„Der Kapitalismus hat seine Möglichkeiten noch keineswegs ausgeschöpft. Dies ist als Drohung zu begreifen.“ So bringt Ralf Krämer die gesellschaftliche Situation in den entwickelten Industrieländern in der Einleitung zu seinem Buch Kapitalismus verstehen (VSA Verlag, Hamburg 2015) auf den Punkt. Krämer versteht sich als linker Gewerkschafter und demokratisch orientierter Sozialist. Seine nun in Buchform vorliegende Einführung in die Politische Ökonomie der Gegenwart ist aus Vorlagen für Kurse im Rahmen der Bildungsarbeit der Linkspartei sowie aus Vorarbeiten entstanden, die er in seiner Funktion als Gewerkschaftssekretär von ver.di im Bereich Wirtschaftspolitik entwickelt hat. Dementsprechend plädiert Krämer für eine stärkere Rolle des Staates als Regulator und als ökonomischer Akteur bei einem (notwendigen) sozial-ökonomischen Umbau der Gesellschaft. Als Hauptgegner lokalisiert er das Finanzkapital und den Neoliberalismus. Einerseits analysiert Krämer die ökonomischen Verhältnisse zwar strikt auf marxistischer Grundlage, argumentiert politisch aber auf demokratische und sozialstaatliche Weise.
Was das Buch dennoch für alle klassenbewussten ArbeiterInnen und antikapitalistischen AktivistInnen so spannend macht, ist die einfache und leichtverständliche, dabei aber immer genau und prägnant geschriebene Analyse der aktuellen Politischen Ökonomie des Kapitalismus. Selten habe ich die Marxsche Ökonomiekritik und die materialistische Analyse der kapitalistischen Produktionsweise so allgemeinverständlich und flüssig lesbar vorgefunden.Aus diesem Grund fasse ich die wesentlichen Textstellen und Aussagen des Buches zusammen und empfehle es zur Lektüre:
Vorbemerkung
Die Wirtschaft kann nicht begriffen werden, wenn man nur abstrakt Marktgesetze betrachtet. Es geht stattdessen immer auch um gesellschaftliche Machtverhältnisse und Klassenkonflikte. Dementsprechend gibt es keine unpolitische oder „neutrale“ Ökonomie, egal was die wirtschaftsliberalen VerteidigerInnen des Kapitalismus auch immer von sich geben mögen.
Darum ist es auch so wichtig die Politische Ökonomie der Gegenwart genau zu analysieren. Gleichzeitig können Wissenschaft und theoretische Erörterungen nur dann einen Beitrag zu einer sozialen Umgestaltung der Gesellschaft und perspektivisch zur Überwindung des Kapitalismus leisten, wenn sie sich mit den Interessen und Kämpfen der ArbeiterInnen verbinden.Der Kapitalismus, das heißt sowohl die Kapitalseite als auch die Lohnarbeit, ist ständigen Veränderungen unterworfen. So gab es früher mehr Arbeiterkämpfe in der Industrie, wogegen heute mehr Streiks im Dienstleistungsbereich (Einzelhandel, Logistik), im öffentlichen Dienst (Krankenhäuser, Kitas) und im Verkehrswesen (Bahn, Luftverkehr) stattfinden. Bei allen äußeren Wandlungen der Wirtschaft existiert der Klassenkonflikt dennoch unbeirrt weiter. Das Entscheidende ist nicht der sogenannte freie, sich angeblich selbst regulierende Markt, auch nicht der Austausch der Güter, sondern die Produktion, das heißt die konkrete Herstellung der Güter und Dienstleistungen.
Produktionsverhältnisse
Allgemein gesprochen besteht die kapitalistische Produktionsweise aus den Faktoren Kapital und Lohnarbeit sowie den Produktionsmitteln. Zu letzterem gehören die Arbeitsgegenstände, die Rohstoffe und die Werkzeuge/Maschinen. Diese Produktionsmittel bilden zusammen mit der Arbeitskraft der Arbeitenden die Produktivkräfte. Jetzt ist natürlich entscheidend, in welchen sozialen Formen die Arbeit organisiert wird. Dies betrifft die Frage nach den konkreten Produktionsverhältnissen, also beispielsweise auf welche Art und Weise die Menschen zusammen arbeiten. Das heißt, die Produktionsverhältnisse umfassen alle konkreten Verhältnisse in der Arbeitsteilung und Kooperation, der Planung und Leitung der Produktion, der Verteilung und des Austausches sowie beim Verbrauch der Güter und Dienstleistungen.
