Pierburg-Streik – noch immer aktuell

„Sommer 1973, Firma Pierburg, Neuss am Rhein“. So beginnt der Film „Pierburg – ihr Kampf ist unser Kampf“. Er dokumentiert einen Arbeitskampf, der vor 50 Jahren Geschichte geschrieben hat. Über 2000 Frauen haben damals für gleichen Lohn für gleiche Arbeit gestreikt. Ein Großteil waren migrantische Frauen, „Der Kampf von Pierburg und andere Kämpfe sind erste Schritte für den Kampf zum Sozialismus“, erklärte damals die Stimme aus dem Off im Film etwas großsprecherisch. Was der Film aber zeigte, der Arbeitskampf führte zur Selbstermächtigung der Arbeiterinnen. Er zeigt, wie die Frauen gemeinsam lachen, tanzen, aber auch auf Demonstrationen für ihre Rechte eintreten. „Eine Mark mehr“ lautete die einfache Parole, die für die Beschäftigten eine große Bedeutung hatte. Es ging konkret um eine Mark mehr Lohn pro Stunde, aber es ging auch um die Weigerung der Frauen, weiterhin zu akzeptieren, für die gleiche Arbeit weniger Lohn als die Männer zu bekommen. Im Film sind Tafeln eingeblendet, auf denen über die Löhne und Gehälter der Werkschützer informiert wird, die für Ruhe und Ordnung im Betrieb sorgen sollen. Wir sehen auch in mehreren Szenen, wie die Polizei gegen die streikenden Frauen vorgeht, sie in Polizeiautos zerrt. In einer Szene bedroht der Polizeichef von Neuss die Streikenden mit einer Pistole. Der Chef von Pierburg verteidigt die Repression, denn für ihn ist wilder Streik Revolution. Diese Position ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass er schon im Nationalsozialismus als Betriebsführer ausgezeichnet wurde.

Doch die staatliche Repression führt auch zur Solidarisierung von Kolleg*innen aus anderen Betrieben. Da konnte auch das NS-geschulte Management mit ihrer Spaltungslinie nichts mehr ausrichten. Der Personalchef von Pierburg warnt vor „auswärtigen Krawallmachern“. Die Gewerkschaftsvertreter (nur Männer) des DGB hingegen weisen die Vorwürfe zurück und versichern, dass die Streikenden im Einvernehmen mit den Gewerkschaften handeln. Doch bald zeigte sich, was diese Worte wenig Wert sind. Da erklärte der gleiche Gewerkschaftsfunktionär wenig später , dass die streikenden Frauen das Werk verlassen und die einvernehmlichen Verhandlungen zwischen DGB und Vertretern des Unternehmens nicht stören sollen. Hier wird der Riss deutlich zwischen einem sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftsfunktionär, der gleich am Beginn seiner Rede betont, wie einig er sich mit der Betriebsleitung ist und den kämpferischen Frauen in den Rücken fällt. Doch die lassen sich davon nicht einschüchtern und hatten Erfolg. Die Lohngruppe 2, die den Niedriglohn für Frauen vorsah, wurde bei Pierburg abgeschafft. Die Stundenlöhne wurden um 65 Pfennig angehoben. Ein Großteil der ausgesperrten Arbeiter*innen mussten wieder eingestellt und vier von fünf Streiktagen bezahlt werden.

Nach Ende des Streiks begann der Rachefeldzug des Pierburg-Managements gegen die Belegschaft. So sollte ein Teil der Produktion an einen anderen Standort verlagert werden, was zu Entlassungen bei der kämpferischen Belegschaft geführt hätte. Das führte auch außerhalb des Betriebs zu einer großen Empörung und Pierburg musste die Pläne fallenlassen. Dafür werden seit Jahren aktive Betriebsräte politisch diffamiert und gekündigt. Auch hier musste das Pierburg-Management vor dem Arbeitsgericht eine Niederlage einstellen. Alle Kündigungsklagen wurden dort zurückgewiesen. Die Betriebsräte konnten so weiter mit ihren Kolleg*innen kämpfen „Die Belegschaft zu disziplinieren ist nicht gelungen“, heißt es in dem Film. Ein DGB-Justitiar erklärte, die Besonderheit des Verfahrens lag darin, dass erstmals Betriebsräte für einen spontanen Streik im Betrieb abgestraft werden sollten.

Spuren eines NS-Kommentators im deutschen Arbeitsrecht

Hier wird auch schon deutlich, warum es wichtig ist, 50 Jahre später an den Pierburg-Streik zu erinnern. Noch immer ist der sogenannte wilde Streik, also der Arbeitskampf, der nicht von einer tariffähigen Gewerkschaft getragen wird, in Deutschland verboten. Das mussten in den letzten Monaten und Jahren die Beschäftigten von Lieferkurierfirmen erfahren, die seit 2021 gegen ihre schlechten Arbeitsbedingungen gestreikt haben. Auch sie waren mit dem Erbe von Karl Heinz Nipperdey konfrontiert. Der ehemalige Kommentator des NS-Gesetzes zur Nationalen Arbeit hat 1952 während eines Arbeitskampfes ein Gutachten erstellt, das bis heute das Streikrecht in Deutschland maßgeblich beeinflusst. Dazu gehört das Verbot des politischen und des verbandsfreien Streiks, also eines Arbeitskampfes ohne gewerkschaftliche Beteiligung. Jetzt sind also auch die Rider*innen, wie sich die Beschäftigen der Lieferdienste nennen, mit den Erbe eines NS-Arbeitsrechtlers konfrontiert. In ihrem Kampf schauen sie auch auf die Kämpfe bei Pierburg, Heinze und vielen anderen Betrieben.

