Revolutionäre Bildsatire um 1900

Die im Nachhinein zur „Belle Epoque“ (Schöne Zeit) verklärte Periode, d.h. die 15 Jahre vor und nach 1900, gilt in Frankreich als das goldene Zeitalter der Karikatur. Nie wieder sollte die politische Bildsatire hinsichtlich ihrer ästhetischen Qualität wie der inhaltlichen Schärfe und Prägnanz ihrer Aussagen ein so hohes Niveau erreichen.

Diese Blütezeit politischer Kunst wurde wesentlich durch Künstler geprägt, die sich entweder explizit als Anarchisten (bzw. Syndikalisten) verstanden oder mehr als platonisch mit der Bewegung sympathisierten. Davon profitierten die Bewegungsmedien, die nicht nur mit Originalillustrationen der bekanntesten Zeichner und Maler der Zeit aufwarten konnten, sondern von diesen, sofern sie erfolgreich und wohlhabend genug waren (wie der Impressionist Camille Pissaro), auch finanziell unterstützt wurden.

Tatsächlich reichte die Wirkung dieser militanten Kunst weit über die „Szene“ hinaus. Doch während sich die anarchistischen Grafiker in ihren Brotarbeiten für die illustrierte Massenpresse, die überwiegend die Unterhaltungsbedürfnisse eines (klein)bürgerlichen Publikums bedient, politische Zurückhaltung auferlegen müssen, trifft das nicht für jenes Organ zu, das sich zu einem Laboratorium für revolutionäre Ästhetik entwickelte, das Zeit seines Erscheinens das führende und stilbildende Medium für Bildsatire war und bis heute ein Meilenstein des Genres ist: „L’Assiette au beurre“.

Anatomie einer Zeitschrift

„L’Assiette au beurre“ ist kein Bewegungsblatt, sondern ein kommerzielles Projekt. Nachdem der Zeitschriftenverleger Salomon Schwartz mit harmlos-humoristischen Blättern einen eher mäßigen Erfolg erzielt hat, sucht er mit dem Konzept eines künstlerisch anspruchsvollen und zugleich politisch aggressiven Satiremagazins nach neuen Absatzmöglichkeiten. „L’Assiette au beurre“ wendet sich an ein intellektuelles, linksbürgerliches Publikum, will explizit „Künstler und Denker” ansprechen. Der verwegene, heutige geradezu aberwitzig anmutende Gedanke, mit radikaler Gesellschaftskritik Geld verdienen zu wollen, erklärt sich aus den Zeitumständen. Im Zuge der Dreyfus-Affäre haben sich Teile des Bürgertums und der neuen Mittelschichten politisch radikalisiert. Die begleitende Erschütterung der traditionellen Werte hat im kulturellen Bereich bis dahin ungeahnte Freiräume für Sozialkritik eröffnet.

Zur Erinnerung: Der jüdische Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus war auf Grundlage gefälschter Dokumente wegen Spionage für den deutschen Erbfeind 1894 zur Deportation auf die Teufelsinsel verurteilt worden. Der anfängliche Justizskandal wuchs sich in den folgenden Jahren zu einem das ganze Land in Dreyfusanhänger und -gegner spaltenden Politikum aus. Dass sich die Anschuldigungen gegen Dreyfus als antisemitisches Komplott herausstellten, Dreyfus freigesprochen und schließlich rehabilitiert werden musste, bedeutete einen schweren Legimitationsverlust für die Armee und eine politische Niederlage für die sie unterstützende klerikale bzw. antisemitische Rechte.

„L’Assiette au beurre“ erscheint vom 4. April 1901 bis 15. Oktober 1912 als Wochenblatt in 600 Nummern (593 Einzelhefte und 7 Sonderausgaben). Jedes der 16-seitigen Hefte besteht aus ganzseitigen, überwiegend farbigen Illustrationen. Jedes Heft ist einem bestimmten Thema gewidmet und wird von einem Künstler, mitunter auch von mehreren Künstlern gestaltet. Die Abbildungen sind in der Regel mit kurzen bissigen Texten versehen. Dieser „erklären“ oder ergänzen das Bild, sodass der satirische Witz aus dem Zusammenspiel von Wort und Bild resultiert (ein rein graphischer Witz, der ohne Worte auskommt, ist zu dieser Zeit noch selten). Ungeachtet der verschiedenen Zeichenstile und -techniken der beteiligten Grafiker entsteht so ein homogenes Gesamtkonzept.

