Obwohl auch für den gesellschaftlichen Mainstream immer klarer wird, dass der Kapitalismus suizidalen Grundprinzipien folgt, schafft es die autoritätskritische Linke nicht, sich politisch als Breitenphänomen zu etablieren. Praktische Ansätze, Theorien, Gruppierungen und engagierte Menschen gibt es aber doch eigentlich mehr als genug. Jedoch wirkt insbesondere die anarchistische Bewegung in Fraktionskämpfe verstrickt und zu kollektivem, solidarischen Handeln unfähig. Auf diese Weise ernstzunehmenden politischen Wandel anzustoßen, scheint mir unwahrscheinlich. In einem Artikel im Re:Volt Magazin findet sich entsprechend:
„die scharfe Kritik an zentralistischen Organisationen […] gehört zu den grundlegenden Einsichten der antiautoritären Linken. Allerdings schlägt diese Kritik immer wieder in eine bloße Anti-Haltung um.“ [1]Kapfinger, Emanuel: „Probleme im Prozess zum überregionalen antikapitalistischen Zusammenschluss“.
Zwar weiß ich nicht besonders viel über die reale anarchistische Bewegung, aber ich kenne vermeintlich egalitäre Kommunen. Und da weiß ich verdammt gut, wie sehr sich Menschen gegenseitig im Wege stehen können. Und in den egalitären Bewegungen scheinen sich dem Artikel nach durchaus ähnliche Muster zu zeigen.
Inspirierendes hierzu habe ich jetzt im Buch „Das Guruparadox“ des einschlägigen AV-Verlages gefunden. Hierin fasst das Autorenkollektiv „Conscious Evolution“ die Erfahrungen aus mehreren Jahren Sozialforschung zusammen. Der Kern unseres Gesellschaftssystems ist bekanntermaßen eine Konkurrenz erschaffende Mangelsituation. Dies gilt aber eben nicht nur in der Ökonomie, sondern speziell auch im Sozialen. Durch die kapitalistisch entfremdete Lebensweise findet sich der moderne Mensch in einer permanenten Bedrohungssituation wieder. Wie bekommt jeder von uns ausreichend Zuwendung in einer hyperindividualisierten Massengesellschaft?
Angetrieben von diesem innerpsychischen Dilemma eignen wir uns „Gewinnerstrategien“ an, um uns auf dem Markt der sozialen Aufmerksamkeit zu behaupten, so die These des Kollektivs. Dabei geht es keineswegs darum, dass automatisch alle an der Spitze stehen wollten. Vielmehr suchen wir nach vermeintlich sicheren sozialen Beziehungen, die vor allem immer eines beinhalten: Sich reproduzierende Hierarchie. Ob ich dabei oben oder unten stehe, ist eher zweitrangig. Lieber eine abhängige Beziehung als gar keine. Damit ist nur leider unser eigentliches Problem nicht gelöst:
„Die Angst ist […] damit nur in den Hintergrund gedrängt, wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt kaum dauerhaft möglich. Der Mangel ist eben nicht beseitigt, sondern wird perpetuiert.“[2]Conscious Evolution Kollektiv: Das Guruparadox. Bodenburg 2019. Verlag Edition AV. S. 114.
So verhält es sich dann nicht nur in Zweierbeziehungen, sondern eben auch in Gruppen: Ein ständiger Kampf um Aufmerksamkeit und eine sichere Position im Gemeinschaftsgefüge, um letztlich die eigene Selbstbezogenheit zu bestätigen. Die Hintertür bleibt immer offen. Wenn dann Beziehungen oder Gruppen auseinander brechen, ist die Perspektive, die viel Orientierung und damit Sicherheit bietet, die des Opfers. Die eigenen, destruktiven Verhaltensmuster und Dominanzansprüche müssen dann gar nicht erst überdacht werden. Es ist einfach immer der*die Andere schuld.
Es geht also beim sozialen Verteilungskampf keineswegs darum, in sozialen Gruppen oben in der Hierarchie sein zu wollen. Nicht Wenige haben Angst davor. So bleiben Viele gern in der Rolle der Anklagenden, scheinbar Benachteiligten. Denn diese Position bekommt reichlich Aufmerksamkeit und hat ihre ganz eigene Macht: Jederzeit kann die Deutungshoheit für das eigene Unrechtsempfinden beansprucht und damit der Diskurs verschoben werden. Unerfüllte und unerfüllbare Sehnsüchte lassen sich gut mit Verallgemeinerungen, Schuldzuweisungen und politisch-moralischem Framing verschleiern. Auch solche Erfahrungen scheinen in der Bewegung nicht unbekannt zu sein:
„In solchen Diskussionen versuchen die Beteiligten, ihre Standpunkte mit diversen Mitteln durchzusetzen. […] Man versucht, die Anderen aus der Linken auszugrenzen, indem man ihnen Nationalismus, Paternalismus, Eurozentrismus, Populismus und dergleichen vorwirft. Wenn man das alles ernst nähme, dann säßen die größten Reaktionäre gerade in den Reihen der Linken selbst.“[3]Kapfinger, Emanuel: a.a.O.
