Es war 03:00 Uhr Montagmorgen. Der Mond war voll und warf ein starkes Licht. Unter der Leitung von Kommissar Hare umstellten etwa 50 schwerbewaffnete Polizisten ein Hotel und verschanzten sich hinter Bäumen. Als die Polizei Stellung bezogen hatte, stürzten vier bewaffnete Männer heraus und eröffneten das Feuer. Als sie ihre aussichtslose Situation erkannten, zogen sie sich wieder in das Hotel zurück. Die darauf folgende Belagerung dauerte mit immer wieder auftretenden Schusswechseln bis in die frühen Morgenstunden. Als die Sonne langsam aufging, kam eine vom Morgennebel um hüllte Gestalt aus dem Hotel. Den halben Kör per in Rüstung gehüllt und auf dem Kopf einen Helm mit winzigem Schlitz als Sichtfenster darin, schritt der Mann schweren Schrit tes auf die Polizisten zu. Seine Arme waren in einem 90-Grad-Winkel vom Körper nach vorne gestreckt. Beide Hände umklammer ten jeweils einen geladenen Revolver. Der Mann eröffnete das Feuer. Die Polizisten schossen zurück, aber die Kugeln prallten von seiner gepanzerten Brust ab und fielen zu Boden. Immer näher kam der Mann schießend an die Polizeifront heran, als plötzlich eine Kugel sein Knie traf und ihn mit der 45 Kilogramm schweren Rüstung zu Boden sacken ließ. Eine weitere Kugel traf das andere Bein. Nun lag er ganz. Innerhalb von Sekunden hatten die Polizisten den Mann umzingelt. Sie nahmen ihm die Rüstung und den Helm ab. Als sie sein blutverschmiertes Gesicht und seine Wunden sahen, glaubten sie ihn tot und trugen ihn in den Bahnhof.
So oder so ähnlich könnte sich die letzte Schlacht des „Iron Outlaw“ Ned Kelly abgespielt haben. Der folgende Text möchte einen Einblick in das Leben und die Verhältnisse des Australiers geben, der sich gegen die Unterdrückung durch Staat und Polizei einsetzte und der für viele noch heute ein Volksheld ist.
Ned Kelly wurde im Dezember 1854 in Beveridge, Victoria als ältestes von acht Kindern geboren. Sein Vater John Kelly kam aus Tipperary, Irland. 1841 brachte man ihn in die Strafkolonie nach Tasmanien, weil er zwei Schweine gestohlen hatte. Nachdem er seine Zeit in Tasmanien abgesessen hatte, zog er 1848 nach Port Phillip, Victoria und heiratete zwei Jahre später eine Frau namens Ellen Quinn, die Mutter von Ned.
Australische Verhältnisse
Der größere Teil Australiens(1) wurde 1606 von einem Niederländer namens Willem Jansz entdeckt. 1642 erforschte die Niederländische Ostindien-Kompanie den westlichen Teil des Kontinents, maß ihm aufgrund seiner trockenen und unfruchtbaren Vegetation aber keine Bedeutung bei.
Zur Kolonisation kam es erst 1770 durch den englischen Seefahrer James Cook, der an der fruchtbareren Ostküste strandete und das Land als britische Kolonie „New South Wales“, die als Sträflingskolonie geplant war, für England in Besitz nahm. Im Januar 1788 erreichten die ersten Schiffe mit Siedlern und Sträflingen Sydney Cove. Bis 1836 wurde ganz Australien, abgesehen von Neuguinea, zur britischen Kolonie.
Neben der britischen Krone herrschten in Australien, wie fast überall auf der Welt, diejenigen, die Land und Geld besaßen. Unter dem starken Schutz der Polizei und auch des britischen Königshauses schikanierten die Großgrundbesitzer ihre Angestellten mit miesen Arbeitsbedingungen und Löhnen. Wer nichts hatte, hatte auch nichts zu sagen und konnte froh sein, dass er immerhin noch ausgebeutet wurde. Nur die Aborigines waren noch schlimmer dran.
Als sein Vater unerwarteter Weise verstarb, verließ Ned Kelly im Alter von zwölf Jahren die Schule, um seine Familie zu ernähren. Die Mutter zog mit ihren Kindern nach Eleven Mile Creek zwischen Greta und Glenrowan, was noch heute als „Kelly Country“ bekannt ist. Ned arbeitete die meiste Zeit über als Viehhirte oder Zaunbauer. Sehr früh war er so in die Konflikte der „kleinen Leute“ ein gebunden.
