*innen geworben und höhere Honare pro Lieferung gezahlt, zum Teil 8 Yuan, also 1,10 Euro pro Lieferung. Seit einem Jahr sind die Firmen aber etabliert und die Löhne nicht mehr so gut. Jetzt liegen sie bei ca. 70 Cent pro Bestellung. Im Monat können die Beschäftigten auf ca. 4000 Yuan, wenn sie nur ein oder zwei Tage im Monat frei machen sogar auf 6000 Yuan, kommen. Das ist deutlich mehr als die üblichen Fabriklöhne von durchschnittlich 3000-4000 Yuan einschließlich Überstunden.

Viele Fahrer*innen sind jung und fahren nur vorübergehend Essen aus. Die Großstädte und Industriemetropolen an den Küsten, Beijing, Shanghai, Shenzhen und Guangzhou ziehen Millionen von Wanderarbeiter*innen an. In diesem Jahr sind es etwa 280 Million, die in der Regel nur zum Neujahrsfest in ihre inländischen Heimatorte und Dörfer zu Familie und Kindern zurückfahren. In den Industriestädten sind die meisten Fahrer*innen Wanderarbeiter*innen, die keinen örtlichen Hukou besitzen, der ihnen Zugang zu Bildungssystem, Gesundheitsversorgung und anderen Diensten der öffentlichen Versorgung geben würde. Wer einen ordentlichen Arbeitsvertrag hat, sollte damit auch eine Krankenversicherung und zu einem bescheidenen Maß Zugang zu einem unterfinanzierten Gesundheitswesen haben. Aber nur etwas mehr als die Hälfte der Wanderarbeiter*innen verfügt über einen Arbeitsvertrag und viele werden auch um die Krankenversicherung betrogen. Auch unter den Fahrer*innen sind Arbeitsverträge sehr selten und nahezu alle, mit denen ich gesprochen habe oder von denen ich gehört habe, arbeiten als Freelancer.

Nur sehr wenige Frauen arbeiten als Essensfahrerinnen. Die meisten sind Männer. Deutlich mehr Frauen arbeiten in Restaurants oder in Küchen und bereiten dort die Bestellungen zu. Junge Fahrer*innen bleiben typischerweise nicht lange, vielleicht einige Monate oder bis zum nächsten Neujahrsfest. Sie hauen in den Sack, sobald sie eine etwas bessere Arbeit finden. Ältere Arbeiter*innen ab vierzig Jahren werden in Fabriken oft nicht mehr angestellt und wenn sie nur eine einfache Schulausbildung haben, haben sie oft nur die Wahl zwischen Essens- und Paketauslieferung oder Sicherheitsdiensten. Sie arbeiten über längere Zeit, durchaus einige Jahre. Lieferdienste sind Arbeiter*innenjobs, Studierende jobben dort selten.

Alltag auf dem Fahrrad

Die Beschäftigungsverhältnisse der Fahrer*innen sind sehr unterschiedlich und chaotisch, denn neben den beiden großen Plattformen Ele.me und Meituan gibt es zahlreiche kleine Subunternehmen, die Aufträge von den großen Plattformen annehmen und Fahrer*innen für sich arbeiten lassen. Dazu kommt Crowdsourcing (zhongbao). Die meisten Beschäftigten werden pro Lieferung bezahlt und erhalten keinen Basislohn pro Stunde. Sie können sich jederzeit über die Handy-App einloggen, dann erhalten sie verfügbare Aufträge angezeigt und können sie annehmen oder ablehnen. Es gibt keine Beschränkung der Arbeitszeit, in der man der App eingeloggt sein und Aufträge annehmen und ausführen kann. Wenn die Strecke zwischen Restaurant und Zielort weit ist, erhalten sie mehr Geld, oder eben weniger, wenn die Strecke kurz ist. Zum Beispiel gibt es für Lieferung, bei der das Restaurant 150m und die Kundin weitere 2,4 km von der aktuellen Position der Fahrer*innen entfernt ist, 5 Yuan, also 70 Cent. Die meisten Aufträge gibt es natürlich um die Mittags- und Abendzeit.

Fährt man den ganzen Tag, ist geübt und macht während der Stoßzeiten keine Pausen, so kann man 25 bis 40 Lieferungen an einem Tag schaffen. Das ist mehr als Fahrer*innen in Berlin oder London ausliefern, was damit zusammenhängt, dass chinesische Städte viel dichter besiedelt sind und Häuser oft neun und mehr Stockwerke haben. Wenn man Glück hat, kann man gleich mehrere Lieferungen auf einmal in ein Hochhaus liefern und – wenn man noch mehr Glück hat – mit dem Fahrstuhl fahren. Hat man Pech, muss man für nur eine einzige Lieferung die Treppen in den neunten Stock hochlaufen. Fahrer*innen, die gerade angefangen haben, können nur ein oder maximal zwei Lieferungen parallel annehmen. Arbeiten sie längere Zeit für die App, können sie bis zu sechs Lieferungen gleichzeitig ausfahren. Sie schauen dann, ob die Lieferungen günstig oder im besten Fall auf einer Strecke liegen und versuchen so selbst zu entscheiden, wie sie die Wartezeit zwischen Lieferungen verkürzen, beziehungsweise die Arbeit verdichten können.

