Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Wandlung seiner Rechtsprechung in punkto Streikrecht vollzogen. Die wesentlichsten Neuerungen erfahrt Ihr hier.
Die Liberalisierung begann das BAG mit seinem Urteil vom 19. Juni 2007 (Az.: 1 AZR 396/06), in dem es vollkommen überraschend Solidaritätsstreiks – auch Unterstützungsstreiks genannt – nicht mehr von vornherein für rechtswidrig erklärte. Der Solidaritätsstreik, in anderen Ländern von jeher erlaubt, war bis dato in Deutschland verboten. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er lediglich der Unterstützung eines anderen Arbeitskampfes dient.
Allzu große Freude ist jedoch fehl am Platz. Denn bereits in seinen Leitsätzen schränkt das BAG die Rechtmäßigkeit auf solche Streiks ein, die „der Unterstützung eines in einem anderen Tarifgebiet geführten Hauptarbeitskampfs dienen“. Solidaritätsstreiks, die der Durchsetzung von politischen Forderungen dienen, bleiben also nach wie vor verboten.
Darüber hinaus muss der Solidaritätsstreik – wie jeder andere Streik – nach Auffassung des BAG verhältnismäßig sein.
Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung setzt das BAG bei dem Solidaritätsstreik besondere Kriterien an. So ist vor allem die Nähe oder Ferne des Unterstützungsstreiks zum Hauptarbeitskampf zu beachten. Dabei kommt es jeweils auf den konkreten Einzelfall an. Entscheidend ist hierbei die räumliche, wirtschaftliche und branchenmäßige Nähe zwischen den Arbeitskämpfen. Bestehen gemeinsame wirtschaftliche Verflechtungen, wie es etwa in verschiedenen Unternehmen eines gemeinsamen Konzerns regelmäßig der Fall sein dürfte, spricht vieles dafür, dass der Solidaritätsstreik nicht per se unverhältnismäßig ist.
Die zaghafte Wandlung der Rechtsprechung zum Solidaritätsstreik ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Rechtsprechung ist aber noch weit entfernt davon, alle Formen des Solidaritätsstreiks als rechtmäßig anzuerkennen.
Mit dem Urteil vom 22. September 2009 (Az.: 1 AZR 972/08) setzte das BAG seine liberalere Rechtsprechung zum Streikrecht fort. In dem Urteil bestätigte es die Auffassung des Landesarbeitsgerichts Berlin, dass Flashmob-Aktionen zulässige Arbeitskampfmittel von Gewerkschaften sein können. Der Begriff Flashmob bezeichnet einen kurzen, scheinbar spontanen Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, bei denen sich die Teilnehmer oft persönlich nicht kennen und ungewöhnliche Dinge tun.
Dem Urteil lag eine Flashmob-Aktion von ver.di während eines Arbeitskampfes im Einzelhandel zugrunde. Ver.di hatte über SMS zum Einkauf in einer bestreikten Filiale eines Einzelhändlers aufgerufen. Allerdings sollte jeweils nur ein Cent-Artikel gekauft werden. Zudem wurden die Teilnehmer aufgefordert, Einkaufswägen mit nichtverderblichen Lebensmitteln zu füllen und diese im Geschäft stehen zu lassen.
Flashmob-Aktionen sind nach den Ausführungen des BAG nicht bereits deshalb rechtswidrig, weil sie nicht klassisch gewachsenen Arbeitskampfmitteln wie etwa dem Streik oder Boykott entsprechen. Vielmehr sei das Arbeitskampfrecht offen für neuere Entwicklungen. Voraussetzung sei aber, dass durch die Arbeitskampfmittel keine „Disparität“ im Kräfteverhältnis zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften entstehe. Laut dem BAG bestehe diese Disparität nicht grundsätzlich bei Flashmob-Aktionen. So könnten sich die Arbeitgeber mit einer vorübergehenden Betriebsschließung oder der Ausübung ihres Hausrechts hinreichend gut vor derartigen Arbeitskampfformen schützen. Um einen solchen Schutz aber effektiv gewähren zu können, macht das BAG die Bekanntgabe der Urheberschaft der Flashmob-Aktion während ihres Ablaufs zur Rechtmäßigkeitsvoraussetzung.
Eine Beeinträchtigung des „eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs“ sei zudem aufgrund der aus Artikel 9 Abs. 3 GG resultierenden Koalitionsfreiheit gerechtfertigt. Das sieht der Arbeitgeberverband naturgemäß ganz anders, weshalb er eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingereicht hat.
Eine weitere Liberalisierung, die zwar nicht durch das Bundesarbeitsgericht sondern durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erfolgte, stellt das Urteil Nr. 68959/01 vom 21. April 2009 dar. Danach verstößt ein grundsätzliches Streikverbot für alle Beamten gegen die Vereinigungsfreiheit in Art. 11 EMRK. Ausnahmen könne es nur für bestimmte Beamtenkategorien geben. Vereinfacht gesagt sind das nur solche Beamte, die für den Bestand und die Funktionsfähigkeit eines Staates unabdingbar sind. Diese Rechtsprechung wurde mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 15. Dezember 2010 (Az.: 31 K 3904/10 O) nunmehr erstmals auch in der deutschen Rechtsprechung berücksichtigt. In dem Fall, den das Verwaltungsgericht zu entscheiden hatte, wurde eine Geldbuße gegen einen streikenden Lehrer für unzulässig erklärt.
Allerdings konnte das Gericht die Streikteilnahme selbst nicht für rechtmäßig erklären. Dieser Feststellung stand das im Grundgesetz normierte Streikverbot des Beamtentums entgegen, das im Gesetzesrang höher steht als die EMRK.
Bizarre Folge ist, dass der Streik eines verbeamteten Lehrers im Rahmen eines Arbeitskampfes, den seine nichtverbeamteten Kollegen führen, zwar rechtswidrig ist, aber keine disziplinarrechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen darf.
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