Das inhaltliche Spektrum der Themenhefte reicht von der Politökonomie (Der Streik, Das Geld, Die Börse, Die Bosse, Der Krieg, Der Frieden, Der Kolonialismus usw.) über Berufsgruppen und soziale Schichten (Die Bourgeoisie, Der Klerus, Die Richter, Das Militär, Die Ärzte, Die Polizei usw.), die Gesellschaft (Erziehung, Prostitution, Alkoholismus, Psychiatrie, Geburtenkontrolle, Jugendkriminalität usw.), die Moral (Ehre, Respekt, Konformismus usw.), Internationales (Kolonialismus, Burenkrieg, Russische Revolution 1905 usw.) bis zu den diversen tagesaktuellen oder trivialen Sujets.

Die aufwendige Gestaltung von „L’Assiette au beurre“ (hochwertiges Papier, großformatige Farbreproduktionen), der Verzicht auf Werbeannoncen sowie die überdurchschnittliche gute Bezahlung der Künstler (60 Francs pro Zeichnung, ein Arbeitermonatslohn beträgt 100-150 Francs) sorgen dafür, dass die Zeitschrift trotz des hohen Preises (50 Centimes, das Zehnfache einer Tageszeitung), der proletarische Käufer tendenziell ausschließt, nie den erhofften Gewinn abwirft. Als Schwartz in Schwierigkeiten gerät und die Zeitschrift 1904 an den Großverleger André de Joncières verkaufen muss, bleiben, sicherlich aufgrund des hohen Renommees der Zeitung, redaktionelles Konzept und Gestaltung, damit aber auch die finanziellen Probleme unverändert. Schließlich muss der Verleger die Zeitschrift aus seinem Privatvermögen finanzieren. Als mit der konservativen Wende nach 1910 allmählich das Publikum der Zeitschrift, die in ihren besten Zeiten eine Auflage zwischen 25.000 und 40.000 Exemplaren erreichte, wegbröckelt, stellt sie nach mehr als 11 Jahren das Erscheinen ein.

In dieser Zeit haben etwa 200 Künstler an der Zeitschrift mitgearbeitet, darunter bereits zu diesem Zeitpunkt renommierte Graphiker wie Steinlen, Ibels, Willette oder Vallotton. Bemerkenswert ist die hohe Präsenz solcher Zeichner, die nur noch als Vertreter der Kunstavantgarde bekannt sind, während ihr graphisches Werk, sei es aufgrund einer allgemeinen Geringschätzung von „Gebrauchskunst“, sei es aufgrund der entpolitisierten Kunstwahrnehmung seit dem Ersten Weltkrieg, heute vergessen ist. Zu nennen wären der Fauvist Kees van Dongen, der Begründer der abstrakten Malerei Franticek Kupka oder die Kubisten Juan Gris und Jaques Villon.

Doch die eigentlichen Stützpfeiler von „L’Assiette au beurre“, die repräsentativsten und produktivsten Beiträger, sind Jules Grandjouan (1875-1968), Aristide Delannoy (1874-1911) und Gustave Henri Jossot (1866- 1951).

Grandjouan, Delannoy, Jossot

Grandjouan ist der mit Abstand wichtige Mitarbeiter von „L’assiette au beurre“: 46 Nummern gestaltet er allein, an über 40 weiteren ist er beteiligt. Insgesamt gehen etwa 1000 Zeichnungen auf sein Konto, etwa ein Zehntel aller überhaupt in der Zeitschrift erschienenen Illustrationen. Doch damit nicht genug. Grandjouan (ein „Gigant der politischen Karikatur“) ist der Typus des militanten Graphikers. Seine Zeichnungen sind in allen anarchistischen und linksradikalen Blättern der Zeit zu finden (Le Libertaire, Les Temps nouveaux, La Guerre sociale usw.). Vor allem aber ist er als Syndikalist über Jahre hinweg quasi der Hausgraphiker der jungen CGT. Es illustriert nicht nur die Gewerkschaftspresse ( La Voix du peuple, La Voix ouvrière, La Bataille syndicaliste) sowie Propagandabroschüren (wie Georges Yvetots „ABC des Syndikalismus“), er ist der Begründer des politischen Bildplakats in Frankreich und nahezu exklusiver Plakatgestalter der CGT.

Aristide Delannoy (1874-1911), ist um die Jahrhundertwende eines der neuen Zeichnertalente, die in der Frühphase von „L’Assiette au beurre“ eine Chance erhalten und schon bald zum festen Stamm gehören. Er zeichnet im Laufe der Jahre ein Dutzend Vollnummern und ist an mehr als 50 weiteren beteiligt (insgesamt ca. 300 Zeichnungen). Ungeachtet dieser regen Mitarbeit an „L’Assiette au beurre“ kommt seine spezifische Begabung besser in den 150 Porträtzeichnungen zur Geltung, die er ab 1908 für „Les Hommes du jour“ anfertigt, einem von ihm und dem Journalisten Victor Méric herausgegebenen, vierseitigen Pamphlet, das im Wochenrhythmus jeweils einen „Mann des Tages“ (positiv oder negativ) würdigt. Hier erscheint auch sein Porträt eines Generals als bluttriefender Metzger, das ihm den Gefängnisaufenthalt einträgt, an dessen Nachwirkungen er 1911, mit 37 Jahren, stirbt.

