Seit dem 8. April 2019 läuft der Streik in der Bildungsbranche, an dem sich mehr als zwei Drittel der Lehrer*innen von Schulen und Kindergärten beteiligen. Einerseits fordern die streikenden Lehrer*innen Lohnerhöhungen, andererseits protestieren sie gegen die seit 2015 eingeführten Bildungsreformen. Der Ausmaß des Streiks ist mit dem bislang größten polnischen Bildungsstreik 1993 zu vergleichen, bei dem die Lohnforderungen zwar nicht durchgesetzt werden konnten, der aber eine Reihe von Arbeiter*innenprotesten in anderen Branchen des öffentlichen Dienstes – unter anderem im Gesundheitswesen – auslöste.
Auslöser für den Lehrer*innen-Streik sind die gescheiterten Verhandlungen, die zwei Gewerkschaften, nämlich die ZNP (Związek Nauczycielstwa Polskiego, Lehrer*innen-Gewerkschaft) und FZZ (Forum Związków Zawodowych, der polnische Gewerkschaftsbund) seit Ende März mit der Regierung führten. An den Verhandlungen hatte sich auch die Bildungssektion der Solidarność-Gewerkschaft beteilig, die am 7. April ein von der Regierung vorgelegtes Abkommen unterschrieb.
Das Grundgehalt lag 2018 zwischen 2.400 (rund 600€, Lehrer*innen im Praktikum) und 3.300 Zloty brutto (rund 825€, für diplomierte Lehrer*innen) und damit deutlich unter dem allgemeinen landesweiten Durchschnittslohn von 4.700 Zloty (rund 1.175€). Aus diesem Grund forderten ZNP und FZZ „1.000 Zloty für alle” (rund 250€) und begannen mit Streikvorbereitungen, da die Regierung sich weigerte umgerechnet rund 250€ mehr zu bezahlen.
Die ZNP und FZZ sind aber bereit, ein Abkommen zu unterschreiben, wenn die Regierung zwei Lohnerhöhungen um jeweils 15% im Laufe des Jahres 2019 zustimmen würde. Das Angebot der Regierung sieht dagegen 5% Lohnerhöhung im Januar – bereits umgesetzt – und weitere 9,6% im September vor und wurde von der Solidarność angenommen. Außerdem stellte die ehemalige Premierministerin Beata Szydło als Verhandlungsführerin der Regierung einen „langfristigen Plan” vor. Dieser sieht Lohnerhöhungen in den Jahren 2020 bis 2023, aber gleichzeitig eine Erhöhung der Zahl der Unterrichtswochenstunden von 18 auf 24 vor, was einen Stellenabbau von etwa 20% nach sich ziehen würde. Diesem zweiten Vorschlag stimmte nicht einmal die Solidarność zu, die in diesen Verhandlungen ansonsten die Rolle des Streikbrechers spielte. Innerhalb der Solidarność führte der Konflikt vielerorts zu Brüchen und lokale Strukturen schlossen sich doch dem Streik an. Einige Solidarność-Mitglieder gaben sogar ihre Mitgliedsausweise zurück und schließen sich anderen Gewerkschaften, wie der Inicjatywa Pracownicza an.
Der Lohnkonflikt hätte sich ohne die Reform zur Abschaffung des Gymnasiums und die Änderungen der Lehrercharta, die einem Branchentarifvertrag entspricht, in dem Jahr 2017 nicht so zugespitzt. Diese Änderungen wurden von Bildungsministerin Anna Zalewska durchgedrückt. Damals verloren durch die Abschaffung des Gymnasiums 6.600 Lehrer*innen (rund 1%) ihren Job. Die Reform der Lehrercharta hatte weitere Folgen, unter anderem die Abschaffung des Wohngeldes, das landesweit ein Drittel aller Lehrer*innen erhielten, dazu die Änderung der Beförderungsfristen von 10 auf 15 Jahre und Abschaffung des Rechts auf Wohnraum (hauptsächlich für Lehrer*innen auf dem Land und pensionierte Lehrkräfte). Dadurch senkte das Bildungsministerium die Löhne deutlich, aber durch die Leistungszulage „500 Plus für Lehrer” sollte ein Ausgleich entstehen, den aber nur diplomierte Lehrer*innen (52% der Beschäftigten) mit herausragenden Leistungsbeurteilungen erhalten. Dazu soll „500 Plus für Lehrer” erst ab 2020 bezahlt werden und zunächst 95 Zloty (rund 24€) betragen und erst 2022 auf 500 Zloty (rund 125€) steigen. Diese Vorschläge wurden von den Lehrer*innen als ungedecktes Versprechen und als Versuch benannt, das Problem in die Zukunft zu verschieben.