Die Produktionsverhältnisse werden von den Eigentumsverhältnissen, dem Kommando über die Arbeit, und die Entscheidungsgewalt über die Ziele der Produktion und dem Anteil an den Produkten bestimmt. Damit sind sie gleichzeitig Ausdruck der allgemeinen Herrschaftsverhältnisse und diese Verhältnisse prägen entscheidend die Menschen in einer Gesellschaft. Aber die Individuen werden auch noch von anderen, vielfältigen sozialen Bedingungen (Ideen, Traditionen, Diskursen, Religionen, usw.) beeinflusst und bestimmt. Daher sind die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse einer Gesellschaft auch immer ein hoch umkämpftes Feld.
Ware, Gebrauchswert und (ökonomischer) Wert
In der kapitalistischen Wirtschaft werden Waren nicht für den Eigenbedarf, sondern für den Tausch bzw. Verkauf hergestellt. Jede Ware hat eine Nützlichkeit (Gebrauchswert) für die KäuferInnen und einen Tauschwert, der sich als Preis der Ware darstellt. Darüber hinaus hat jede Ware auch einen (ökonomischen) Wert, der sich durch alle Arbeitsvorgänge, Rohstoffe, Fertigungsschritte, Verpackungs- und Transportschritte sowie den Verkaufsanstrengungen bemisst. Alle Arbeiten und Anstrengungen, die zur Herstellung und Verkauf einer Ware notwendig sind, gehen in den Wert der Ware ein. Damit ist der Wert also eine rein gesellschaftliche Eigenschaft der Ware und nicht etwa durch seine Nützlichkeit oder Qualität bestimmt.
Dem Doppelcharakter der Ware – Gebrauchswert und Wert – entspricht der Doppelcharakter der Waren produzierenden Arbeit: einerseits konkret nützliche Arbeit, andererseits abstrakt wertschöpfende Arbeit, mit anderen Worten: Erwerbsarbeit.
Kapital und Lohnarbeit
Ein Vermögen wird nur dann als Kapital bezeichnet, wenn es eingesetzt wird, um sich zu vermehren. Der vom Kapital angeeignete Wertzuwachs heißt Mehrwert, von dem der Profit ein Teil ist. Gesellschaftlicher Inhalt des Kapitalverhältnisses ist die Aneignung von (unbezahlter) fremder Arbeit. Die Nichtarbeitenden und Kapitalbesitzenden eignen sich also die Mehrarbeit an. Die Aneignung von Mehrwert und Mehrarbeit ist Ausbeutung. In der kapitalistischen Produktionsweise werden die Waren von vornherein kapitalistisch, das heißt zu diesem Zweck produziert. Die Quelle des Profits ist die vom Kapital (bzw. dem privaten Eigentümer der Produktionsmittel) angewendete Lohnarbeit. Es sind also die LohnarbeiterInnen, die die Quelle von Wert sind und gezwungenermaßen Mehrwert produzieren. Gleichzeitig vollzieht sich die kapitalistische Ausbeutung nicht so offensichtlich, weil sie nicht auf persönlicher Abhängigkeit und unmittelbarem Zwang beruht, sondern auf sozialer Abhängigkeit bei persönlicher Freiheit.