Eine wichtige Rolle beim Arbeitskampf der Lieferdienste spielte ab 2021 Duygu Kaya, die Teil des Gorillas Workers Collectivs ist. In einem Interview mit der Monatszeitung analyse und kritik sagt Kaya: „Für uns wäre es zentral gewesen, das Recht auf wilden Streik zu haben. So haben wir also das deutsche Streikrecht kennengelernt und uns, auch durch unsere Kündigung, mit der Geschichte wilder Streiks beschäftigt. Dabei sind wir natürlich auch auf die Streiks von 1973 gestoßen. Da ist uns klar geworden: Es ist kein Zufall, dass auch wir wild gestreikt haben, die Geschichte wiederholt sich. Darum haben wir angefangen, uns »Gastarbeiter 2.0« zu nennen.“ Hier benennt Duygu Kaya noch eine weitere wichtige Gemeinsamkeit zwischen dem Pierburg-Streik und den Arbeitskämpfen der Rider*innen in unseren Tagen. Bei Pierburg waren ca. 70 Prozent der Beschäftigten migrantische Arbeiter*innen. Sie prägten auch den Arbeitskampf. Es wurden dort auch verschiedene Sprachen gesprochen. Im Film wird das besonders deutlich, als der IG-Metall-Verhandlungsleiter im Hof des Neusser Pierburg-Werks die Ergebnisse des Verhandlungen verkündet. Zunächst benennt er auf deutsch die wichtigsten Punkte der Vereinbarung. Der Applaus blieb mässig. Denn es hatten ihn nur die deutschsprachigen Beschäftigten verstanden und die waren bei Pierburg in der Minderheit. Dann übersetzte ein Kollege die Verhandlungsergebnisse ins Spanische und großer Applaus brandete auf. Jetzt hatte die Mehrheit der Belegschaft verstanden. Auch bei den Riders-Streiks waren sehr verschiedene Sprachen zu hören, spanisch, englisch, türkisch und ganz selten auch deutsch.

Hier zeigt sich, wie schon bei Pierburg, dass die Arbeiter*innenklasse in Deutschland schon immer kosmopolitisch war. Die Menschen kamen aus verschiedenen Ländern, brachten ihre Sprachen aber auch ihre Streikkulturen mit. Erfolgreich waren sie dann, wenn sie sich nicht nach Herkunft, Geschlecht und anderen Identitäten spalten ließen und wenn sie nur auf sich selber und ihre Kraft und nicht die Gewerkschaftsbürokratie bauen. Diese Erfahrung machten sie Beschäftigten von Pierburg vor 50 Jahren und auch die Rider*innen von Gorillas und anderen Lieferdiensten seit 2021. Kaya brachte das im ak-Interview so auf den Punkt: . „Heute sind wir auch deshalb zu diesen prekären Jobs gezwungen, weil unsere Aufenthalts- und Lebensbedingungen prekärer sind als die deutscher Kolleg*innen. Und natürlich, weil wir keine anderen legalen Kampfmöglichkeiten haben – so wie die Gastarbeiter damals.“ Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir uns heute an die Kämpfe von vor 50 Jahren erinnern. Darauf können wir heute aufbauen in unseren Kämpfen.

Enden möchte ich mit zwei Strophen des Lieds „Brot und Rosen“, das im Jahre 1912 über 14000 streikende Textilarbeiterinnen bei einen Arbeitskampf in Lawrence/ USA gesungen haben und das seitdem in vielen Sprachen um die Welt gegangen ist Es war immer wieder da zu hören, wo Arbeiterinnen um ihre Rechte kämpfen, wie die Streikenden von Pierburg vor 50 Jahren und die Kolleg*innen des Gorillas Workers Collectivs.

Wenn wir zusammen gehen
gehen unsre Toten mit,
ihr unerhörter Schrei nach Brot
schreit auch durch unser Lied
sie hatten für die Schönheit,
Liebe, Kunst erschöpft nie Ruh
drum kämpfen wir ums Brot
und woll’n die Rosen dazu.

Wenn wir zusammen gehen
kommt mit uns ein bessrer Tag,
die Frauen, die sich wehren
wehren aller Menschen Plag,
zuende sei, dass kleine Leute
schuften für die Großen,
her mit dem ganzen Leben:

BROT UND ROSEN

 

Titelbild und Lesetipp: Dieter Braeg [Hg.]: „WILDER STREIK – DAS IST REVOLUTION“, Die Buchmacherei.

Hier geht es zur Reihe ‚Vergessene Arbeitskämpfe – Ein Punk-Abend‘ der Berliner Volksbühne.

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