Warum die syndikalistische Gewerkschaftsbewegung solidarische Kieze braucht - ein Beitrag aus dem syndikalistischen Taschenkalender.
Syndikalistische Bewegungen wollen einerseits im Hier und Jetzt die Lage der Lohnabhängigen innerhalb der begrenzten, vorhandenen Möglichkeiten verbessern. Gleichzeitig wollen sie aber auch immer strategische Siege erringen und ihre Strukturen ausbauen, um eine Gesellschaft in Bedarfswirtschaft und Selbstverwaltung, d.h. ohne Staat und Warenwert zu ermöglichen.
Aus diesem Grund muss syndikalistische Praxis perspektivisch auch mehr heißen als „nur“ in der betrieblichen Sphäre zu organisieren, zu kämpfen und eine Umgestaltung zu planen. Es geht immer darum, Konzepte und Handlungsmacht in allen gesellschaftlichen Bereichen zu entfalten, aber eben auch die Lohnabhängigen in allen Bereichen des proletarischen Alltags zu unterstützen.
In der FAU, als größtem syndikalistischen Gewerkschaftsbund Deutschlands (neben IWW, GG/BO und unter_bau), sprechen sich aktuell die meisten Syndikate dafür aus, im betrieblichen Bereich zunächst mehr Strukturen zu festigen und auszubauen, bevor an den Aufbau weiterer Sektoren gegangen wird. Das ist verständlich, vielleicht aber nicht für jedes Syndikat der beste Weg, in jedem Fall aber kein Grund, keinen Blick in eine potentielle Zukunft syndikalistischer Nachbarschafts- und Stadtteilarbeit zu werfen.
Soziale Kämpfe entstehen nicht aus dem Nichts, unsere Ansätze solidarischer Betriebsarbeit stranden dort, wo alle Kolleg_innen in einer „Jede_r gegen jede_n“-Mentalität verharren. Vorraussetzung für jede organisierte Solidaritätsstruktur sind daher Milieus, in denen solidarische Alltagskultur zum Selbstverständnis wird und sich Vertrauen in die Selbsthilfe und die Unterstützung der Klassengenoss_innen langfristig entwickelt.
Nachbarschaftsarbeit hat hier einiges zu bieten, weil sie in einer Arbeitswelt, die von Flexibilisierung, Befristungen und Outsourcing geprägt ist, oft langfristiger und großflächiger wirken kann. Solidarische Milieus lassen sich mit relativ wenig Aufwand fördern: Der für alle offene Nachbarschaftsverteiler, der als eine Mischung aus Veranstaltungskalender, virtueller Umsonstladen und Newsseite fungiert (in Dresden Löbtau bspw. mit ca. 1000 Menschen, ca. 5% der Einwohner_innen), die Signal-Gruppe zur Meldung von Straßenbahn-Kontrollen, das Nachbarschaftscafé mit klarem Klassenstandpunkt (bspw. bevorzugt kollektive Produkte, keine Festpreise, Spendenkasse, um Konsum für Menschen ohne Einkommen zu ermöglichen, Mehrsprachigkeit). Alle diese Strukturen verändern schnell, niedrigschwellig und praktisch den Alltag hunderter Lohnabhängiger im Stadtteil und all diese Strukturen ermöglichen es auch, die Sichtbarkeit weiterer syndikalistischer Strukturen zu erhöhen.
Die Stärke sozialer Bewegungen ist nicht zu trennen von ihrer materiellen Stärke. Dazu gehören auch Räume, Flächen, Gemüse- und Obstgärten, die die Lohnabhängigen finanziell entlasten. Besetzungen sind eine praktische Form der direkten Aktion, also dem direkten Schaffen von Tatsachen, der direkten Abhilfe eines Missstandes durch eigenes Tätigwerden. Dieses Kernelement syndikalistischer Tätigkeit ist uns in der Betriebsarbeit ob unserer organisatorischen Schwäche oft noch verwehrt, als syndikalistische Organisationen haben wir Probleme darin Praxiserfahrungen zu gewinnen. Besetzungen von Häusern und Gärten sind dabei oft schneller aber auch konfliktfreier umzusetzen und werden teilweise auch weit außerhalb der sich selbst als links verortenden Bevölkerung praktiziert. Oft sind Eigentumsverhältnisse ungeklärt, oft reicht es schon gemeinsam ein paar Arbeitseinsätze anzuschieben und damit Infrastruktur für viele Menschen zu gewinnen. Unser Überblick über leerstehende Flächen und Gebäude, die rechtlichen Hintergründe und ihre Nutzbarkeit sind dabei auch ein Schlüssel in unserer Fähigkeit effektive Obdachlosenunterstützung zu leisten oder heiklere Mietkämpfe zu führen, bei denen Mieter_innen auch gekündigt werden kann.
Politische Forderungen in diesem Zusammenhang könnten die Straffreiheit für Haus- und Flächenbesetzungen sein, daneben Vorkaufsrechte für basisdemokratische, unkommerzielle Nachbarschaftsinitiativen, wie sie bspw. das Solidaritätsnetzwerk Dresden West innerhalb der Corona-Pandemie formulierte.