Haushaltsarbeit und Kindererziehung (immer noch meist von Frauen getätigt) gehen als Reproduktionsarbeit in die Wertbestimmung ein. Das Kapital kauft die fertige Arbeitskraft. Somit sind die Geschlechterverhältnisse auch als Teil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu betrachten. Dazu gehört die Benachteiligung der Frauen, die nach wie vor weniger verdienen, weniger lang arbeiten (dadurch geringere Rentenansprüche haben) sowie in Führungspositionen extrem unterrepräsentiert sind.Lohnarbeit wird heutzutage in Deutschland von 89 Prozent der Erwerbstätigen ausgeübt und macht 84 Prozent des Arbeitsvolumens, der insgesamt geleisteten Erwerbsarbeitsstunden, aus. Der Lohn entspricht nicht einem „Wert der Arbeit“, sondern ist der Tauschwert bzw. Preis der Arbeitskraft. Er entspricht der Wertschöpfung in nur einem Teil der gesamten Arbeitszeit. Das Kapital versucht durch die Erhöhung der Arbeitsintensität, der Steigerung der Arbeitsproduktivität und der Senkung der Löhne den Mehrwert für sich zu erhöhen. Das Kapital-Lohnarbeit-Verhältnis bedeutet immer Ausbeutung und Fremdbestimmung.Die Frage über die Höhe der Löhne sowie ganz allgemein über die Beschaffenheit der Arbeits- und Lebensbedingungen ist eine Frage nach dem Kräfteverhältnis und somit nach dem Stand des Klassenkampfes innerhalb einer Gesellschaft.
Akkumulation des Kapitals und Klassenkampf
Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft fußt auf den Privatbesitz an den Produktionsmitteln, also die Konzentration des Eigentums bei einem kleinen Teil der Gesellschaft sowie an einer Vielzahl an Lohnabhängigen, die gezwungen sind, als einzige Möglichkeit zum Erwerb ihres Lebensunterhalts ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Ergebnis ist eine extrem ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung. Gleichzeitig verschafft das Eigentum an den Produktionsmitteln den Kapitalisten nicht nur ökonomische (Betriebsvergrößerung, Schließungen, Investitionsentscheidungen, Profitverwendung) sondern auch enorme politische Macht.
In den kapitalistischen Gesellschaften finden daher ständig Auseinandersetzungen um die Gestaltungsmöglichkeiten der verschiedenen sozialen Klassen und Gruppen statt. Die Auseinandersetzung der Lohnabhängigen mit dem Kapital ist letztlich ein politischer und gesamtgesellschaftlicher Klassenkampf, in dem alltäglich um Positionen und die Veränderung von Kräfteverhältnissen gerungen wird, auch wenn die Beteiligten sich das nicht immer bewusst machen.Die kapitalistische Produktionsweise ist durch die Tendenz gekennzeichnet, dass der Umfang des Produktionsprozesses ständig vergrößert wird. Sie erzeugt unaufhörlich einen Zuwachs an Produktionsmitteln und Konsumgütern, der weit über den Ersatz verbrauchter Güter hinausgeht. Ziel ist nicht primär die Bedarfsdeckung der Gesellschaft, sondern die ständige Akkumulation von Kapital mittels Steigerung des Mehrwerts und der Produktivität. Die den Kapitalismus kennzeichnende extreme Ungleichverteilung der Vermögen und insbesondere der Produktivvermögen, Einkommen, Lebenschancen und Macht wird immer weiter fortgeschrieben und tendenziell verschärft. Es werden alle Bereiche und Tätigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise unterworfen, auch die die bisher im privaten Haushalt verrichtet wurden, wie Kochen und Pflege, oder die bisher durch öffentliche Dienste erledigt wurden.
Überproduktion und Krisen
Die Widersprüche der kapitalistischen Akkumulation führen nicht automatisch zum Zusammenbruch des Kapitalismus, sondern zu Krisenprozessen, in denen die Bedingungen und Widersprüche der kapitalistischen Produktion auf neuem Niveau reproduziert werden. Überproduktionskrisen, in denen bereits produzierte Waren keine KäuferInnen mehr finden, oder keine profitbringenden Preise erzielen, können entstehen, wenn Geld nicht mehr in die Produktion investiert wird und zu wenig zum Kauf von Waren verwendet wird. Der „Ausweg“ über die Aufnahme von Krediten birgt enorme Risiken für die Unternehmen, da sie auch bei Verlusten zurückgezahlt werden müssen.