Als die ArbeiterInnen bessere Arbeitsbedingungen forderten, verwandelte sich die Verachtung der Großgrundbesitzer in Zorn – und die Polizei trat auf den Plan. Die hörige Polizei war fest entschlossen, den Willen der ArbeiterInnen zu brechen.
Sehr früh schon war der Polizei auch der junge Ned Kelly ein Dorn im Auge. Der zuständige Superintendent Nicholson mahnte Mrs. Kelly, ihre Farm sei ein Treffpunkt für Schurken und Pferdediebe. In seinem offiziellen Bericht forderte Nicholson: „Die Kelly-Gang muss aus der Nachbarschaft entwurzelt werden und durch ein hartes Urteil ins Gefängnis nach Pentridge gebracht werden. Das wäre eine gute Methode, ihnen die Arroganz auszutreiben.“
Mit der Zeit verschrieb sich die Polizei also dem Ziel, Ned Kelly und seine Brüder im Gefängnis zu sehen. Die Haftbefehle, die zum größten Teil auf Verleumdungen und Falschaussagen beruhten, häuften sich. In den späten 1870ern mussten Ned Kelly, Dan Kelly und zwei Freunde Joe Byrne und Steve Hard im australischen Busch untertauchen.
Guerilla-Krieg im Outback
Die Polizei fahndete weiterhin intensiv nach Ned Kelly. Ende Oktober 1878 ritten Sergeant Kennedy sowie die Constables Lonigan, Scanlon und McIntyre schwer bewaffnet aus. Am 25. Oktober campierten sie am Stringybark Creek – ohne zu wissen, dass nicht einmal eine Meile entfernt das „Kelly Camp“ lag. Während einer seiner Streifzüge durch die Gegend stieß Ned plötzlich auf das Polizeilager. Im Glauben, er und Dan würden erschossen werden, wenn man sie entdecke, gab Ned Alarm. Die Sorge war nicht ganz unberechtigt. Immer wieder gab es Gerüchte, nach denen die New South Wales Police gesuchte Verbrecher einfach erschoss (2). Am nächsten Tag zogen Kennedy und Scanlon auf Patroullie in den Busch und ließen Lonigan und McIntyre im Camp zurück. Die beiden entspannten sich gerade am Lagerfeuer, als Ned, Joe, Steve und Dan sich an das Camp heranschlichen. Sie forderten die beiden Polizisten heraus und befahlen ihnen, sich zu ergeben.
Lonigan sprang auf, griff nach seinem Revolver, doch zu spät: Eine Kugel, aus Ned’s Gewehr abgefeuert, erwischte den Polizisten tödlich. McIntyre ergab sich sofort. Als Kennedy und Scanlon wieder am Camp eintrafen, forderte Ned sie auf, sich zu ergeben. Doch die beiden eröffneten das Feuer. Eine wilde Schießerei setzte ein. Ned, dessen Schüsse als tödlich galten, erledigte Kennedy, während Byrne Scanlon erschoss. Der Polizist McIntyre schaffte es unterdessen, auf Kennedy’s Pferd zu fliehen. Die Gang bedeckte die Leichen der Polizisten mit Decken, nahm ihre Waffen und ritt davon.
Constable McIntyre erreichte indes Mansfield, schlug Alarm und erzählte eine Geschichte von einem feigen Hinterhalt und brutalen Gemetzel der Kellys. Diese Geschichte schockte Mansfield und später das ganze Land. Ned Kelly, Dan Kelly, Steve Hart und Joe Byrne wurden für gesetzlos erklärt, die es tot oder lebendig zu fangen galt. 200 Polizisten wurden in das Gebiet eingezogen. Die Menschenjagd begann.
Erklärung eines Aufrechten
Um sich und mittellose Sympathisanten über Wasser zu halten, raubte die Kelly-Gang Banken aus. Nie wurde jemand verletzt oder gar getötet. Das überschüssige Geld wurde schließlich unter der Bevölkerung verteilt.
