Die Bewegung ist zurück

Diese Zahlen erregen Besorgnis in Spanien: Laut Eurostat nimmt die Ungleichheit der Einkommen immer weiter zu. Der Gini-Koeffizient, bei dem eine 0 für absolute Gleichverteilung und eine 100 für absolute Ungleichheitsverteilung steht, liegt für Spanien aktuell bei 34. Von den 16 EU-Ländern, die bislang entsprechende Daten für 2011 eingereicht haben, wird dieser Wert nur noch von Lettland übertroffen. Es ist der höchste, jemals für Spanien gemessene Wert der Einkommensungleichheit.

35 % der ArbeiterInnen, die momentan noch Arbeit haben, erreichen laut einer Erhebung der Gewerkschaft CC.OO nur den Mindestlohn von 641 Euro. Ein Viertel der Bevölkerung ist erwerbslos. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die Not von Millionen Menschen, die gezwungen sind, ihrem rasanten sozialen Abstieg beizuwohnen, deren Lebensqualität im freien Fall begriffen ist und von denen sehr viele zwischenzeitlich nicht mehr in der Lage sind, absolute Grundbedürfnisse, wie eine Wohnung oder ausreichende Nahrung zu finanzieren.

Während die StatistikerInnen belegen, dass die Folgen der Krise einseitig auf die ökonomisch schwächeren Teile der Bevölkerung abgewälzt werden, wird dort der Widerstand gegen den Klassenkampf von oben forciert. Am 25. September meldete sich die Bewegung 15M mit einer großen Demonstration in Madrid wieder auf der Bühne des Protestes zurück, nachdem es zuvor einige Monate ruhig um sie gewesen war. Anlass der Demo waren Beratungen über den Haushalt 2013, die an diesem Tag stattfanden. Die

Nichts geht mehr: Ganz Spanien steht still! (Quelle: http://de.indymedia.org/2012/03/326948.shtml)

konservative Regierung verkündete anschließend, dass man nächstes Jahr 40 Milliarden Euro einsparen möchte. Dies stellt, wie könnte es in diesen Zeiten anders sein, mal wieder eine neue Superlative dar. Die Bewegung 15M ist heterogen, oftmals wird aus diesem Spektrum die Erarbeitung einer neuen Verfassung eingefordert, die eine „wirkliche Demokratie“ ermöglichen soll. Andere Fraktionen und Gruppen positionieren sich hingegen radikaler gegen den Kapitalismus und für eine Basisdemokratie. Die Demonstration fand unter dem Motto „Occupy Parlamento“ statt und hatte zum Ziel das Parlament mit einer Menschenkette zu umschließen. Wie die OrganisatorInnen im Vorfeld immer wieder ausdrücklich betonten, sollte dies auf eine friedliche Art und Weise geschehen. Die Regierung malte zeitgleich vehement ein Schreckensszenario von Zerstörung und Gewalt in die Diskurse und schreckte auch vor der frei erfundenen Ankündigung, dass die OrganisatorInnen mit Neonazis gemeinsame Sache machen würden nicht zurück.

Polizeigewalt provoziert Reaktionen

Wie von der Regierung prognostiziert, kam es zu einer Eskalation der Gewalt, nachdem die Demonstration die Absperrungen vor dem Parlament erreicht hatte. Die Ursache hierfür war in den folgenden Tagen Anlass für hitzige Diskussionen. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie aus einer Gruppe heraus mit Fahnenstangen in Richtung der Polizei geschlagen wird, was diese zum Anlass nimmt anzugreifen. Weitere Aufnahmen zeigen die wenig zimperliche Festnahme einer vermummten Person aus eben jener Gruppe, die lauthals versucht darauf aufmerksam zu machen, dass sie ein Kollege ist. Es waren aber nicht nur diese Szenen, die für Empörung sorgten. Zahlreiche Aufnahmen von diesem Abend dokumentieren exzessive Polizeigewalt. Spontan versammelten sich am folgenden Abend erneut weit über zehntausend Menschen am Platz des Neptunbrunnen in der Nähe des Parlamentes. Diesmal um gegen die Repression des Vortages zu demonstrieren und den Rücktritt der Regierung zu verlangen. Dort fand zu diesem Zeitpunkt bereits die Abschlusskundgebung einer Gewerkschaftsdemonstration statt.