Die Überproduktion von Waren ist Folge der Überakkumulation von Kapital und führt zu zyklischen Krisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren dies in Deutschland die Krisen 1966/67, 1974/75 (Erste Ölkrise), 1981/82, 1992/93, 2001/02 (Platzen der New Economy-Blase) und 2008/09 (Platzen der US-Immobilienblase, weltweite Finanzkrise). Seit dem Kriseneinbruch der 1970er Jahre ist in großen Teilen der kapitalistischen Welt eine längerfristige, über einzelne Zyklen hinaus gehende „strukturelle Überakkumulation“ eingetreten.Die Reproduktion und Akkumulation des Kapitals führt auf der einen Seite zur ständigen Revolutionierung der Produktivkräfte durch technologische Weiterentwicklung, mit dem Effekt, dass lebendige Arbeit durch Maschinerie ersetzt wird. Auf der anderen Seite produziert die Kapitalakkumulation Überproduktion und Krisen, die zu Erwerbslosigkeit, sozialer Ungleichheit, Unsicherheit, Ausgrenzung und der fortschreitenden Überbeanspruchung der natürlichen Ressourcen sowie der ökologischen Systeme führt.
Globalisierung und Finanzkapitalismus
Eine weitere Tendenz in den kapitalistisch hoch entwickelten Ländern ist die Konzentration und Monopolisierung der Unternehmen in (multinationale) Konzerne und Großunternehmen. Diese großen Kapitale verfügen über gewaltige finanzielle und produktive Potentiale, mit denen sie sowohl ökonomische (Produktion, Entwicklung, neue Technologien, Erschließung neuer Märkte) als auch politische (Einfluss und Druck auf den Staat) Macht ausüben. Neben und mit diesen multinationalen Konzernen bestimmen im modernen Kapitalismus auch institutionelle Anleger (Banken, Fonds, Versicherungen) maßgeblich den Lauf der Dinge. Die finanzkapitalistischen Fonds sind zu entscheidenden Akteuren auf den Finanzmärkten und somit für die Einzelkapitale geworden. Sie treiben die Zentralisation und Verflechtung des Kapitals auf globaler Ebene weiter voran.
Der Anstieg der weltweiten Finanzvermögen drückt keineswegs einen entsprechenden Anstieg des gesellschaftlichen Reichtums aus. Er zeigt vor allem eine vertiefte Finanzialisierung bzw. finanzkapitalistische Durchdringung der globalen Wirtschaft. Der wirkliche Reichtum besteht – abgesehen von dem Reichtum, den die Menschen selbst darstellen – nur aus den Sachwerten, also dem Land und dem Anlagevermögen sowie dem Gebrauchsvermögen. Mit noch so viel Finanzvermögen kann im Endeffekt nicht mehr erworben werden, als an Gütern und Dienstleistungen real produziert wird und zur Verfügung steht.
Kapitalistischer Staat
Im modernen Kapitalismus sichert der Staat die rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der Kapitalherrschaft und übernimmt darüber hinaus eine zentrale Rolle im ökonomischen und sozialen Regulierungssystem. Unabhängig davon, wer auch immer gerade die Regierung stellt, üben die bürgerlichen Eliten mittels der Verfügungsgewalt über die wichtigsten Produktionsmittel sowie das kapitalistisch beherrschte Finanzwesen die Hegemonie in den formaldemokratischen Gesellschaften aus. Die Staatsapparate und internationalen Institutionen sind so konstruiert, dass die herrschenden Klassen eine kapitalistische Politik auch gegen den Willen von Parlaments- oder Bevölkerungsmehrheiten durchsetzen können.
