So funktioniere das nicht!, insistierte die Zuschauerin zum wiederholten Male. Die Theatergruppe, von höchst demokratischen Motiven geleitet, hatte eine Szene gespielt, in der ein nichtsnutziger Patriarch zur Räson gebracht werden soll. Das Publikum wurde nach Lösungsvorschlägen gefragt, welche von den SchauspielerInnen prompt umgesetzt wurden. Doch die betreffende Zuschauerin war nie zufrieden. Schließlich bat der entnervte Regisseur die Frau, selbst nach vorne zu kommen, um es vorzumachen. Diese ließ sich nicht lange bitten, stürmte die Bühne und prügelte den Patriarchen windelweich. Ein neues Theatergenre war geboren: Forumtheater.
Diese Geschichte ereignete sich 1973 in der Ortschaft Chaclacayo in Peru. Augusto Boal, der nämliche entnervte Regisseur, erzählt sie in seiner Autobiographie1. Schon lange hatte Boal nach neuen, besseren Wegen gesucht, dem Publikum die Teilhabe am Bühnengeschehen zu ermöglichen: „Ich wollte einen aktiven Zuschauer!!! Kein Theater mehr, das Botschaften überbrachte, ich wollte nicht mehr Briefträger eines unbekannten Absenders sein. Ich wollte, dass die Zuschauer die demokratische Freiheit hatten, die theatrale Sprache ebenso zu nutzen wie die Schauspieler“. Mittlerweile ist Forumtheater über den ganzen Globus verbreitet, sogar in Afghanistan wird es praktiziert. Aufgrund seiner einfachen Umsetzbarkeit ist es oft das Mittel der Wahl gerade für marginalisierte Gruppen. So gibt es beispielsweise eine große Forumtheaterbewegung in Indien, getragen hauptsächlich von LandarbeiterInnen, Unberührbaren und SlumbewohnerInnen.
Die Methode
Unter dem Überbegriff „Theater der Unterdrückten“ entwickelte Augusto Boal seit den 1960er Jahren verschiedene theaterpädagogische Methoden, um den Marginalisierten einen Raum zu geben und soziale Probleme auf die Bühne zu bringen. Das Forumtheater gilt als die radikalste der Methoden, da direkt in das Geschehen eingegriffen werden soll. Natürlich hat das von Boal entdeckte Forumtheater im Laufe der Zeit gewisse Modifikationen erfahren. SchauspielerInnen dürfen beispielsweise nicht mehr verprügelt werden. Allerdings ist Gewalt auf der Bühne nach wie vor erlaubt, jedoch nur in Zeitlupe. Der Kern des Forumtheater blieb aber derselbe. Zuerst wird eine Unterdrückungssituation szenisch dargestellt. Dann wird dieselbe Szene noch einmal gespielt, nun aber wird das Publikum gebeten, einzugreifen. Wer eine Idee hat, ruft Stopp, kommt auf die Bühne und ersetzt eine Rolle. Der/die ZuschauerIn gibt die Stelle an, ab der die Szene gespielt werden soll und los geht‘s. Der/die neue ProtagonistIn versucht das Ruder herumzureißen, während die verbliebenen Figuren in ihren Rollen bleiben und dagegen – bzw. dafürhalten. Die ersetzte Darstellerin oder der ausgewechselte Darsteller setzt sich derweil ins Publikum und schaut zu. Da die Grenzen zwischen Bühne und Auditorium dadurch verschwimmen, spricht Boal im Forumtheater nicht mehr von SchauspielerInnen und ZuschauerInnen, sondern nennt alle zusammen „ZuschauspielerInnen“. Forumtheater ist also weitestgehend hierarchiefrei.
Meist braucht es mindestens drei Figuren für eine Forumtheaterszene: den oder die Unterdrückte, die oder den UnterdrückerIn, sowie eine ambivalente Person, die der Unterdrückten zur Seite springen könnte, wenn sie nur den Arsch hoch bekäme. Sehr häufig wird gerade diese ambivalente Figur ersetzt. Der Unterdrücker darf in der Regel nicht ausgewechselt werden, denn darum geht es ja gerade: Diesen zu einem vernünftigen Verhalten zu bewegen statt quasi per Zauberei einen vernünftigen Menschen einzusetzen. Es dürfen auch zusätzliche Figuren eingebracht werden oder mehrere Personen gleichzeitig ausgetauscht werden.
