Editorial

Kaum war die letzte DA mit ihrem Leitartikel über die aktuelle Armutsdebatte in Deutschland draußen, legte der hauptberufliche Schreibtisch-Noske Thilo Sarrazin auch schon wieder nach und mischte sich ein in die Diskussion, ob ärmeren Menschen in Hinsicht auf die steigenden Energiepreise generell staatliche Hilfe geleistet werden solle. In seiner unnachahmlichen Art erklärte er, diejenigen, die unter den hohen Heizkosten leiden, sollten sich doch einfach mal überlegen, „ob sie mit einem dicken Pullover nicht auch bei 15 oder 16 Grad Zimmertemperatur vernünftig leben können“. Seine kalten Küchentipps, wie man von Hartz IV leben und sogar sparen könne, indem man sein kulinarisches Sparprogramm beherzigt, hallten da noch in den Ohrwindungen nach.

Zwei Wissenschaftler von der TU Chemnitz meinten nun, solche fiskalische Perfiditäten noch übertrumpfen zu können: Viel zu viel würden die ALG-II-Empfänger bekommen. Nach ihren Berechnungen betrüge das Minimum einer Existenzsicherung 132 Euro. Angesichts der momentan eklatanten Verschwendung staatlicher Gelder fordern die beiden Sarrazin-Plagiate dann auch eine drastische Kürzung der Regelsätze. Unweigerlich ließ mich das an den Sheriff von Nottingham denken, der den Reichen die Kronjuwelen behütete und sich inbrünstig dafür aufopferte, ob bei den Ärmsten noch ein Geldstückchen unter dem Kopfkissen zu finden ist. Und für den verspürte ich als Kind schon nur Groll. Farbig male ich mir also aus, wie ich einen Kommandotrupp von Arbeitslosen in Norwegerpullis anführe, Sarrazin und Konsorten entführen lasse und über mindestens zwei Jahre in einem Hartz-IV-Camp, einem Laboratorium unter authentischen ALG-II-Bedingungen einsperre. Mal sehen, ob ihnen das endlich das Maul stopfen würde. Der Vorschlag der Vorsitzenden der Diakonie, Susanne Kahl-Passots, Sarrazin doch mal ein Praktikum im sozialen Bereich machen zu lassen, geht mir nämlich definitiv nicht weit genug.

Erfreulich immerhin, dass sich immer mehr Leute gegen diese Zustände wehren, wenn auch auf die individuelle Art. Fast 62.000 Hartz-IV-Empfänger haben im ersten Halbjahr 2008 gegen ihre Bescheide geklagt. Damit sei die Zahl der Verfahren gegen ALG-II im Vergleich zum Vorjahr um 36,2% gestiegen. Ohne Frage, Unruhe kehrt ein ins deutsche Haus. Mal sehen, ob das weitergeht, wenn wir bald wieder zu Arbeitszeiten aus dem Frühkapitalismus schuften dürfen. Denn um die 65-Stunden-Woche in der EU zu verhindern, bedarf es schon mehr als individueller Klagen. In welche Richtung das gehen könnte und sollte, dafür findet sich ein schönes Beispiel in der Anti-Starbucks-Kampagne und dem globalen Aktionstag vom 5. Juli, dem wir in dieser Ausgabe mit unserem Starbucks-Special (Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4) viel Raum schenken. Der 12. Juli soll auf jeden Fall nicht der letzte Versuch eines international organisierten syndikalistischen Kampfes gewesen sein. Und so laufen bereits in der CNT in Spanien und der FAU Vorbereitungen für eine internationale Kampagne gegen die neue EU-Arbeitszeitrichtlinie.

Zuletzt sei noch darauf verwiesen, dass es auf dem letzten Bundeskongress der FAU wieder einmal einige Wechsel im DA-Team gab: Das Layout wird bereits seit letzter Ausgabe in Kiel besorgt und unsere Abo-Verwaltung hat, ebenso wie die Glücksfee unseres Kreuzworträtsels, nach München gewechselt; die Redaktionen „Globales“ und „Hintergrund“ befinden sich nun in Berlin, „Kultur“ in Braunschweig und die „Letzte Seite“ in Düsseldorf . Dezentraler geht es nicht? Oh doch – wenn auch eher aus der Not heraus. Denn dieses Jahr wird mit viel Abwechslung zu rechnen sein, was die Redaktion „Betrieb und Gesellschaft“ betrifft. Diese wird von nun an rotieren und jede Ausgabe von einer anderen Ortsgruppe übernommen werden. Den Anfang macht noch einmal die alte BuG-Redaktion aus Berlin, die sich mit dieser Ausgabe dann auch verabschiedet. Und trotz vieler personeller Wechsel, die DA wird ihrer Linie treu bleiben.

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