Zeitlupe

Das proletarische Vorspiel zu 1968

Der baden-württembergische MetallarbeiterInnenstreik 1963 zwischen Klassenkampf und Sozialpartnerschaft

1967 veröffentlicht das berühmte Frankfurter Institut für Sozialforschung unter dem Titel „Reaktionen auf politische Vorgänge“ eine dreigeteilte Meinungsstudie, die nach dem Eichmann-Prozess in Jerusalem, nach der Spiegel-Affäre und nach dem Metallarbeiterstreik in Baden-Württemberg 1963 fragt. Spiegel-Affäre und Eichmann-Prozess sind noch heute als Ereignisse bekannt, die das Nachkriegsdeutschland prägten. Wie kommt es, dass die SoziologInnen der „Frankfurter Schule“ seinerzeit einen Streik als genauso relevant eingeschätzt haben?

Vorboten der Krise

Der intensiven Streikbewegung der IG Metall in Baden-Württemberg 1963 ging 1962 eine Welle von „wilden“ Streiks voraus. Die Ausfalltage zeigen deutlich, wie angespannt die Situation war: Die Streiktage des Jahres 1962 hatten sich auf 451.000 erhöht (1961: 65.000). Auslöser waren die beginnende Rezession und die entsprechenden wirtschaftlich-politischen Reaktionen darauf. Langfristig betrachtet befinden wir uns in den frühen 1960er Jahren noch im Aufschwung des „Wirtschaftswunders“, innerhalb der expansiven Phase der langen Welle jedoch in einem relativen Abschwung im Kurzzyklus: Die DM wurde 1961 aufgewertet, dadurch kam es zu einem Exportrückgang. Bei abgeschwächtem Wirtschaftswachstum stiegen die Löhne weiter, auch bedingt durch die Vollbeschäftigung, seit 1960 überstieg die Zahl der offenen Stellen die Zahl der Arbeitsuchenden.

WirtschaftstheoretikerInnen und -praktikerInnen sahen als einzige Möglichkeit, das Wachstum wieder anzukurbeln, einen Lohnstopp in den Tarifverhandlungen: Die Macht der Gewerkschaften sollte eingeschränkt werden, der Staat wollte sich in Tarifverhandlungen deutlicher einmischen. Ziel der Unternehmen und der Regierung war, nach internationalem Vorbild, eine staatliche „Lohnkontrolle“, was als Angriff auf die Tarifautonomie verstanden wurde. Das Protokoll des Gewerkschaftstages 1962 sieht hier bereits einen Zusammenhang zwischen den Plänen für eine Notstandsgesetzgebung und der Einschränkung der Gewerkschaftsrechte. Die insgesamt ca. zehnjährige Kampagne der IG Metall gegen die Notstandsgesetze war auch dadurch motiviert, dass diese das Streikrecht im Notstandsfall aufheben sollten. Trotz der Betonung dieses Zusammenhangs nahm der IG-Metall-Vorsitzende Otto Brenner 1962 die Drohung mit einem politischen Streik gegen die Notstandsgesetze vom Gewerkschaftstag 1960 zurück.

Die Drohszenarien, die von UnternehmerInnenseite aufgebaut wurden, basierten neben der Bedrohung der Tarifautonomie auf dem Kasseler Urteil gegen den 1956/57er MetallerInnen-Streik in Schleswig Holstein: In dem 114tägigen Streik hatten 30.000 MetallarbeiterInnen erstmals die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft. Da die Urabstimmung während der Laufzeit des vorigen Tarifvertrags stattgefunden hatte, klagten die UnternehmerInnen auf Verletzung der Friedenspflicht. Das Bundesarbeitsgericht in Kassel definierte die Urabstimmung als Kampfmaßnahme und verurteilte die IG Metall zu einer Schadensersatzzahlung, die die UnternehmerInnen auf 30 Millionen DM bezifferten, der Spiegel berechnete sogar 80 Millionen DM (Spiegel 46/1958: 22). Durch dieses Druckmittel gebändigt, zeigte sich die IG Metall nicht allzu streikfreudig: Als am 28. Februar 1963 die Tarifverträge ausliefen, kündigte die IG Metall diese nicht, denn die UnternehmerInnen hatten angeboten, die Schadenersatzforderung zurückzuziehen, wenn sich „die IG Metall vor jedem Arbeitskampf freiwillig einer Schlichtungsprozedur“ unterwerfen würde, die einer staatlichen Zwangsschlichtung immer noch vorzuziehen sei. Der Verzicht auf die Tarifkündigung zum 28. Februar war dabei Vorbedingung zu weiteren Verhandlungen seitens der UnternehmerInnen. Die gewerkschaftliche Tarifkommission Baden-Württemberg entschied sich anders und kündigte die Tarifverträge. Am 18. April fand die Urabstimmung über den Streik in Baden-Württemberg statt.

