Es ist schon verwunderlich, dass in Deutschland seit Monaten eine militante Minderheit (die extreme Mitte) mit den Symbolen des Rechtsextremismus für die Ziele der Regierung kämpft. Die auf den „Querdenker“-Demonstrationen so oft angeprangerten „Eliten“ wollen ja letztlich dasselbe wie die Demonstrierenden – so wenig Einschränkungen wie möglich, um weiter aktiv zu sein – und zwar aktiv in ihrer Funktion als homo oeconomicus, durchaus nicht als soziale Wesen.
Von Italien über Frankreich bis in die USA haben im Frühjahr 2020 global Arbeiter_Innen massive Proteste angeführt – in den USA die größte Streikwelle seit Jahrzehnten – um genau das Gegenteil durchzusetzen. Der Lockdown oder Shutdown kommt nicht autoritär „von oben“, nein, es gab Kämpfe dafür, die Menschen zu schützen. Kaum ein Staat hat freiwillig und ohne Zwang einen ökonomischen Shutdown in Erwägung gezogen, die Unternehmen selber sowieso nicht. Diese globalen Streiks und Arbeiterunruhen sind der vernünftige Gegenpol zu den irrationalen Protesten von Menschen, die „Mundschutz“ mit „Schutzhaft“ verwechseln.
In Zeiten eines zweiten Pseudo-Lockdowns wäre es tatsächlich angemessen, gegen eine Regierung auf die Straße und die Barrikaden zu gehen, deren Pandemie-Politik nur ein Ziel kennt: Die Wirtschaft weiterkacken und nicht abkacken zu lassen. Bereits im Frühjahr wurden gar nicht so wenig Stimmen aus Ökonomie, Politik und (Wirtschafts-)Wissenschaft laut, die „Menschenopfer für den Kapitalismus“ (Thomas Assheuer in Die Zeit, 21. April 2020) forderten. Die Politik der Regierung Merkel unterscheidet sich hier nur im Detail von der Politik der Regierung Trump – die dahintersteckende Staatsräson ist genau dieselbe: Die Kapitalmaschinerie muss weiterlaufen. Dicht gemacht wird nur, wenn die Arbeiter_Innen aktiv dicht machen – wenn sie also nicht kommen, also streiken – oder wenn es eigentlich schon zu spät ist. Diese Halbherzigkeit zugunsten der Wirtschaft macht eine effektive Bekämpfung der Pandemie politisch unmöglich.
Der Präsident des deutschen Lehrerverbands hat am 17. November 2020 ein zusätzliches Schuljahr gefordert – eine durchaus sinnvolle Forderung, wenn man davon ausgeht, dass Corona „nur“ noch ein Problem von vielleicht einem halben Jahrzehnt ist und nicht vielleicht eines von mehreren Jahrzehnten. Und wenn man davon ausgeht, dass es um Bildung ginge. Aber, ja, glaubt denn irgendjemand ernsthaft, dass Bundes- und Landesregierungen die Schulen und Kindergärten offen lassen, weil sie sich um die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen sorgen??? Völliger Unfug, es geht einzig und allein darum, den Eltern die Zeit zu geben, um ebendiese als Arbeitszeit verkaufen zu können! Darum hat die Forderung nach einem zusätzlichen Schuljahr auch keine Chance, denn dann sind die Blagen ja (nahezu) volljährig und können auf sich selbst aufpassen resp. ihre Arbeitskraft feilbieten.
Zum Beispiel mit einem Werkvertrag in der Fleischindustrie. Denn auch da ändert sich möglicherweise sehr wenig, zumal wenn es nach CDU/CSU geht. Sollen sie doch verrecken, die osteuropäischen Gastarbeiter_Innen, Hauptsache die Wurst kommt auf den Tisch. Wobei es eben gar nicht um die Wurst geht, sondern um den Wert.