Die größte Gruppe von Kunden*innen, die Essen bestellen, sind Büroangestellte, die sich Essen auf die Arbeit liefern lassen. Ins eigene Haus lassen sich insbesondere ältere Menschen und Menschen Essen liefern, die zu Hause auf Kinder aufpassen und nicht selber kochen wollen. Unter den Bestellenden finden sich nur wenige Studierende. Die meisten Lieferungen kosten mehr als 20 RMB (ca. 1,90€). Selten gibt es Bestellungen im Wert von 300 RMB (40€). Wie der Onlinehandel dienen auch die Essenslieferungen dazu, häusliche Reproduktionsarbeit als externe Dienstleistung zu kommerzialisieren.

Meituan-Fahrer*innen in Kunming streiken aus Protest gegen Lohnsenkung.

Wie in Europa auch müssen die Arbeiter*innen ihre eigenen Mobiltelefone und Fahrzeuge stellen. Zum überwiegendsten Teil sind dies Elektrofahrräder, die aber eher wie elektrische Mopeds aussehen. Neben Anschaffung und Reparatur müssen sich Fahrer*innen auch um die Batterien und Aufladung kümmern, denn allein während einer mittäglichen Stoßzeit wird eine Akkuladung aufgebraucht. Für den Nachmittag und Abend braucht man dann einen zweiten Akku. Manche benutzen auch Motorräder mit Benzinmotor. Sie bevorzugen die langen Strecken, für die es ein höheres Honorar gibt.

Willkür der Bosse – Streiks der Fahrer

Zu den größten Problemen der Beschäftigten zählen die Unsicherheiten bei der Bezahlung, also willkürliche Senkungen der Honorare und Lohnzurückhaltung, Verkehrsunfälle und die Bestrafungen für verspätete Lieferung. Für eine Lieferung haben die Fahrer*innen 30 Minuten Zeit, verspäten sie sich um fünf Minuten, erhalten sie nur noch die Hälfte des Honorars. Verspätungen ab 30 Minuten gelten als Lieferausfall. Dann muss die Lieferung selbst bezahlt werden (oft 30-50 RMB). Dadurch stehen die Fahrer*innen unter krassem Zeitdruck. Durch die sozialen Medien geistern regelmäßig Videos, die den Stress veranschaulichen. So zeichnete eine Überwachungskamera in einem Fahrstuhl auf, wie ein Fahrer mit verschiedenen Lieferungen in beiden Händen in Tränen ausbricht, weil der Fahrstuhl stecken bleibt. In einem anderen Fall mühte sich ein verletzter Fahrer nach einem Verkehrsunfall wieder auf die Beine, um noch rechtzeitig auszuliefern.

Unter diesem Druck werden rote Ampeln überfahren oder auf baulich getrennten Straßen die Gegenfahrbahn genutzt. Die Zahl der Verkehrsunfälle mit Beteiligung von Lieferant*innen nimmt unweigerlich zu. Im letzten Jahr gab es etliche Schlagzeilen zum Anstieg solcher Unfälle, aber weder Journalist*innen noch Verkehrsämter setzten die Zahl der Verkehrsunfälle von Essenslieferdiensten ins Verhältnis zu denen anderer Verkehrsteilnehmer*innen. Daher lässt sich schwer sagen, ob sie tatsächlich unfallgefährdeter als andere sind. Die Lieferunternehmen sind nicht bereit, den Zeitdruck auf die Beschäftigten zu mindern. Stattdessen antworteten sie nur mit heißer Luft und leeren Gesten und stellen es Fahrer*innen frei, zu Beginn eines Arbeitstages eine Unfallversicherung von 2-3 RMB pro Tag zu kaufen. In der Praxis hilft diese aber bei Unfällen wenig und versucht die Schuld auf die Lohnabhängigen abzuwälzen.

In der Vergangenheit kam es immer wieder zu Kämpfen von Fahrer*innen. Oft geht es um ausstehende Löhne. Als Kampfform wurden Streiks und die Blockade von Restaurants gewählt, um auch die Arbeit nicht-streikender Kolleg*innen zu stoppen. Am 5. September 2017 versammelten sich Fahrer von Meituan auf dem Gehweg einer Hauptverkehrsstrasse in Kunming, um gegen eine abrupte Kürzung der Honorare und der Lieferzeiten zu protestieren. Statt wie vorher 6,5 RMB pro Lieferung, sollten sie nur noch 4 RMB erhalten und für eine Lieferung nicht mehr 43 sondern nur noch 37 Minuten Zeit haben. Dadurch fiel der Lohn eines durchschnittlichen Arbeitstages von vorher 200 auf 120 RMB. Vier Fahrer, die sich in Chatgroups darüber beschwert hatten, wurden als Reaktion aus der App von Meituan ausgeschlossen und können nicht weiterarbeiten.