Als die Gang sich nach Jerilderie aufmachte, um die Bank von New South Wales auszurauben, machten sie in der Nacht zuvor Halt im „Royal Mail Hotel“. Dort verlas Ned im Speisesaal vor etwa 60 Menschen ein selbst verfasstes Manifest, den „Jerilderie Letter“. Hier ist ein kleiner Auszug, in dem er Stellung zu der Schießerei am Stringybark Creek nimmt: „(…) Ich war gezwungen, sie zu erschießen oder mich zu ergeben, und sie mich erschießen zu lassen. Und es wäre noch nicht einmal dann vorsätzlicher Mord gewesen, wenn sie unsere blutig geschlagenen Überreste nach Mansfield mitgenommen hätten. Sie hätten großes Lob und Ansehen geerntet und würden befördert werden. Aber ich soll schrecklich brutal sein, weil ich nicht feige genug war, vor ihnen niederzuknien und ihre Demütigungen an meinen Genossen zu ertragen. Sicher, die Frauen und Kinder dieser Männer sind zu bedauern, aber sie dürfen nicht vergessen, dass diese Männer mit der Absicht in den Busch kamen, mich und meinen Bruder in Stücken über den ganzen Busch zu verteilen (…)”(3)
Rebellion und Repression
17 Monate lang hörte man erst einmal nichts mehr von der Kelly-Gang.
Frustriert von der Unterstützung, die die Gang seitens der Bevölkerung erfuhr, sah die Polizei nur einen Ausweg: Sie verhaftete über Monate hinweg Verwandte und Freunde der Kelly-Gang, ohne Gerichtsverhandlung oder auch nur einer Begründung. Als dies fehlschlug und die Kelly-Gang immer noch nicht aus ihrem Versteck zu locken war, legte die Polizei eine schwarze Liste mit Angehörigen oder Sympathisanten der Kelly-Gang an. Ihnen war es nicht mehr erlaubt, Land im nördlichen Osten zu beanspruchen. Diese Aktion beschwor eine Rebellion herauf.
Ned und die Gang entwarfen Pläne für eine „Republic of North-Eastern Victoria“, die durch einen Präventivschlag gegen die Polizei errichtet werden sollte.
Am 27. Juni 1880, einen Samstag, besetzte die Kelly-Gang das Hotel am Bahnhof von Glenrowan und nahm mehrere BewohnerInnen der kleinen Stadt als Geiseln. Die Gang wusste, dass die Zeit gekommen war, um aufzustehen und zu kämpfen. Sie wollten die Polizei in einen Hinterhalt locken: Eine Meile vor dem Bahnhof durch trennten sie die Schienen, so dass der Zug mitsamt den anrückenden Polizisten entgleisen musste. Bewaffnete Sympathisanten versteckten sich in den Wäldern, um die Polizisten später einkesseln zu können.
Am Sonntagmorgen verließ ein Zug voll besetzt mit schwerbewaffneten Polizisten Melbourne in Richtung „Kelly-Land“. In den frühen Morgenstunden des darauffolgenden Tages konnte man den na henden Zug in Glenrowan hören. Ned zog seine Rüstung an, bestehend aus einem zy lindrischen Helm, einer Brustplatte mit Schürze und einer Rückenplatte. Was man aber nicht hören konnte, war das Entgleisen des Zuges. Ein Informant hatte der Polizei von dem Vorhaben der Gang berichtet und diese konnte sich darauf einstellen.
Es kam zur letzten Schießerei in der Geschichte des Ned Kelly. Schwer verwundet überlebte er die Schlacht und wurde dreizehn Tage nach seiner Verurteilung, im Alter von 25 Jahren, am 11. November 1880 hingerichtet.
Anmerkungen
(1) Der kleinere Teil war Neuguinea und wurde bereits Anfang des 16. Jahrhunderts von portugiesischen Seefahrern entdeckt.
(2) Ein Polizist wird mit dem Satz zitiert: „Sollte ich Ned Kelly über den Weg laufen, werde ich ihn wie einen Hund erschießen.”
(3) Den vollständigen Brief kann man sich heute auf Englisch durchlesen unter http://ironoutlaw.com/html/ jerilderie_01.html
Der Inhalt gelang zu Kelly‘s Lebzeiten nie an die Presse. Bis 1930 wurde der „Jerilderie Letter“ vor der Öffentlichkeit geheim gehalten.
Ein Kommentar zu «„Erschießen sollte man ihn wie einen Hund!“»