Ein naheliegender nächster Schritt wäre die Ausbildung von Mieter_innengewerkschaften, wie sie in den USA oder Spanien schon länger Teil der syndikalistischen Bewegung sind. In nicht wenigen Städten legen die Arbeiter_innen ein Drittel oder mehr ihrer Einkünfte für die Wohnungsmiete hin, Tendenz steigend. In vielen Städten ist dabei eine Konzentration des Immobilienbestandes bei wenigen großen Unternehmen und ein beständiger Abbau der Sozialwohnungen zu verzeichnen.
Ziel müsste es also sein, von den individuellen, rechtlichen Auseinandersetzungen mit Vermieter_innen und einzelnen, meist örtlichen Kampagnen gegen Vonovia und Co. zu einer landesweiten Basisbewegung der Mieter_innen zu kommen und mit Instrumenten wie massenhafter Zurückhaltung der Miete für kollektiv ausgehandelte Mietverträge und ein Recht auf Mietstreik zu kämpfen.
Die Diskussion darum hat mit der Corona-Krise noch einmal mächtig an Fahrt aufgenommen. Potentiale liegen hier aus syndikalistischer Perspektive insbesondere in einer Verbindung aus Arbeitskämpfen der Beschäftigten in den jeweiligen Unternehmen und den von ihnen beauftragten Handwerksfirmen, Mietkämpfen und Hausbesetzungen zur Absicherung dieser Kämpfe. Verweisen möchte ich an dieser Stelle noch einmal auf die Genoss_innen der Mieter_innengewerkschaft Berlin.
Eine Bewegung, die andere davon begeistern will sich auf bis jetzt unerprobte Gesellschaftsmodelle einzulassen, muss auch für schwierige Fragen konzeptionelle Antworten finden. Eine davon sind Konflikte und Gewalt, die wir in allen Stadtteilen täglich erleben und in denen auch viele Linke letztlich auf Polizei und Justiz zurückgreifen müssen. Nicht die ganze Antwort, aber ein erstes Puzzleteil sind Gerechtigkeitskommission wie wir sie bspw. in den sozialen Bewegungen der Südtürkei oder Nordsyriens finden, aber in ähnlichen Formen mit anderen Namen auch in den USA (v.a. auch in schwarzen Communitys) oder Latainamerika. Bei ihnen handelt es sich um Strukturen aus den Communitys und Stadtteilen, die versuchen Konflikte aber auch Gewalttaten lösungsorientiert aufzuarbeiten. Im Vordergrund steht hier also nicht Strafe sondern Wiedergutmachung und Überwindung von Konflikten im Sinne eines gemeinsamen Zusammenlebens. Konflikte weitgehend unter sich regeln zu können und dabei zu humanistischen Lösungen zu kommen, stellt eine Grundbedingung für wirkliche Selbstverwaltung dar. Auch jede politisch-wirtschaftliche Organisation die groß werden will, sollte über solche Konzepte verfügen, schon allein weil sie sich sonst anfällig für eingeschleußte Stimmungsmacher_innen macht.
Eigene Konflikt- und Mediationskomitees aber auch breite Diskussionen um konstruktive Konfliktbearbeitung sollten somit schon heute zum syndikalistischen Alltag gehören und zu KnowHow werden, welches wir auch unseren Nachbarschaften zu Verfügung stellen können.
Wollen wir alternative Wirtschaftsformen Stück für Stück erproben, macht es Sinn mit kollektiven Betriebsstrukturen zu experimentieren. Aus diesem Grund gründete sich innerhalb der FAU die Kollektivbetriebsföderation „Union Coop“. Diese versucht eine Unterstützungsstruktur für bestehende Kollektivbetriebe zu bilden, neu entstehenden Betrieben beim Aufbau zu helfen und den Kund_innen durch gewerkschaftliche Kontrolle Sicherheit zu geben, dass es sich bei den sozialen und kollektiven Ansprüchen der Betriebe nicht um einen Etiketten-Schwindel handelt.
Wollen wir diese Betriebe unterstützen, macht es Sinn sich auch im Stadtteil und den Wohnungen, als Hauptort der Konsumtion, über den eigenen Konsum auszutauschen und ggf. zu kollektiven Entscheidungen zu kommen. So könnten Betrieben bspw. langfristiger klare Mindestabnahmemengen genannt werden, was diesen hilft sich innerhalb eines kapitalistischen Konkurrenz-Marktes als solidarischer Betrieb zu stabilisieren (dieses Prinzip kennen wir in Ansätzen bereits von den Projekten der solidarischen Landwirtschaft).
Eine miteinander in Kontakt und Diskussion stehende Konsument_innenschaft erhöht aber wiederum auch die Effektivität vieler profaner Arbeitskämpfe, wenn sich diese bspw. im Gastronomie- oder Einzelhandelssektor abspielen.
Schließlich können Union Coop und Nachbarschaften auch gemeinsam Bedarfe der Nachbarschaft durch Neugründungen von Kollektivbetrieben umsetzen und damit syndikalistische Strukturen auf mehreren Ebenenen stärken.
Es sollte deutlich geworden werden, dass Syndikalismus zumindest perspektivisch auch in Deutschland Stadtteilarbeit sein kann und sollte.
Weitere, konkrete Überlegungen zur Nachbarschaftsorganisation in: Organisierte Nachbarschaften und Föderationen Hand in Hand.
Dieser Artikel erschien zuerst im syndikalistischen Taschenkalender 2021, der an dieser Stelle noch einmal empfohlen sei.
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