Ele.me-Fahrer protestieren wegen Lohnrückständen

Ob die Proteste das Unternehmen zum Nachgeben zwingen konnten, konnten wir leider nicht feststellen. Ebenfalls Anfang September protestierten Fahrer*innen, die in Beijing für einen Subunternehmer von Ele.me arbeiten, wegen ausstehender Lohnzahlungen. Bei über 40 Beschäftigten summierten sich die Rückstände insgesamt auf über 200.000 RMB und oft mehr als zwei Monatslöhne pro Fahrer*in. Die Arbeiter*innen brachten den Fall vor das lokale Arbeitsgericht, aber trotz Schlichtungsentscheid zahlte der Boss nur einen Bruchteil, woraufhin die Fahrer*innen den Protest begannen. Leider konnten wir auch hier nicht herausfinden, wie es ausging.

Widerstand in einem autoritären Staat

Es ist sehr schwierig für die Fahrer*innen sich zu vernetzen. Obwohl es in den großen Städten sehr viele von ihnen gibt, kommt bei den Protesten oft nur ein kleiner Teil zusammen. Schuld daran ist auch die Subunternehmerstruktur. Die Fahrer*innen kennen sich nicht und begegnen sich nie oder sehr selten. Viele arbeiten auch nur für eine kurze Zeit für eine Plattform oder ein Subunternehmen. Hinzu kommt, dass in China unabhängige Gewerkschaften und eigenständige Zusammenschlüsse von Arbeiter*innen im Keim unterdrückt werden. Es gibt zwar informelle Netzwerke von Fahrer*innen, wie zum Beispiel Chatgruppen, in denen man sich gegenseitig Tipps und Warnungen vor Polizeikontrollen gibt, aber derzeit ist es unmöglich längerfristige Strukturen zur gemeinsamen Gegenwehr gegen die Willkür der Lieferplattformen aufzubauen. Eine Struktur ähnlich wie die FAU kann es in der gegenwärtigen Ära hier nicht gegeben.

Die einzige gewerkschaftliche Struktur ist daher der Allchinesische Gewerkschaftsverband (ACFTU), der in der Vergangenheit als Papiertiger die Arbeiter*innen in den Staatsbetrieben organisierte, aber weder die Macht noch den Willen zu Arbeitskämpfen oder Streiks hat. Wegen des Abbaus der Staatsbetriebe und dem Mitgliederschwund und anderseits sehr resoluten Kämpfen in Sektoren wie beispielsweise dem Automobilsektor geriet die Staatsgewerkschaft unter Druck. Sie soll Arbeitskämpfe wirkungsvoller kontrollieren – und experimentiert dazu in ausgewählten Betrieben mit eingeschränkten Formen von Tarifverhandlungen. Ebenso soll sie mehr Einfluss auf informell Beschäftigte erlangen. Vor diesem Hintergrund ist die Gründung der ersten chinesischen Gewerkschaft für Essenslieferdienste zum Jahreswechsel 2017/2018 in Shanghai zu sehen. Es wird sehr wahrscheinlich keine kampfwillige Initiative, in der sich die 3000 täglich arbeitenden Fahrer*innen selbstorganisieren. In der Ankündigung zur Gründung geht es auch hauptsächlich um kulturelle Angebote und – immerhin – Rechtsberatung.

Wahrscheinlich werden Gewerkschaftssekretäre versuchen, Bosse von Lieferdiensten an einen Tisch zu laden und mit ihnen über Löhne bzw. Honorare verhandeln. Über die Verhandlungsführung und darüber, inwieweit die Sekretäre tatsächlich die Forderungen der Fahrer*innen vertreten, sollte man sich keine Illusionen machen. Interessant könnte aber zu beobachten sein, wie die Gewerkschaft auf Probleme wie Lohnraub, Unfälle u.ä. reagiert, denn sie wird künftig als eine Ansprechpartnerin in solchen Fällen gesehen werden. Für die Situation bei den Lieferdiensten ist, wie beschrieben, das Adjektiv “chaotisch” fast schon eine Beschönigung, hier wird es auch in Zukunft und gerade auch mit Gewerkschaft nicht an Problemen mangeln.

Freiheit bei der Organisierung hatten hingegen die Fahrer*innen bei Deliveroo in Hong Kong, die im Januar für zwei Tage streikten. Dazu an anderer Stelle mehr.

Gustav Feder

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Gustav Feder

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