Diese völlige Ignoranz des leiblichen Wohlergehens von Mitmenschen wäre nun wirklich mal ein Grund für mehr als nur ein paar lumpige Demonstrationen. Denn: Was am Beispiel des Schweinesystems deutlich wird, gilt auch ganz allgemein. Nachdem uns allen in der vergangenen Tarifrunde im Öffentlichen Dienst von der Lügenpresse den Mainstreammedien erklärt wurde, uns sei während des pandemischen Ereignisses kein Streik zumutbar, werden die Pflegekräfte und Krankenhausbeschäftigten einfach noch ein wenig mehr überlastet. Was schon in den Fleischfabriken Deutschlands galt, damit die Fleischpakete noch in die Aldi-Regale passen, gilt nun vermehrt auch dort: Arbeitsquarantäne. Soll heißen: Ihr dürft eigentlich nichts mehr, außer arbeiten. Die Systemrelevanz ist wieder da, wo sie hingehört: an der Frankfurter Börse, im DAX, bei den Banken und bei den Konzernen. Pflegekräfte, Einzelhandelskaufmänner und –frauen, Sicherheitsbedienstete: alle ersetzbar, alle kein bisschen systemrelevant. Auch die Wirtschaft um die Ecke – egal: Wenn die kleine Kneipe in unserer Straße zumacht und ein_e selbstständige_r Gastwirt_in in Hartz IV abrutscht, kommt bestimmt ein_ neue_r Soloselbstständige_r mit einer Bubble Tea- oder Cupcake-Ich-AG um die Ecke. Das ist zwar auch kapitalistische Ökonomie, aber eben keine systemrelevante. Die Botschaft ist so klar wie selten: Arbeitet oder sterbt. Und wenn ihr sterbt, arbeiten eben andere. Systemrelevanz war gestern, jetzt ist wieder Systemkritik notwendig.
Die linken Medien haben unisonso, im Sinne der streikenden Arbeiter_Innen der Welt, die Regierungsgmaßnahmen im Frühjahr unterstützt. Nicht, weil sie plötzlich systemkonform geworden wären und auf die Seite des Staats gewechselt wären. Sondern, weil der Staat ausnahmsweise das gemacht hat, was etwa Fridays For Future in Sachen Klima unerhört immer fordert: Er hat, zumindest tendenziell, auf die Expert_Innen gehört. Dass man dem an sich zu kritisierenden Staat zugesteht, auch mal richtig gehandelt zu haben, macht diese Medien noch nicht zu Systemkonformist_Innen.
Viele (bürgerliche) Leser_Innen vor allem der libertär-sozialistischen Medien sahen das anders und empörten sich über die plötzliche Staatsliebe “ihrer“ Zeitungen. Sie sahen eine Bedrohung von Freiheit und demokratischen Rechten. Zurecht, wie sich nun herausstellt, aber gar nicht in dem Sinne, wie sie es meinten – nämlich, erneut, nicht durch zu viele Maßnahmen, sondern durch zu wenige.
Corona ist – schon wieder – ein Brennglas, die Lupe, die das Primat des Ökonomischen vor dem Sozialen vergrößert. Der Staat ist immer noch Agent der herrschenden Klasse. Und die geht über Leichen – egal ob durch Krieg, Wirtschaftskrise oder Pandemie.
Titelbild: cc by Hovfot
Ich nehme mal an, der Einstieg soll sowas wie klickbait sein, weil die Analyse „die extreme Mitte = Querdenken kämpft für die Ziele der Regierung“ dann später im Artikel nicht wieder aufgegriffen oder irgendwie unterfüttert wird.
Der Rest des Artikels ist hauptsächlich verkürzte oder zumindest stark überspitzte Kritik an staatlicher Corona-Politik (z.B. „In Zeiten eines zweiten Pseudo-Lockdowns wäre es tatsächlich angemessen, gegen eine Regierung auf die Straße und die Barrikaden zu gehen, deren Pandemie-Politik nur ein Ziel kennt: Die Wirtschaft weiterkacken und nicht abkacken zu lassen.“), was grenzwertig ist, aber zumindest ein diskutabler Debattenbeitrag ist. Aber bei dem Einstieg, der irgendwie versuchte Querdenken und die Regierung gleichzusetzen, war ich zu Anfang komplett raus.