Es waren historisch die Arbeiterklasse und die Angehörigen der Unterklassen, die verschiedene soziale Standards (Arbeiterrechte, allgemeine Bildung, Absicherung bei Krankheit, Alter und Erwerbslosigkeit) sowie demokratische Grundrechte (Koalitionsfreiheit, allgemeines Wahlrecht, Pressefreiheit) durchgesetzt haben. Im heutigen Sozialstaat spiegelt sich der Einfluss der lohnabhängigen Klasse und der radikaldemokratischen Kräfte wider, die die gesellschaftliche Mitbestimmung und die sozialen Rechte erst der bürgerlichen Klasse abtrotzen mussten. Im Ergebnis führte der soziale Kampf der Arbeiterklasse und ihrer großen Organisationen (Gewerkschaften, Parteien) nach dem Zweiten Weltkrieg zum gesellschaftlichen Modell der „sozialen Marktwirtschaft“, die eine Art asymmetrischer Klassenkompromiss zwischen den Kräften von Kapital und Lohnarbeit war. Die Früchte des wachsenden Wohlstands sollten beiden Seiten zugutekommen. Der Klassenkompromiss blieb aber immer asymmetrisch, da die ökonomische und gesellschaftliche Herrschaft des Kapitals ungebrochen war.Zudem kündigte die herrschende Klasse seit den 1970er Jahren den wohlfahrtsstaatlichen Kompromiss auf und ging zu einer aggressiven Politik der Umverteilung von unten nach oben und des Abbaus sozialer Regulierungen über. Neoliberalismus und Globalisierung haben zum Abbau der sozialen Sicherungssysteme geführt. Es entstand ein permanenter Druck auf Erwerbslose, Arbeitsverhältnisse und Löhne. Es kam zur Ausweitung von Leiharbeit, Minijobs und Niedriglöhnen. Die staatliche Politik sorgte zusätzlich für die Liberalisierung der Finanzmärkte sowie die Privatisierung ehemals öffentlicher Aufgaben und Bereiche (Rente, Bildung, Gesundheit).
Neoliberale Entwicklung und Hegemonie
Globalisierung erweist sich in der Realität nicht als Sachzwang, sondern als ein neoliberales Klassenprojekt im Interesse des international operierenden Groß- und Finanzkapitals. Kern des modernen Imperialismus ist der internationale Expansionsdrang des großen Kapitals und die Durchsetzung dieser Interessen mittels staatlicher Macht und gegebenenfalls Gewalt. Die USA sind durch die Funktion des US-Dollars als faktisches Weltgeld, ihre militärische Macht und durch das US-basierte globale Finanzkapital eindeutig die imperialistische Hauptmacht auf dem Globus. Die ökonomische Hegemonie der westlichen Staaten (Nordamerika, EU, Japan), ihre ungebrochene Dominanz im Welthandel wird durch internationale Handels- und Investitionsabkommen weiter zementiert. Damit einhergehend steigt in den entwickelten Ländern der Druck auf historisch erkämpfte Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards.
Trotz Automatisierung, Digitalisierung und Internethandel bleibt die Warenproduktion die Regel. Die lebendige Arbeit verschwindet auch mit automatisierten Maschinensystemen nicht – nicht aus der Fabrik und schon gar nicht aus dem gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess insgesamt. Es wird zwar eine Verschiebung der Beschäftigungsstruktur zugunsten personenbezogener und wissensbasierter Dienstleistungen zu erwarten sein, jedoch werden Tätigkeiten mit geringen Qualifikationsanforderungen keineswegs verschwinden. Die neuen Beschäftigungsformen, in denen kreative und flexible Arbeitsprofile vorherrschen, sollen angeblich mehr Selbstbestimmung und -verantwortung für die Arbeitenden bedeuten. Diese neuen Arbeitsformen befreien zwar oft von starren Vorgaben, jedoch genauso von erkämpften Beschränkungen kapitalistischer Ausbeutung, von Arbeitsrechten, Mitbestimmung und sozialen Sicherheiten. Trotzdem werden diese vor allem von jüngeren Menschen, die noch ohne Familie, belastbar und mobil sind, als attraktiv betrachtet und von neoliberalen Ideologien hochgejubelt. Es geht jedoch nicht um Selbstbestimmung, sondern um indirekte Steuerung.Der Anteil der Dienstleistungen an der Gesamtwirtschaft steigt seit Mitte des 20. Jahrhunderts an. Dadurch wird die Industrie allerdings nicht verdrängt. Wir können vielmehr von einer industriellen Dienstleistungsgesellschaft sprechen. In entwickelten Gesellschaften sind alle Wirtschaftsbereiche voneinander – und vom internationalen Austausch – abhängig.
Die Krisendynamik ab 2007
Die kapitalistische Struktur der Gesellschaften und des Weltmarkts steht einem planvoll abgestimmten, Krisen vermeidenden und die Kosten gerecht verteilenden sozial-ökologischen Umbau diametral entgegen. Stattdessen geht der neoliberale Angriff von oben in der aktuellen Weltwirtschaftskrise ungebremst weiter.