Aber wie kommt es, dass wir so blind sein können für diese perfide Selbst-Sabotage? Hierfür hat das Buch „Das Guruparadox“ eine spannende These parat: Der ständige Konflikt innerhalb des eigenen Lagers ist Befriedigung der Kontrollsucht des entfremdeten Menschen. Dies dient letztendlich der Erhaltung des Status-Quo, der Verschleierung des eigenen anti-revolutionären Verhaltens. Damit reduziert sich die Angst aller Beteiligten. Es ist doch angenehmer, sich selbst auf der Seite der wirklich „Guten“ zu wähnen, die, aber ach, umgeben sind von reaktionären Vollidiot*Innen, die es einfach noch nicht gecheckt haben. Das ist einfacher als sich bewusst und ohne Schuldzuweisung zu emanzipieren.
Dieses Selbstbild ist laut der Arbeitshypothese indes chronisch verzerrt. Die kollektive Verantwortung für das globale Desaster, die zumindest niemand hier in der „industrialisierten Welt“ so ohne Weiteres von sich weisen kann, wird verschleiert von guten Absichten, moralischen Imperativen und Vorwürfen gegenüber Dritten. Hier vollzieht das Autor*innenkollektiv einen radikalen Perspektivenwechsel, und genau der ist interessant:
„Ich bin nicht okay, du bist nicht okay und wie gut, dass wir das wissen.“[4]Conscious Evolution Kollektiv: „Das Guruparadox“. Bodenburg 2019. Verlag Edition AV. S. 77.
Die vermeintliche moralische Überlegenheit wird damit aufgegeben und eröffnet die Möglichkeit, sich selber auf die Schliche zu kommen. Mit diesen Überlegungen wird offensichtlich, warum das Abschaffen formeller Hierarchien allein das darunterliegende Thema nicht lösen kann. Das heißt natürlich nicht, dass starre, formelle Hierarchien gut wären. Nein, sie bringen das Bedürfnis nach Verlässlichkeit einfach auf eine bestimmte Weise zum Ausdruck. In autoritär geprägten, formell hierarchischen Umfeldern ist die Dominanz offensichtlich, dabei eben unflexibel und damit unkreativ.
Eine solche Konstellation kann man beispielsweise gut an hierarchischen Gemeinschaftsprojekten herausarbeiten, die geradezu unweigerlich in Sektendynamiken enden.[5]https://204ee5ba-b950-42fc-a076-e29fa14c91c5.filesusr.com/ugd/25ecfd_620b3f70d40a4803a2e34ad631803ced.pdf In antiautoritären und vorgeblich „hierarchiefreien“ Umfeldern hingegen ist die Dominanz informell, intransparent und meist durch den Machtanspruch der moralischen Überlegenheit verschleiert. Fügt sich die Gruppe nicht der flexiblen und wechselnden Definitionshoheit der subtil Mächtigen, führt das fast unweigerlich zur Sprengung des Gruppenkontextes. Auch das findet sich in dem Re:volt Artikel wieder:
„Die Konsequenzen solcher eskalierender Diskussionen sind regelmäßig Spaltungen von Gruppen, Sektierertum, vermeintlich unüberbrückbare persönliche Differenzen, ritualhaftes Abgrenzen von bestimmten Standpunkten.“[6]Kapfinger, Emanuel: a.a.O.
Das ist also unser Dilemma:
Aus Angst schaffen wir regelmäßig Kontexte, die durch ihre Voraussagbarkeit die Angst reduzieren. Und zwar sowohl mit als auch ohne formelle Hierarchie! Das Kollektiv wählte daher für seine jahrelangen Gruppenexperimente den Ansatz: „flexibilisierte, transparente Hierarchien“ in Form eines sogenannten „Königskartenspiels“.[7]Eine genauere Erklärung zum Königskartenspiel findet sich in einem eigenen Kapitel des Buches: Conscious Evolution Kollektiv: Das Guruparadox. Bodenburg 2019. Verlag Edition AV. S. 93. Dabei ist der Mechanismus so konzipiert, dass jede*r jederzeit entmachtet werden oder die Macht ergreifen kann. Jedes Mitglied kann jederzeit aktiv in den Prozess eingreifen. So entsteht instantaner Konsens, der nicht ausdiskutiert werden muss, sondern durch die Dynamik der Königskarten automatisch entsteht.
