Betrieb & Gesellschaft

Wenn alle das wüssten

Interview mit einem Mitglied der Hartz 4-AG der FAU Magdeburg

DA: Was ist Hartz IV und warum wurde es eingeführt?

Als Hartz IV wird das Arbeitslosengeld II nach dem Sozial-Gesetzbuch II bezeichnet. Es wird Hartz IV genannt, da es das vierte der Hartz Gesetze ist, die 2005 verabschiedet wurden. Diese sind benannt nach der Hartz-Kommission, die der damaligen rot-grünen Regierung beratend beistand. Die Hartz-Gesetze waren Teil der Agenda 2010, welche einen großen Niedriglohn-Sektor in Deutschland schaffen sollte. Weiterhin wurden in der Agenda 2010 Gesetze zur Leiharbeit und weitere Einschränkungen eingeführt, welche uns alle betreffen.

Begründet wurden die verschärften Sozial-Gesetze mit Aussagen wie, dass der deutsche Sozialstaat zu großzügig sei und Erwerbslose keine Motivation zum Arbeiten hätten.

Faktisch bedeutet Hartz IV die Zusammenlegung der damaligen Arbeitslosen- und Sozialhilfe.
Ein reines Arbeitslosengeld ist Hartz IV aber nicht. Viele Hartz IV-Empfangende sind nicht arbeitslos, sondern sogenannte “Aufstocker”, also Menschen die trotz Lohn-Arbeit nicht genug zum Leben haben.

DA: Warum ist Hartz IV ein Problem?

Wir müssen klar sagen, dass Hartz IV keine Hilfe ist, sondern Armut bedeutet. Die Regelleistung liegt unterhalb der Armutsgrenze und stellt deshalb kein Existenz-Minimum dar.
Dieser Regelsatz darf durch die Jobcenter weiter gekürzt werden. Diese Sanktionen haben alle zu fürchten, wenn sie nicht nach den Regeln der Jobcenter spielen. Zum Beispiel wenn sie Stellen ablehnen oder zu Terminen nicht erscheinen.

Hartz IV-Beziehende werden in eine Eingliederungs-Vereinbarung gezwungen, die sie in ihren Rechten noch weiter einschränkt.
Es ist der klare Plan hinter Hartz IV, Menschen in den Arbeitsmarkt zu pressen. So wurde das Grundrecht auf freie Arbeitswahl umgangen, nach dem kein Mensch zu Arbeit gezwungen werden darf. Neben den Sanktionen nutzen die Jobcenter Überwachung, Hausbesuche, Verschwinden von Unterlagen und Schuldzuweisungen, um Menschen weiter zu gängeln.
Leider ist vielen Menschen nicht bewusst, wie sie sich wehren können. Wegen dieser Ohnmacht geben viele dem Druck nach und nehmen miese Jobs an.

DA: Im November 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Hartz -IV Sanktionen teilweise verfassungswidrig sind. Wird dadurch alles besser?

Nach unserer Einschätzung absolut nicht. Das Urteil geht nicht weit genug, da weiterhin bis 30% sanktioniert werden kann. Es wurde damit sogar ausgesagt, dass Sanktionen an sich verfassungsmäßig seien könnten. Ganz abgesehen davon versuchte das Arbeits-Ministerium sofort, die Entscheidungen des Verfassungsgerichts zu umgehen, um weiterhin verfassungswidrige Sanktionen anzuwenden. Für die Wenigsten hat sich etwas geändert. Wer nicht gezielt auf die neue Rechtssprechung beharrt, ist auf sich alleine gestellt. Um mit den neuen Regelungen umzugehen, müssen wir uns gemeinsam bilden und Strategien entwickeln, wie wir uns wehren können.

DA: Deswegen bietet die FAU Magdeburg zwei mal im Monat eine Erwerbslosenberatung an. Wie helft ihr da konkret?

Zur Zeit bieten wir ein Erwerbslosen-Café an, in dem wir in erster Linie beraten und über die aktuelle Rechtslage informieren. Aber unsere Arbeit geht weit darüber hinaus. Uns ist es wichtig, nicht mehr alleine mit Hartz IV und der Ohnmacht zu sein. Wir begleiten einander auch zu unseren Terminen. Das greift die Macht des Jobcenters an und bringt uns dadurch in eine viel bessere Position. Aber wir haben auch langfristige Ziele im Blick.

DA: Langfristige Ziele? – Wie werden wir denn mit Hartz IV fertig?

Durch die Organisation von Erwerbslosen kämpfen wir gegen Ausgrenzung, Vorurteile und Vereinzelung. Es ist notwendig, dass erwerbslose und erwerbstätige Menschen sich gemeinsam organisieren, um gegen den Niedriglohn-Sektor und den Zwang zur Arbeit zu kämpfen. Ein weiterer Schritt könnten Sanktions-Kassen sein. Sie sollen ähnlich funktionieren wie Streik-Kassen und uns die Angst vor Sanktionen nehmen.
Das Ziel ist, dass Hartz IV überflüssig wird. Dafür müssen wir vom Staat unabhängige Strukturen schaffen, in denen wir uns solidarisch absichern und eine Arbeits- und Ausbildungs-Vermittlung schaffen, die im Interesse der Menschen handelt. So etwas gab es schon mal vor circa 100 Jahren: die sogenannten Arbeitsbörsen.

 

Der Artikel stammt aus der Verteilzeitung zum 1. Mai 2020 und ist sowohl hier als auch im Syndikat eures Vertrauens in gedruckter Form zu haben.

Redaktion der DA-Verteilzeitung zum 1. Mai

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Redaktion der DA-Verteilzeitung zum 1. Mai

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