Die Initiative Solidarity City Halle (Saale) im Gespräch mit Amir, Sinan und Reza.
Am 07. Juni 2018 traf sich eine Arbeitsgruppe der Initiative Solidarity City Halle (Saale) im Rahmen der Aktionswoche vom 01.-10. Juni des soziokulturellen Zentrums Hasi mit drei jungen Menschen, die sich in Halle Schutz versprochen haben, vor politischer Verfolgung oder Krieg in ihren Herkunftsländern. Im Gespräch geben sie uns Einblicke in ihre Wahrnehmung der Stadt. Im Besonderen wollten wir im Gespräch auf die Frage schauen, wie es um den Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt für junge geflüchtete Menschen gestellt ist.
Der Kerngedanke einer „Solidarity City“ ist es, dass alle Menschen, die in einer Stadt leben, gleichermaßen am Leben in dieser Stadt teilnehmen und es mitgestalten können. Die Forderung bezieht sich auf alle wichtigen Bereiche des Lebens (wohnen, arbeiten und Ausbildung, soziale Leistungen, politische und kulturelle Teilhabe, medizinische Versorgung etc.) und auf alle Menschen einer Stadt, unabhängig von Herkunft, zugeschriebener Nationalität, Aufenthaltsstatus, Sprachkenntnissen, körperlicher/mentaler Verfassung, finanzieller Versorgung, Aussehen, Alter, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung etc.
Weltweit gibt es über 250 Solidarity Cities. Auch in Halle gibt es seit Anfang 2018 eine Initiative aus aktivistischen Gruppen, Institutionen, Einzelpersonen und Mitarbeiter*innen der Stadtverwaltung. Es fehlen noch weitere Mitstreiter*innen, besonders aus selbstorganisierten Migrant*innengruppen, religiösen Gemeinden, Stadträt*innen und Vertreter*innen aus Gewerkschaften. Interessierte wenden sich entweder an die Adresse halle@solidarity-city.eu, oder fühlen sich zum nächsten Treffen der Initiative eingeladen (die Termine findet ihr auf der Internetseite des Welcometreff – Waisenhausring 2, Halle (Saale)).
Die Hasi wurde am 5. Januar 2016 besetzt. Das vorher leerstehende Haus in der Hafenstraße 7 ist mittlerweile zu einem nichtkommerziellen, selbstorganisierten, soziokulturellen Zentrum geworden. Ziel des Projekts ist es, in der halleschen Innenstadt einen Raum zu schaffen, der in Eigenregie von Engagierten, Neugierigen und Nachbarn gemeinsam gestaltet wird. Die Hasi bietet ein Lesecafé, Bandräume, Nachbarschaftsgarten, Seminarraum, Selbsthilfewerkstatt, Umsonstladen, Sport wie Yoga, Capoeira und Improvisationstanz, Raum für Vorträge, Politik und Subkultur. Doch wir sind noch lange nicht fertig. Es gibt noch unzählige Ideen, die nur darauf warten, umgesetzt zu werden. Aktuell ist das Projekt von einer Räumung bedroht. Vom 01.-10. Juni fand eine Aktionswoche in der Hasi statt – ein buntes, selbstorganisiertes Programm mit Diskussionen, Workshops, Musik, Demos und vielem mehr. (Weitere Infos zur Hasi gibt es hier.)
Das Thema „Zugang zu Arbeit für alle“ hat Ricardo (Name geändert) in die Initiative Solidarity City Halle (Saale) eingebracht. Er lebt seit über 7 Jahren in Halle. Ricardo hat zahlreiche Maßnahmen‚ Integrationsprogramme, Praktika und Freiwilligenarbeit gemacht, jedes Mal mit dem Versprechen, hinterher einen festen Ausbildung- oder Arbeitsvertrag zu bekommen. Ricardo ist Mitte 30 und hat sich an einem der ersten Solidarity City Halle (Saale)-Treffen beteiligt. Er hatte bereits einige Zusagen von Unternehmen, die ihm sowohl einen Ausbildungsplatz, als auch einen Arbeitsvertrag angeboten haben. Doch die Ausländerbehörde verwehrte ihm jedes mal die Arbeitserlaubnis aufgrund angeblicher fehlender Mitwirkung zur Identitätserkennung.