Folge der US-Immobilienkrise 2007 war eine Banken- und Finanzkrise in den USA und in der Folge den anderen kapitalistischen Zentren, die in eine umfassende Weltwirtschaftskrise überging, vergleichbar der Krise 80 Jahre zuvor. Die Deregulierung des Finanzsektors hatte den Grundstein für die Krise gelegt. Der Staat sprang den zahlungsunfähigen Banken bei, um die für die kapitalistische Wirtschaft notwendige Funktionsfähigkeit des Finanzsektors aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wurden bedeutende Konjunkturprogramme aufgelegt, um die effektive Nachfrage zu stabilisieren. Die keynesianische Therapie funktionierte. Die Krisendynamik wurde zunächst gestoppt. Die Krisenursachen wurden aber nicht beseitigt und die Umverteilung von unten nach oben weiter vorangetrieben. Die herrschenden kapitalistischen und mehr oder minder neoliberalen Kräfte in den westlichen Ländern behielten die Kontrolle. Die Lasten und Folgen der Krise wurden auf die Mehrheit der Bevölkerung abgewälzt. Die Vermögen wurden weitgehend gerettet und stiegen nach kurzem Rückgang weiter an. Die Ungleichheit wurde weiter gesteigert, die Profiteure der Spekulation und Gewinnexplosion der vorangegangenen Jahre wurden nicht herangezogen. Die Reform des Finanzsektors blieb ohne tiefgreifende Re-Regulierung oder gar Übernahme öffentlicher Kontrolle stecken. Die Spekulation und die Entwicklung neuer Vermögenspreisblasen wurden durch die Zentralbankpolitik des extrem reichlichen und billigen Geldes sogar neu angefacht. Die Grundlagen für die nächsten internationalen Finanz- und Wirtschaftskrisen sind gelegt.
Hintergründe der Weltwirtschaftskrise
Der Krise 2008/09 lagen viele Ursachen zugrunde. Sie war/ist eine Konjunktur-, Weltfinanz- und Strukturkrise gleichermaßen. Als soziale und ökologische Krise äußerte sie sich zudem als eine in der sich das gesamte Weltwirtschaftssystem krisenhaft darstellte. Die Hintergründe dieser globalen Krise sind in der Deregulierung bzw. Liberalisierung der Finanzmärkte, der globalen Ungleichgewichte und ausufernden Verschuldung sowie der wachsenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen zu suchen. Im Weltmaßstab sind die Überschüsse der einen Länder die Defizite der anderen. Die Finanzvermögen der einen sind die Schulden der anderen, insbesondere des Staates.
Die EU ist von der Krise in einem Zustand getroffen worden, in dem die Binnenmarktfreiheiten des Kapitals über soziale und demokratische Rechte gestellt werden, auch wenn diese in einzelstaatlichen Gesetzen garantiert sind. Der Euro-Krise seit 2009 wurde mit mehreren „Rettungspaketen“ begegnet, um einige Länder des Euro-Raums vor der Staatspleite zu retten. Internationale Großanleger begannen auf eine Staatspleite und gegen den Euro zu spekulieren. Die „Rettungspolitik“ der Euro-Staaten und der EZB haben Staatspleiten und einen Zerfall des Euro-Raums bisher verhindert und die Vermögen der Gläubiger (große Banken) gerettet. Die ökonomischen und sozialen Krisen dauern indes an oder wurden sogar noch verschärft. Durch die neoliberale Politik der Kürzungen der Staats- und Sozialausgaben und der Löhne sind vor allem in den südeuropäischen Ländern die Menschen in eine soziale Verelendung gestürzt worden. Die Entwicklung im Euro-Raum, die von der politisch dominierenden deutschen Regierung bestimmt wird, hat zu einer ökonomischen Stagnation geführt. Der Bankensektor ist weiterhin von ausfallenden Krediten bedroht und krisenanfällig. Die Unternehmen zeigen eine schwache Investitionsneigung, die Inflationsrate rutscht immer tiefer und die Zinsen tendieren gegen Null. Es droht eine anhaltende Deflation. Das Zwei-Billionen-Euro-Programm der EZB wirkt einerseits stabilisierend gegen Crash und große Krise, andererseits hat es negative Wirkungen, denn es setzt die Austerität und Umverteilung nach oben fort. Die neoliberale Propaganda versucht den Leuten weiszumachen, dass die Staatsverschuldung und speziell die übermäßigen Ausgaben der Krisenstaaten der Grund und Kern der Euro-Krise sind. Die Griechen, Spanier, Portugiesen hätten über ihre Verhältnisse gelebt. Dabei haben tatsächlich weder die Mehrheit der Menschen noch die Staaten zu viel ausgegeben. Nur reiche Minderheiten haben über die Verhältnisse gelebt und außerdem viel zu wenig Steuern gezahlt, legal und auch auf kriminelle Weise. Die Verschuldung der EU-Staaten stieg erst in Folge der Finanzkrise und der damit verbundenen Belastungen, insbesondere der Kosten der Bankenrettungen, stark an. Die Verschuldung Japans liegt schon seit langem weit höher, ohne dass dies zu Finanzierungsproblemen führte.