Die Praxis
Wer politisches Theater macht, stößt unweigerlich irgendwann auf Boals Forumtheater, so auch die freie Schauspieltruppe „ueTheater“. Deren erstes Projekt soll hier zur Veranschaulichung der Methode Forumtheater dienen. StudentInnen sammelten eigene Erlebnisse zu Ungerechtigkeiten aus dem Unialltag, improvisierten in den Proben und nahmen das auf Video auf. Schließlich wurden aus den Mitschnitten Szenen geformt und zu einem zusammenhängenden Theaterstück zusammengefügt. Zwischen den einzelnen Spielszenen wurden kurze Filme eingespielt, die Hintergrundinformationen über Studiengebühren oder den Bachelor-/Master-Wahnsinn lieferten. Die Truppe führte zuerst das komplette, einstündige Stück auf. Nach einer kurzen Pause wurde die Forumtheaterphase eröffnet. Ausgewählte Szenen wurden noch einmal gespielt, diesmal aber mit Interventionen durch das Publikum. Zuerst verfolgten die ZuschauerInnen gebannt die Wiederholung der Szene. Alle stellten sich die Fragen: Was könnte mensch tun? Wie ist die Szene zu knacken? Und natürlich: Trau ich mich? Als sich jemand traute – und es traut sich immer jemand, meist kommt es pro Szene zu 2 bis 5 Interventionen –, wurde es spannend: Was wird die Zuschauerin sagen? Welche Wendung hat sie sich ausgedacht? Schließlich wurde über besonders pfiffige Lösungen oder schlagfertige Antworten dankbar gelacht. Es gab viel Zwischenapplaus. Man kennt das aus dem Improtheater, nur ist Forumtheater Impro mit Inhalt. Am lebhaftesten gelang eine Massenszene. Die Studis forderten von ihrem Dozenten, die Vorlesung zu verschieben, damit alle an der Demo gegen Studiengebühren teilnehmen könnten. Der lehnte ab. In kürzester Zeit verwandelte sich der Theatersaal in einen Hörsaal und das komplette Publikum rief lauthals Demoparolen. Der arme Dozenten-Schauspieler bekam es mit der Angst zu tun und verzog sich in die Künstlergarderobe.
Das Fazit des Abends: Forumtheater ist spannend und lustig! Aufklärung pur und natürlich Revolution! Eine Kombination, die ansonsten nur selten glückt. Heute sind Studiengebühren abgeschafft. Ich bin mir sicher, einen ganz kleinen Mobilisierungsbeitrag hat das Forumtheater an jenem Abend geleistet.
Anmerkungen
[1] ↑ Boal, Augusto: „Hamlet und der Sohn des Bäckers“, Wien 2013
ueTheater
Das ueTheater, mit Langnamen Überbautheater, ist eine freie, politische Theatergruppe aus Regensburg. Seit 2002 macht es Schultheater, Theater mit Studierenden sowie Forumtheater. Die Truppe will gesellschaftliche Missstände auf die Bühne bringen und Lösungsansätze erspielen. So ist es kein Wunder, dass Themen wie Hartz IV, neue und alte Nazis oder Zwangsräumungen die Stücke prägen. Aber auch Werke großer Namen wie Oskar Maria Graf oder Rainer Werner Fassbinder wurden vom ueTheater umgesetzt. Die Eintrittspreise richten sich prozentual nach dem Einkommen der Zuschauenden, so findet schon an der Abendkasse eine Auseinandersetzung mit den kapitalistischen Verhältnissen statt.Aktuell tourt das ueTheater mit einem Forumtheaterstück zum Thema „Asyl – Menschen wie Menschen behandeln“ durch Bayern. Weitere Infos: www.uetheater.de