ArbeiterInnenradikalismus an der Basis

Bereits Anfang April kam es zu Warnstreiks, und diese dürfen als spontane Ausstände verstanden werden, die ohne Zustimmung der Gewerkschaften stattfanden. In dieser Situation spielte Mannheim eine besondere Rolle, und hier insbesondere der Warnstreik bei Daimler-Benz am 4. April. Hier war die Belegschaft aktivierbar: Während die meisten der Warnstreiks maximal 1.000 Beschäftigte mobilisierten, waren es bei Daimler-Benz in Mannheim 6.000 KollegInnen. Dieser Warnstreik wurde ausgelöst, als am 4. April ein Flugblatt über die Rolle Hanns Martin Schleyers in den Tarifverhandlungen kursierte. Das Flugblatt löste „erregte Diskussionen“ aus, es bildete sich ein von Vertrauensleuten angeführter Marsch durch die Werkshallen mit der Aufforderung zur spontanen Arbeitsniederlegung. Die dabei zu Tage tretende Militanz zeigte sich u.a. darin, dass der Betriebsrat nicht zu Wort kommen konnte und man auch gegen die Zaghaftigkeit der IG Metall protestierte.

Die Ereignisse bei Daimler-Benz in der Warnstreik-Phase verweisen auch darauf, wer die Basis war, die zum Streik drängte. Der Betriebsrat bestand aus SozialdemokratInnen, ehemaligen KPD-Mitgliedern und ChristdemokratInnen bzw. Unabhängigen. Der militantere Vertrauensleutekörper dagegen war nur zu etwa einem Drittel politisch organisiert. Innerhalb dieses Vertrauensleutekörpers gab es jedoch einen aktiven LeserInnenkreis der Zeitschrift „Sozialistische Politik“, die eine linkssozialistische Position vertrat, die sich gegen das Godesberger Programm der SPD und gegen eine Revision des Münchener Programms des DGB wendete. Mit Willy Boepple war auch ein Mannheimer ‚Trotzkist‘ in der Redaktion vertreten. Dieser oppositionell veranlagten Gruppe oblag die inhaltliche Gestaltung der sozialdemokratischen Betriebszeitung „Mitteilungs- und Diskussionsblatt“.

Etwa eine Woche später, am 10. April, kam es zu flächendeckenden zweistündigen Warnstreiks in Baden-Württemberg mit 600.000 Streikenden. Am selben Tag fand ein informelles Kontaktgespräch in Nordrhein-Westfalen statt, das schon aufgrund der aufgeladenen Stimmung an der Basis zum Scheitern verurteilt war. Claus Noé unterstellt eine Taktik der UnternehmerInnenseite: Die als Ultimatum angebotene Lohnerhöhung von drei bis 3,5 Prozent nach einem einmonatigen Lohnstopp konnte die IG Metall unter diesen Bedingungen schon nicht mehr akzeptieren. Entsprechend ergab die Urabstimmung für den Streik in Baden-Württemberg am 18. April eine 87prozentige Zustimmung, in NRW lag sie vier Tage später bei geringfügig geringerer Beteiligung bei fast 84 Prozent. Am selben Tag wurde in Baden-Württemberg schon für den 25. April ein Schwerpunktstreik in Mannheim festgelegt. Trotz des Ultimatums der Gesamtmetall sah jedoch der Vorstand der IG Metall das Heil weiterhin in Verhandlungen und damit den Streik als zu früh an. Der Schwerpunktstreik am 25. April wurde (unter aktivem Protest der Mannheimer Vertrauensleute) verschoben, den 29. April als baden-württembergischen Streikbeginn konnte der Vorstand jedoch nicht mehr verhindern.