Gewinner und Verlierer
Die Zerstörungen an Wohlstand und Wirtschaftsleistungen in den südeuropäischen Staaten werden sehr lange Zeit nicht kompensiert werden können. Sie haben sehr viel mit der schwachen Lohnentwicklung in Deutschland und den seit der Währungsunion explodierenden deutschen Exportüberschüssen zu tun. Mittlerweile hat Deutschland Überschüsse auch in Bereichen, wo das offensichtlich mit Lohndumping zu tun hat, etwa in der Fleischverarbeitung. Die schwache Entwicklung der Löhne und Binnennachfrage verstärkte die Auslandsorientierung der deutschen Wirtschaft. Die Exportsteigerungen wurden nicht in heimische Kaufkraft umgesetzt, sondern in explodierende Unternehmensgewinne und Auslandsinvestitionen.
Die ökonomischen und politischen Eliten nutzten die Krise der EU für die Institutionalisierung neoliberaler Politik im Rahmen der Economic Governance. Das ist in EU-Recht gegossener Klassenkampf von oben. Der Fiskalpakt soll gleichzeitig in allen Staaten der EU einen Abbau der Staatsverschuldung erzwingen, der weitgehend durch Ausgabenkürzungen durchgesetzt wird. Vor allem die Sozialausgaben sollen begrenzt und Privatisierungen vorangetrieben werden. Durch solch eine Politik werden antieuropäische Stimmungen geschürt und der Boden für Rechtspopulismus und Nationalismus bereitet.Die expansive und unkonventionelle Politik der EZB hat zwar bisher einen Zusammenbruch des Euro verhindert, befördert aber zugleich das Aufpusten neuer Vermögensblasen auf den Finanzmärkten. Der nächste Crash wird damit möglicherweise nur hinausgezögert. Die nächste zyklische Krise, was auch immer ihr Auslöser sein mag oder mit welchen internationalen Krisenprozessen sie sich verbindet, ist jedenfalls noch in diesem Jahrzehnt zu erwarten, vielleicht schon in den nächsten Jahren. Die Finanzierung und den Betrieb öffentlicher Einrichtungen bzw. Aufgaben (wie z.B. der Autobahnbau oder die -maut) durch oder unter Hinzuziehung privaten Kapitals ist nicht nur faktisch eine Teil-Privatisierung, sondern Teil einer europaweiten Ausplünderungsstrategie seitens des Kapitals. Die Durchsetzung der neuen Etappe neoliberaler Politik stützt sich nicht vorrangig auf Hegemonie und Zustimmung der Mehrheit, sondern auf rechtlich-institutionellen, strukturellen und finanziellen Zwang.Gesellschaftlich vollzieht sich weltweit eine Art spaltender Modernisierung: extrem in den weniger entwickelten Ländern der Welt, aber auch in den kapitalistischen Zentren. Die sozial benachteiligten, ausgegrenzten und kulturell segregierten Teile der Bevölkerung beteiligen sich kaum noch an demokratischen politischen Prozessen, was die Hegemonie der bürgerlichen und privilegierten Klassen und Schichten befördert. Der politische Machtvorsprung kapitalistischer finanzstarker Akteure gegenüber der „normalen“ Bevölkerung und ihren Organisationen nimmt zu. Das Internet und die neuen Informationstechniken schaffen zwar Möglichkeiten verstärkter Kommunikation von unten, aber auch der Manipulation und Kontrolle von oben, durch Konzerne, finanzstarke Lobbygruppen, staatliche Propaganda und Geheimdienste.