Was bei einem vorliegenden Passdokument auf Ricardo zugekommen wäre, lässt sich leicht ausdenken – Die Beamten der Ausländerbehörde wollten, dass Ricardo daran mitwirkt, seine eigene Abschiebung auf rechtlichen Boden zu stellen. Mittlerweile ist er von Halle (Saale) nach Hamburg gezogen. In der Großstadt verspricht er sich die Möglichkeit, eine Arbeit zu finden und für seinen Lebensunterhalt aufzukommen. „Einen Zugang zu Arbeit zu haben sollte ein Grundrecht für alle sein“, so stellte Ricardo seine Perspektive dar. Mit diesem Impuls schaffte er die Grundlage für das Arbeitstreffen, von dem hier weiter berichtet werden soll.
Im Weiteren sollen die Perspektiven und Erfahrungen von drei Menschen dargestellt werden, die in Halle (Saale) und Sachsen-Anhalt leben. Ich stelle in diesem Artikel dar, was ich von Sinan, Amir und Reza (Namen geändert) bei dem Treffen gehört habe. Ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen sollen hier Raum finden und damit ein Gegengewicht zu staatlichen Narrativen über die Situation von geflüchteten Menschen und ihren Zugang zum Arbeitsmarkt sein. Sinan und Amir lehnten das Angebot ab, ihre Geschichte selber aufzuschreiben, ab. Dieser Artikel stellt also eine Perspektive aus zweiter Hand dar.
Sinan ist Anfang 30 und lebt in einem kleinen Dorf bei Wittenberg. Sein freundliches Gesicht zieht die Zuhörenden in den Bann. Im Iran habe er in einer großen Stadt gewohnt. Jetzt muss er 1,5 h mit dem Bus fahren, um in die Stadt zu kommen, wobei weder Wittenberg noch Halle mit dem Leben in der iranischen Großstadt zu vergleichen sei. Früher war vor seinem Fenster Großstadttrubel und Leben. Sinan erklärt: „Wenn ich jetzt aus dem Fenster schaue, steht da ein Baum.“ Sein Asylantritt wurde vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt.
Nun muss er weiter in dem besagten Dorf leben und von einer Aufenthaltsgestattung auf die nächste hoffen. In dem Dorf, in dem er lebt, gibt es für ihn keine Möglichkeit, Deutsch zu lernen. Sinan erinnert sich an sein Leben im Iran, dort hatte er ein Haus, einen Job, ein Auto – ein ganz normales Leben. Einige seiner Freunde in Hamburg haben mehr Kontakt zur Zivilbevölkerung als er. Es wundert ihn und seine Freunde, warum seine Situation momentan so schlecht ist – keine Wohnung in der Stadt, keinen Job, kaum Deutschkenntnisse – im Iran war er ein viel arbeitender Mensch. Er hat keinen Kontakt zu den Menschen aus dem Dorf. Sinan zieht es vor, 1,5 h mit dem Zug nach Halle zu fahren und dort einen Deutschkurs zu besuchen, manchmal kann er bei einem Freund übernachten. Für das Zugticket zahlt er im Monat 120 Euro, das Geld wird nicht vom Sozialamt übernommen. Sinans Erfahrungen mit dem Sozialamt in Wittenberg seien ohnehin nicht positiv. „Sie sagen nicht Hallo, wenn ich dahin komme.“ Doch um seine monatlichen Sozialleistungen zu erhalten, muss er persönlich zum Sozialamt fahren und braucht auch dafür ein Ticket, um aus seinem Dorf nach Wittenberg zu kommen. Sinan würde gern nach Halle ziehen. Er würde gerne arbeiten und sich unabhängig machen vom Sozialamt. Von der Zivilbevölkerung wünscht er sich Unterstützung. Er wünscht sich, über seine Probleme sprechen zu können.
Über die Hasi sagt Sinan erfreut, er habe „gleich gemerkt, dass dies ein offenerer Ort ist, als viele andere in Halle.“ Amir lebt seit drei Jahren in Halle. Er wurde eingeladen, um das Treffen zu dolmetschen. Über seine persönliche Situation möchte er nicht viel erzählen. In Afghanistan hat er für das Bildungsministerium gearbeitet, nun arbeitet er im Uniklinikum als Reinigungskraft. Auch sein Asylgesuch wurde von BAMF abgelehnt und seit über neun Monaten wartet er darauf, dass sein Widerspruch gegen diese Entscheidung vom Gericht erneut verhandelt wird.