Den politischen Charakter – gegen Notstandsgesetze, Wiederbewaffnung und die militärische Nutzung von Atomenergie, wie die Transparente des 1. Mai 1963 deutlich zeigten – gab es allerdings nur in Mannheim. Hintergrund war die deutlich radikalisierte Klassenlage: Neben dem genannten SoPo-Lesekreis waren in Mannheim Reste der SAP, der KPO und anderer Gruppen aktiv. Es ist zu bedenken, dass ArbeiterInnen über 50 Jahre durchaus noch den Aktivismus der Zeit der Weimarer Republik erlebt hatten und entsprechend aktiv waren. Insofern zeigt sich im Mannheimer Arbeitskampf die „alte“, in der einen oder anderen Weise klassenkämpferisch geprägte ArbeiterInnenbewegung an der Basis, die gegen eine „neue“, auf Sozialpartnerschaft und Institutionalisierung ausgelegte ArbeiterInnenbewegung intervenierte, indem sie Druck für einen Streik aufbaute. Die „neue“ ArbeiterInnenbewegung manifestierte sich im Godesberger Programm der SPD, das 1959 den Abschied von klassenkämpferischer und sozialistischer Diktion bedeutete, und im neuen Programm des DGB, das im November 1963 beschlossen wurde.

Aussperrung und Tarifabschluss

Die durchaus noch lebhafte Erinnerung an die Weimarer Zeit wurde deutlich, als einen Tag nach Streikbeginn, am 30. April, die Unternehmen die erste Flächenaussperrung in der Bundesrepublik, die fast 400.000 MetallarbeiterInnen betraf, ausrief. Aussperrungen hatte es zuvor zwar bereits gegeben, aber noch nicht in dem Ausmaß. Das war eine deutliche Eskalationsstrategie, zumal gewerkschaftliche Kreise errechnet hatten, dass die Aussperrung mehr kostete als die geforderte Lohnerhöhung. Erinnerungen kamen hoch an den 1928er Ruhreisenstreit, in dem 200.000 ArbeiterInnen ausgesperrt wurden und der die Wende der UnternehmerInnen verdeutlichte: Weg vom Tarifsystem und hin zu einem autoritären Staat, der die Wirtschaft und die Klassenkämpfe unter Kontrolle hat – zum aufstrebenden Nationalsozialismus. Diese Assoziationen wurden noch dadurch bestärkt, dass insbesondere das Daimler-Benz-Vorstandsmitglied Hanns Martin Schleyer, als ehemaliger SS-Mann, für diese Aussperrung verantwortlich gemacht wurde. Des weiteren stand auf der Gewerkschaftsseite mit Willi Bleicher ein ehemaliger kommunistischer Häftling des KZ Buchenwald – beide thematisierten dies übrigens nie selber, und Zeitzeugen berichten, dass Schleyer eher aus politischem Kalkül in den Mittelpunkt der linken Öffentlichkeit gestellt wurde. Nichtsdestotrotz ist es vorrangig diese Aussperrung, die aus dem Streik ein mediales Ereignis machte.

Geplant war der baden-württembergische MetallarbeiterInnenstreik durchaus als Schwerpunktstreik in den gut organisierten Großbetrieben. In Mannheim wurde er mit 59 Metallbetrieben zum Flächenstreik. Die gesamte Fläche wurde aber erst durch die Aussperrung getroffen, die letztlich die Sturheit und Einigkeit der Streikenden nur noch mehr förderte. Die Drohung mit einem weiteren Flächenstreik inklusive Aussperrung in Nordrhein-Westfalen tat ihr Übriges: Am 2. Mai lud Wirtschaftsminister und Vizekanzler Ludwig Erhard Gesamtmetall und IG Metall zum Gespräch. In der Nacht vom 6. auf den 7. Mai einigten sich die Tarifparteien auf eine Lohnerhöhung von 6 Prozent (gerechnet auf die Gesamtlaufzeit). Der Streik war beendet.