Gustave Henri Jossot (1866-1951) ist vielleicht jener Zeichner, der heute auf Anhieb am modernsten wirkt. Seine vereinfachender, typisierender Stil mit den markanten Konturlinien und der flächigen Farbigkeit macht seine Zeichnungen (ca. 300, davon 18 Vollnummern) ebenso unverwechselbar wie sein drastischer, mitunter zynischer Humor. Er ist der eher individualanarchistische Grundsatzkritiker aller bürgerlichen Institutionen und ihrer mentalen Stützen (Autoritätsglaube, Konformismus), schonungslos, aber auch ohne Utopie.

Kritik an der Linken

„L’Assiette au beurre“, das ist, frei übersetzt, der Platz an der Sonne, ein Symbol für Glück und Reichtum. Wer die „assiette au beurre“ hat, gehört buchstäblich zu den Glücklichen und Auserlesenen der Welt. Ein ironischer Seitenhieb auf die Parlamentarier, denn ein Sitz im Parlament ist die „assiette au beurre“ schlechthin, im weiteren Sinne auf das gesamte, wohlsituierte linke Bürgertum, das im doppelten Sinne Zielgruppe der Zeitschrift ist: als Käufer und als Zielscheibe der Kritik. Denn nichts wird in „L’Assiette au beurre“ so ausdauernd verhöhnt wie die pseudorevolutionären Attitüden dieser Schicht. Eine Zeichnung von Hermann-Paul zeigt einen vornehmen Herrn im Frack, der, offenbar kurz vor einer mondänen Abendgesellschaft, seinen strammstehenden, livrierten Diener anweist: „Wenn alle da sind, bringen Sie die revolutionären Zeitungen herein“. Titel: „Ein guter Sozialist“.

Die Kritik kommt nicht von ungefähr. Die parlamentarische, republikanisch-linksliberal- sozialistische Linke, durch die Dreyfus- Affäre 1899 an die Macht geschwemmt, führt in den Jahren nach 1900 eine Art Zweifrontenkrieg. Zusammen mit dem linken (auch revolutionären) Lager einen Kulturkampf gegen die katholische Kirche und die klerikale Rechte, der 1905 in die Trennung von Kirche und Staat mündet, und andererseits, gestützt auf die Armee, einen Klassenkampf gegen den revolutionären Syndikalismus, der in einer Reihe blutiger Militäreinsätze gegen streikende Arbeiter gipfelt (Draveil-Villeneuve- Saint-Georges 1908, Eisenbahnerstreik 1910), bei denen sich besonders „radikale“ (Ex-)Linke wie Clemenceau oder Briand als Ordnungspolitiker hervortun.

Der neue Zeitgeist steht rechts. Die von der Dreyfus-Affäre ausgelöste Krise bleibt ein vorübergehendes, kulturelles Phänomen, nimmt angesichts ökonomischer Stabilität nicht die Dimensionen einer Systemkrise an. Vielmehr macht sich eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte bemerkbar. Ein bis in die sozialrevolutionäre Linke übergreifender Patriotismus, verbunden mit der Wertschätzung einer reformierten Armee als Garant einer starken Nation.

Armee und Kirche, bis dahin immer als repressive Einheit von „Säbel und Weihwedel“ wahrgenommen, unterliegen nun deutlich unterschiedlicher Bewertung. Wird Religionskritik und Antiklerikalismus nicht nur geduldet, sondern sogar ermuntert, zieht die Kritik an Militarismus und Armee schnell juristische Repressalien nach sich (vgl. das Schicksal Delannoys).

Die veränderte Lage bleibt auch für revolutionäre Publizistik nicht ohne Folgen. Die finanzielle Situation von „L’Assiette au beurre“ wird immer prekärer, die technische und ästhetische Qualität sinkt, der „harte Kern“ ihrer Mitarbeiter bricht auseinander. Delannoy stirbt 1911, Grandjouan, seinerseits wegen antimilitaristischer Propaganda zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt, flieht im gleichen Jahr ins Ausland, Jossot erleidet eine „spirituelle Krise“ und konvertiert zum Islam.

Der Erste Weltkrieg wirft seine Schatten voraus.

Eine größere Auswahl an Nummern unter www.assietteaubeurre.org

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