2007 tat sich der anarcho-syndikalistische Straßenmusikpunker „Geigerzähler“ aus Berlin (Eigenbezeichnung: Punk ohne Schlagzeug, Gitarre und Bass, dafür mit Geige) mit der sorbisch singenden Leipziger Pianistin Uta zu „Berlinska Dróha“ (übersetzt „Berliner Straße“) zusammen. Dass es sich dabei um mehr als ein nullachtfünfzehn Folkprojekt handelt, machte schon ihre erste Veröffentlichung „Zrudny Končak“ deutlich, die mit ihren filigranen und gut arrangierten Songs sich deutlich von zahlreichen anderen Folkneuheiten abhob. Ein besonderes Merkmal des Berliner Duos ist der Rückgriff auf zahlreiche Traditionals der sorbischen Minderheitensprache aus den westslawischen Regionen.
Ende 2011 veröffentlichte das Duo dann auch ihr erstes Album mit einer bunten Mischung aus sorbischen Traditionals, Neuinterpretationen und deutschsprachigen Eigenkompositionen. Obwohl der Spagat zwischen der – leider für nur wenige verständlichen – Minderheitensprache und deutschem Antifolk recht groß erscheinen mag, schafft es „Um die Ecke“ mit den 12 darauf erschienenen Songs diese solide zu vereinen.
So startet die neue CD von null auf hundert mit dem lebhaften sorbischen Song „To je mój swet“ aus eigener Feder. Mit Emotionalität und Leidenschaft entspinnt sich von nun an ein Album um prekäre Verhältnisse und den Problemen, die im tristen Lebensalltag entstehen.
Die anfangs erzeugte Stimmung wird jäh von „Entscheidungen“ unterbrochen, einem Stück, welches Entscheidungen thematisiert, die wahrscheinlich jedeR täglich treffen muss, die oder der am Existenzminimum lebt. In diesem eher ruhig beginnenden Stück wird ein Sammelsurium täglich auftretender Alltagsfragen dargestellt, das grundlegende Bedürfnisse eines Menschen nach Glück, Existenzsicherung und Unabhängigkeit thematisiert. Ist Glück sich möglichst gut zu verkaufen, möglichst viel Kohle zu scheffeln oder doch lieber in die Berge oder ans Meer zu fahren und das Leben zu genießen? Es sind oftmals die kleinen Entscheidungen, die für das Leben gravierende Folgen haben.
Zum Henker mit den Herren Krugs
Das Lied „Herr Krug“ befasst sich mit der Schikane von VermieterInnen, mit der man sich rumplagen muss, wenn man nicht das Glück hat in einer schicken Eigentumswohnung oder einem Reihenhäuschen zu wohnen. Wer kennt sie nicht, die kleinen und großen Herren Krugs, die sich in Gestalt von einzelnen Personen oder sogar ganzen Immobilien GmbH´s präsentieren und mehr oder weniger versuchen, Einfluss auf das Leben von Mietern zu nehmen. Die einem vorschreiben wollen, was man in „ihren“ Wohnungen zu tun und zu lassen hat und einen dann, wenn man die Miete einmal nicht zahlen kann, sofort auf die Straße setzen. Am Ende des Liedes verweigert sich das „Humankapital“ jedoch und sitzt grinsend auf dem Sofa in der Wohnung, aus der es kein Herr Krug der Welt heraus bekommt.
Einer der gefühlsmäßigen Höhepunkte ist das Stück „Sorgen“, welches sich mit eben jenen Sorgen befasst, die entstehen, wenn die Kohle mal wieder Mitte des Monats alle ist, man gezwungen ist von Resten zu leben oder sich seinen Tabak aus den Stummeln im Aschenbecher zu kratzen. Wie gut, wenn man jetzt Freunde zur Seite hat, die einen unterstützen! Besonders erwähnenswert ist hier der gedoppelte und mehrstimmige Chor im Refrain, der besonders packend und gelungen ist und direkt in das nächste sehr getragene „Hdyz se moj luby“ mündet.
Im Lied „Der Henker“ geht es dann auch mal mit morbidem Sarkasmus um einen Menschen, der eher ein Macher der Gesellschaft ist, der seine Lebensfreude aus dem Henken anderer Menschen gewinnt oder damit einfach die Langeweile des tristen Familienalltags verarbeitet. Jedoch nimmt diese Moritat kein gutes Ende für ihn, denn auch er ist ersetzbar und wird von seinem Nachfolger enthauptet. Dabei war er doch privat so ein guter Familienvater, der zuhause auch „Bärchen“ genannt wurde.
„Wokoto Ròzka/Um die Ecke“ ist eines der wenigen Alben, bei denen es wirklich jedes Lied schafft, den Spannungsbogen beim Hören nicht abfallen zu lassen, durch gekonnte Soli auf Klavier und Geige, gelungene Arrangements und eingehende gewitzte Texte – da bleibt der Zuhörer förmlich an der Musik kleben.
Wer neugierig geworden ist, dem sei die Webpräsenz des Duos auf www.myspace.com/berlinskadroha nahegelegt.