Die Bedeutung von „1963“

Aufgrund des Tarifabschlusses, der über der von den Unternehmen gesetzten Marke von fünf Prozent lag, konnte der MetallerInnenstreik 1963 durchaus als Erfolg dargestellt werden. Doch der Preis dafür war hoch: Die IG Metall akzeptierte verpflichtende Schlichtungsverfahren und die Bindung zukünftiger Tariferhöhungen an die Wirtschaftslage. Damit war die „Konzertierte Aktion“ ab 1967 vorprogrammiert. Dieses zeitgenössische „Bündnis für Arbeit“ führte dazu, dass nach 1967 vermehrt wilde Streiks von der Basis ausgingen, da diese den Weg der Gewerkschaften im Alltag nicht mitging. Gleichzeitig revidierten die Gewerkschaften tendenziell ihre Ablehnung der Notstandsgesetze. Die Zunahme wilder Streiks und die zunehmenden politischen Proteste machten in Deutschland das aus, was heute als „1968“ bezeichnet wird. Die MetallarbeiterInnen an der Basis hatten bereits 1963 für die gleichen Ziele gekämpft und damit in der Praxis verdeutlicht, dass es keine deutliche Trennung zwischen „politischem“ und „wirtschaftlichem“ Streik gibt.

„1963“ ist aber nicht nur Chiffre für ein Rückzugsgefecht der klassenkämpferischen ArbeiterInnenbewegung gegen die aufkommende „SozialpartnerInnenschaft“, sondern man kann auch organisatorische Schlussfolgerungen ziehen: Der Streik 1963 wurde insbesondere in der Metall-Hochburg Mannheim deswegen vergleichsweise radikal und aktiv geführt, weil es in den Betrieben eine entsprechende Basis gab. Diese entstammte gerade nicht dem Gedanken einer Einheitsgewerkschaft, sondern durchaus einer politischen Vielfalt, die dennoch in der Lage war, aufgrund der Erkenntnis gemeinsamer Interessen einheitlich zu handeln. In heutigen Streiks muss eine solche Basis oftmals erst hergestellt werden.

Streiks sind heute in der Fläche und Größe wie 1963 kaum noch zu führen – die Dammbrüche in den Flächentarifen, die Erodierung der Gewerkschaftslandschaft, die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse und die vor einem Streik erst zu schaffende Basis in den Betrieben weisen darauf hin: Der Neoliberalismus der Kohl- und Schröder-Ära hat die Tradition der ArbeiterInnenbewegung(en) nachhaltiger zerschlagen als der Nationalsozialismus.

 

Vorliegender Artikel ist ein gekürzter Beitrag aus dem im Juli 2014 erscheinenden Band „Mannheims ‚andere‘ Arbeiterbewegung. Lokale Episoden aus dem Arbeiterradikalismus“, herausgegeben von der FAU Mannheim im Verlag Edition AV. Der Autor arbeitet mit anderen an einem Sammelband zu dem 1963er Streik, der voraussichtlich im Herbst 2014 in der Reihe „Technik und Arbeit“ im Verlag regionalkultur erscheinen wird.

Literatur zum Metallarbeiterstreik 1963:

Becker, Egon und Becker-Schmidt, Regina: Reaktionen auf politische Vorgänge. Drei Meinungsstudien aus der Bundesrepublik. Frankfurt a.M. 1967.

Hoß, Dietrich: Die Krise des „institutionalisierten Klassenkampfes. Metallarbeiterstreik in Baden-Württemberg. Frankfurt a.M./Köln 1974.

Noé, Claus: Gebändigter Klassenkampf – Tarifautonomie in Deutschland. Der Konflikt zwischen Gesamtmetall und IG Metall vom Frühjahr 1963. Berlin 1970.

Zur Kontextualisierung des Streiks:

Birke, Peter: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark. Frankfurt a.M. 2007.

Roth, Karl Heinz: Die ‚andere‘ Arbeiterbewegung und die Entwicklung der kapitalistischen Repression von 1880 bis zur Gegenwart. Ein Beitrag zum Neuverständnis der Klassengeschichte in Deutschland. Mit ausführlicher Dokumentation zu Aufstandsbekämpfung, Werkschutz u.a. München 1974.

Kritidis, Gregor: Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hannover 2008.

Torsten Bewernitz

Die Redaktion der Direkten Aktion.

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Torsten Bewernitz

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