Reza ist ebenfalls Anfang 30. Er wirkt nervös und knackt mit seinen Fingern. Wenn sich unsere Blicke treffen, lächelt er, das hilft mir, mit meiner Unsicherheit umzugehen. Was hält er von mir, die ihm als weiße Person Fragen stellt? Als er anfängt, zu erzählen, hört er für eine ganze Weile erst mal nicht mehr auf. Er hat viel zu sagen und ist sehr unzufrieden. Reza lebt seit vier Jahren in Halle. Dieses Treffen sei sein erster Kontakt zu Menschen aus der Stadt.
Im Iran wurde er politisch verfolgt, er hat einen Aufenthaltstitel mit Wohnsitzauflage. Auch Reza hat, bevor er nach Halle kam, in der Großstadt Teheran gelebt. Halle und Teheran seien nicht miteinander zu vergleichen. Als er das sagt, müssen Reza, Sinan und Amir lachen. In Teheran hat Reza einen Autohandel betrieben, mit Export und Import. Für Reza ist es schwierig, in Halle zu leben, er hat einige andere Städte kennen gelernt, vorrangig im westlichen Teil von Deutschland. Dort seien die Menschen viel offener. Er hat ein Jobangebot in Frankfurt, doch die Ausländerbehörde verweigert ihm den Umzug. Eine angestellte Person der Ausländerbehörde hat ihm gesagt, er könne doch zurück in den Iran gehen, wenn es ihm hier nicht gefalle. Reza sagt, es fühle sich an, als sei er von einem politischen Gefängnis in ein neues geflüchtet. Auf der Straße fühle er sich unwohl, als würde er stets diskriminiert. Es stört ihn, dass er nicht mit den Menschen sprechen kann. Er spricht wenig Deutsch. Reza erlebt viel Rassismus in der Stadt. Als er dem Jobcenter erklärte, dass er gerne auf politischer oder medialer Ebene arbeiten wolle, wurde er ausgelacht.
Reza erzählt von einer Situation am Bahnhof. Eine Person fragte ihn: „Warum bist du hier?“ – Er antwortete: „Zum Beispiel, weil Deutschland Material für chemische Waffen in den Iran verkauft und auf diese Weise dort großer Schaden angerichtet wird.“ Es sei eine von vielen Situationen. Er fragt sich, warum in Deutschland Unterschiede zwischen geflüchteten Menschen gemacht werden. Der Asylantrag seines Bruders zum Beispiel wurde ebenfalls abgelehnt. Dieser war Tatookünstler im Iran. In Deutschland hat er keinen Job, keine Wohnung und besucht keinen Deutschkurs.
Warum leben einige Geflüchtete in besseren Situationen als andere? Warum werden einige von ihnen unterstützt und andere nicht? Wie sei das zu vereinbaren mit einem demokratischen Staat? Einige seiner Freunde leben in ganz anderen Situationen als er. Sie haben Freunde und sprechen Deutsch, es scheint ihnen ganz gut zu gehen. Aber Reza erzählt auch von Freunden, die Depressionen haben, die versuchen, mithilfe von Drogen vor den Depressionen zu fliehen. Er würde gerne einen Laden aufmachen oder im Marketing arbeiten – aber wie? Reza wünscht sich, an einem anderen Ort in Deutschland zu leben, nicht in Halle oder Sachsen-Anhalt. Er will nicht zurück in den Iran, aber zurzeit sieht er auch in Deutschland keine Möglichkeit, zu leben. An dieser Stelle enden die Erzählungen der drei zunächst.
Dieser Artikel soll der Anfang sein, für weitere Kontakte zu Amir, Sinan und Reza und eine öffentliche Diskussion über ihre Situation, ihre Wünsche und Anregungen zur Veränderung, zu einer solidarischen Gesellschaft, zu einem solidarischen Miteinander in Halle. Ich möchte in einer Stadt leben, aus der die Menschen nicht fliehen wollen, vor struktureller Diskriminierung, rassistischen Erlebnissen und Vereinsamung. Ich möchte in einer Stadt leben, in der Menschen für einander einstehen und in der alle die Möglichkeit haben, ihre Bedürfnisse zu erfüllen und die Stadt mitzugestalten.
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