Aus Anlass eines Generalstreiks im Baskenland und in Navara an diesem 26. September, hatte ein Bündnis von „klassenkämpferischen Alternativgewerkschaften“ landesweit zu Solidaritätskundgebungen mobilisiert. Ihr mittelfristiges Ziel ist ein landesweiter unbefristeter Generalstreik, der dem Sparregime ein für alle Mal den Garaus machen soll. Langfristig streben sie die Überwindung des Kapitalismus an. Diese Kampagne wurde ursprünglich im Sommer 2011 von den syndikalistischen Gewerkschaften CGT, SO und CNT angestoßen. Der Forderung „Hacia la huelga general!“ hatten sich an diesem Tag weitere Basisgewerkschaften und gewerkschaftsübergreifende Gruppen, wie die linksnationalistische SAT aus Andalusien, die Cobas, die Intersindical Alternativa aus Katalonien und lokal auch verschieden Gruppen aus dem 15M-Spektrum angeschlossen.

Generalstreik in Nordspanien

Den landesweiten Generalstreik, den diese Organisationen anstreben, können sie mangels Massenbasis allerdings auch vereint noch nicht umsetzen. Dies ist vorläufig nur im Norden Spaniens möglich, denn dort verfügen die linksnationalistischen Gewerkschaften ELA und LAB über eine breite Basis, welche im restlichen Spanien nur den sozialpartnerschaftlichen Mehrheitsgewerkschaften CC.OO und UGT zur Verfügung steht. An deren auf einen Tag befristeten Generalstreik beteiligten sich auch CGT und CNT sowie weitere Alternativgewerkschaften aus der Region. Der Generalstreik war nach Angaben der OrganisatorInnen ein Erfolg. Zwischen 70 und 80 Prozent der Industrie, des Öffentlichen Dienstes und des Transportsektors seien zum Erliegen gekommen, gaben sie zu Protokoll. „Der heutige Generalstreik war ein weiterer Fortschritt, aber wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass wir noch viele weitere Schritte gehen müssen, um unsere Ziele zu erreichen“, resümierte die CNT in einer Presseerklärung. Für die Solidaritätskundgebungen in den anderen Landesteilen konnten mehrere tausend Menschen in 24 Städten mobilisiert werden. Während dieses Spektrum erklärt, dass es sich nicht an einer Rettung des kapitalistischen Wirtschaftssystems beteiligen werde, hat sich das Milieu rund um die sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften genau diesem Ziel verschrieben. Ausgehend von einer Initiative von CC.OO und UGT wurde bereits im Sommer ein „Sozialgipfel“ ins Leben gerufen, dem sich zwischenzeitlich über 150 weitere Organisationen zurechnen. Sie fordern ein Referendum über die Sparpolitik der aktuellen Regierung. Bereits am 15. September führten sie eine Großdemonstration in Madrid durch, an der sich teilweise auch Gewerkschaften aus dem alternativen Spektrum, wie zum Beispiel die CGT und die SAT beteiligten. Nachdem SAT-AktivistInnen im Sommer in Robin-Hood-Manier Supermärkte geplündert hatten und die Lebensmittel an karitative Organisationen verteilten, genoss die Gewerkschaft eine große mediale Aufmerksamkeit. Ihr Vorsitzender Diego Cañamero avancierte zu einem beliebten Interviewpartner und nahm an zahlreichen Talkshows teil.

Blamage für die Regierung

Die Forderung des „Sozialgipfels“, die am 7. Oktober erneut im Rahmen eines dezentralen Aktionstags formuliert wurde, wird unterdessen von der öffentlichen Meinung überholt, denn immer mehr SpanierInnen schließen sich der Forderung nach einem Update der Verfassung an. Laut einer Umfrage der liberalen Tageszeitung El Pais, deren Ergebnisse am 6. Oktober veröffentlicht wurden, stimmen 49 % der SpanierInnen mit der Position überein, dass eine tiefgreifende Reform der spanischen Verfassung notwendig ist. Weitere 44 % sind der Meinung, dass die Verfassung zumindest teilweise nachgebessert werden muss. Diese Umfrageergebnisse, die erstaunlich deutlich den Positionen des gemäßigten 15M-Spektrums entsprechen, blamieren die Regierung. Diese hatte nach den Tagen des Protestes Ende September immer wieder verkündet, dass es nur eine Minderheit sei, die auf die Straße gehe und dass die Mehrheit der Spanier folglich hinter ihrer Politik stünde. Derweil kommt es innerhalb der Allianz der Alternativgewerkschaften zu Spannungen. Die CGT hat für den 31. Oktober im Alleingang einen landesweiten Generalstreik ausgerufen. Ein mehr als ehrgeiziges Vorhaben. Die CNT reagierte darauf mit einem Kommunique, in dem sie die Wichtigkeit eines gemeinsamen Vorgehens betont, wolle man zum Erfolg kommen. CC.OO und UGT mobilisieren unterdessen zu einem erneuten Generalstreik am 14. November. Sollte der Generalstreik der CGT tatsächlich von Erfolg gekrönt sein, würde somit Mitte November der neunte eintägige Generalstreik Spaniens nach dem Ende des Franquismus stattfinden. Drei davon im Jahre 2012.

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