Die beiden Gewerkschaften ZNP und FZZ und auch das beteiligte Personal der Schulen und Kindergärten sind entschlossen den Streik durchzuziehen. Trotz der Unannehmlichkeiten für Eltern und Schüler*innen ist große gesellschaftlicher Unterstützung vorhanden, so zeigen Umfragen über 50% Zustimmung. So gibt es viele Solidaritätsaktionen, von Straßenprotesten, über an den Schulen organisierte „Streikvorlesungen” bis hin zu Unterstützungs-Erklärungen anderer Branchen-Gewerkschaften wie der Gewerkschaft des Flug- und Bodenpersonals, siehe den Artikel Arbeitskampf über den Wolken, oder der LKW-Fahrer*innen-Gewerkschaft. Kundgebungen wurden auch von den Gewerkschaften an den Universitäten in Warschau, Breslau und Krakau organisiert. An der Uni Warschau führen die ZNP und die Initiative Engagierte Universität seit dem 8. April tägliche „Streikvorlesungen” mit Jugendlichen durch. Am Donnerstag, dem 11. April startete die landesweite Sammelaktion für den Streikfonds, bei der innerhalb eines Tages über 1 Million Zloty und bis Samstag, den 13. April noch die dreifache Summe gesammelt wurde.
Fraglich ist, wie lange die Regierung ihre Position durchhalten wird und auch ob die Sympathie der Öffentlichkeit auf Seite der Streikenden bleiben wird. Je länger der Streik dauert, nimmt auch der Stress in Bezug auf die näher rückenden Abiturprüfungen zu. Es besteht die Gefahr, dass der diesjährige Streik genauso endet wie der längste Bildungsstreik in Polen 1993. Deshalb ist es wichtig unsere Solidarität mit den Streikenden zu zeigen.
Auch unsere Schwestergewerkschaft aus Polen, Inicjatywa Pracownicza (IP, Arbeiter*innen-Initiative) beteiligt sich an dem Streik. Neben einer Informationskampagne startete sie Unterstützungsaktionen, wie zum Beispiel die Organisierung der Kinderbetreuung durch die Schulen von IP-Genoss*innen in Breslau und Krakau. Die IP-Genoss*innen sind auch in den Kleinstädten und Dörfern präsent um die streikenden Lehrer*innen zu unterstützen. Manche von diesen Lehrer*innen gründen im Laufe des Streiks selbst lokale IP-Gewerkschaften und freuen sich über alle Solidaritäts- und Unterstützungs-Initiativen. Auch die FAU unterstützt die Streikenden und ruft zusammen mit der IP zur Spendenaktion auf.
Die Arbeiter*innen-Initiative (IP) hat eine Spenden-Aktion für den Aufbau einer Streikkasse für die streikenden Lehrer*innen gestartet. Aus diesem werden ihre streikenden Mitglieder durch Streikgeld unterstützt, da unsere Schwestergewerkschaft davon ausgeht, dass der Streik länger dauern wird. Im Laufe des Streiks beziehen die Lehrer*innen keine Löhne, so dass jede noch so kleine finanzielle Unterstützung von großer Bedeutung ist, vor allem für die Lehrer*innen, die in Kleinstädten und ländlichen Gebieten wohnen und arbeiten.
Hier kann man für den Streikfond der IP spenden. Die Geschäftskommission der FAU hat ihrerseits Gelder freigegeben und zudem auch ihre Syndikate zu Spenden aufgerufen. Bereits im November 2018 hatte die FAU bei ihrer Bildungskonferenz in Jena sich mit Vertreter*innen der IP zu deren Erfahrungen im Hochschulstreik 2018 ausgetauscht. Auf der Webseite der IP findet man auch auf Deutsch mehr Hintergründe zum Streik.
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Kommentare
Danke für den zeitnahen sehr informativen Artikel!
Statt einen Link zu dem Spendenportal wäre vielleicht noch sinnvoller das FAU-Spendenkonto anzugeben, auf dem unsere Geschäftskommission Geld sammelt, um es der IP gebündelt wöchentlich zu überweisen.