Alternativen, Utopie und Fernziele
Auf den allerletzten Seiten des Buches formuliert Ralf Krämer sowohl realpolitische Vorschläge als auch utopische Fernziele sozialistischer Politik. Als demokratischer Sozialist fordert er dabei einen Red New Deal, der durch nachhaltige Lohnerhöhungen über vier Prozent, eine Ausweitung des Sozialstaates sowie einen breiten Investitionsschub in den Bereichen Wohnungsbau, Energiewende und Bildungs- und Gesundheitswesen definiert wäre. Es bleibt jeder und jedem Einzelnen überlassen, wie er oder sie diese Forderungen einordnet. Ich für meinen Teil halte solche linkssozialdemokratischen Maßnahmen für viel zu kurz gegriffen, um die Herrschaft des Kapitals dauerhaft zu brechen. Immerhin sollen laut Krämer Leiharbeit und Werkverträge perspektivisch (wieso nicht sofort?) verschwinden und Arbeitszeitverkürzungen in Richtung einer 30-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich erreicht werden. Wichtig ist dem linken Gewerkschafter Krämer – was niemanden wirklich wundern kann – die öffentliche Kontrolle und Regulierung des Finanzsektors. Da er in seinen utopischen Fernzielen mit Blick auf die Eigentumsverhältnisse der demokratischen Vergesellschaftung strategischer und ökonomisch zentraler Sektoren (Wasser- und Energieversorgung, Banken, Versicherungen, Finanzfonds, Netzinfrastruktur, soziale Netzwerke, freie Software, Bildungseinrichtungen, Wohnungsmarkt, Stadtentwicklung, Großbetriebe) das Wort redet, scheint der Vorschlag nach öffentlicher Kontrolle des Finanzsektors wohl eine realpolitische Übergangforderung zu sein. Von Kommunismus ist bei Ralf Krämer jedenfalls nirgends etwas zu lesen. Vielmehr schreibt er am Schluss seines Textes, dass auch im (demokratischen) Sozialismus auf absehbare Zeit ökonomische Austauschprozesse in weitem Maße unter Bedingungen von Markt- bzw. Geldwirtschaft und unter Einschluss von Erwerbsarbeit reguliert werden müssen. Seine Vorstellungen über die Einschränkung der Kapitalherrschaft sollen sich wohl an DGB-GewerkschafterInnen und Mitglieder der Linkspartei wenden, um ihnen Orientierung bei Tarifauseinandersetzungen sowie bei der parlamentarischen Arbeit zu geben. Diese Handlungsanleitungen gehören meines Erachtens klar zu den Schwächen des Buches. Seine Stärken liegen dagegen in einer allgemeinverständlich formulierten Untersuchung der kapitalistischen Verhältnisse, die die Kritik der Politischen Ökonomie von Karl Marx auch ökonomischen Laien auf gut lesbare Weise näher bringen kann. Sehr sympathisch ist auch eine seiner Schlussbemerkungen: „Die Eindämmung, Zurückdrängung und perspektivisch Überwindung von kapitalistischer Ökonomie und Klassenherrschaft, von Finanzkapital und Imperialismus wird zur zentralen Aufgabe der Menschheit“.
Literatur zum weiterlesen:
Cleaver, Harry: „Das Kapital“ politisch lesen. Eine alternative Interpretation des Marxschen Hauptwerks. Mandelbaum Verlag, Wien 2012.
Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (MEW Bd.42), Dietz Verlag, Berlin 1983.
Seppmann, Werner: Die verleugnete Klasse. Zur Arbeiterklasse heute. Kulturmaschinen Verlag, Berlin 2011.
Ralf Krämer
Kapitalismus verstehen
Einführung in die Politische Ökonomie der Gegenwart
256 Seiten | 2015 | EUR 16.80
VSA-Verlag
ISBN 978-3-89965-644-2