Auch das löst das Problem natürlich nicht. Und das ist immens wichtig. Hier wird eben keine endgültige Lösung propagiert, keine moralische Vormachtstellung etabliert. Vielmehr wirkt dieser Ansatz als Kontrastierung, indem die ansonsten versteckten Strukturen an die Oberfläche gespült werden: Wer traut sich offen in Leitung zu gehen und was tritt zu Tage, wenn jemand an der Macht ist? Wer boykottiert diese nur und weigert sich in Opferhaltung, selbst voran zu gehen? Wer schwimmt immer mit dem Strom, egal wohin dieser führt? So treten (subtile) Dominanz, Rebellion und Subversion zu Tage, die erst durch die Kontrastierung des Spiels bewusst gemacht und reflektiert werden können.
Die vorläufige Antwort des Buches auf die Frage, wie wir aus unserer Selbstsabotage herauskommen können, lautet: Wir müssen Umstände schaffen für emotionale Nachreifung. Für eine Sicht auf die Welt, die nicht mehr in Schwarz und Weiß, in Böse und Gut einteilt. Auf dem Weg dahin müssen wir zunächst Schritt für Schritt der eigenen Entfremdung im Innern auf die Schliche kommen, denn
„es gibt keinen Schalter, der einfach umgelegt werden könnte. […] Das Neue muss erobert werden – ein Kraftakt, denn er geschieht, während noch das alte Denken dominiert, in der das beherrschende, einengende und bevormundende die vertraute Denkumgebung bildet.“[8]Ebd. S. 47. Originalquelle: Bergstedt, Jörg: „Freie Menschen in freien Vereinbarungen“. Reiskirchen-Saasen 2012. SeitenHieb Verlag.,
schreibt treffend Jörg Bergstedt, den – als passendes Beispiel für rechthaberische Ausgrenzungspolitik – man in gewissen Kreisen einfach nicht zitieren darf. Völlig unabhängig davon, ob er nun Recht hat oder nicht. Das Kollektiv stellt sich also bewusst nicht auf den Standpunkt, der Weisheit letzter Schluss zu sein. Es macht einfach nur einen Vorschlag, wie man einmal anfangen könnte, die Problematik überhaupt zu kartographieren.
Und eben das macht dieses Buch so besonders für mich: Es bleibt nicht bei der bloßen Analyse, es ist ein offener Aufruf zur Aktion. Um es mit den Worten des Kollektivs zu sagen: „Akademische Debatte gab es lang genug. Die Welt brennt.“ [9]Conscious Evolution Kollektiv: Das Guruparadox. Bodenburg 2019. Verlag Edition AV. S. 92.
„Das Guruparadox“ ist ein spannender Reisebericht durch die Welt der Entfremdung. Theoretische Konzeptionen reihen sich an Erfahrungsberichte aus den sozialen Experimenten und an praktische Vorschläge für die Umsetzung eigener Forschungsgruppen für dieses wichtige Thema. Allen, die auch auf der Suche sind nach einem Ausweg aus unserer psycho-sozialen Misere und der sozialen Frage des 21. Jahrhunderts, sei dieses Buch also hiermit wärmstens ans Herz gelegt. [10] Wer direkt weiterlesen möchte, kann sich auch kostenlos das Essay besorgen, das die Grundlage für die Arbeit des Kollektivs war und ist: http://conscious-evolution.xyz/
Das Buch erschien 2020 im Verlag Edition AV, hier geht es zum Verlag.
Titelbild ©Gruppe 8Autor_innen
Die Rezension wurde der Redaktion zugesendet und spiegelt nicht die Meinung dieser wider.
Spannend.
Gekauft.
Gespannt.
Es wäre schön, dieses Spiel zu verbreiten zum gesellschaftlichen Wandel. Als Aufklärung, als Spaß, zum Kennenlernen der Mitmenschen.
Dann klappt es auch mit der bürgernahen Konsensdemokratie
Das Königskarten“spiel“ ist überhaupt kein Spiel (auf keinen Fall im klassischen Sinne), wie ich es bisher in meinen vier Tagen als Neuling erlebt habe. Es kommt absolut nicht als spaßmachender Zeitvertreib daher. Es hat auch nicht sonderlich viel Spielerisches an sich bis auf seinen sozialen Experimentiercharakter und die damit einzugehenden Risiken.
Der Titel „Spiel“ ist m.E. enorm irreführend angesichts einer brennenden Welt, wie die Autoren den Ist-Zustand nennen. Ich hätte gerne eine Bezeichnung oder zumindest einen Untertitel dafür, welche(r) der bahnbrechenden Bedeutsamkeit von Theorie UND Praxis angemessen ist.
Wer hat Vorschläge? Wie klingt „Das Königsexperiment“, „Das Experiment der Könige“ oder „Der Stein der Weisen Könige“? Weisen ist absichtlich groß geschrieben. Und für einen höheren Aufmerksamkeitswert, wie wäre es mit „Das Führer-Experiment“?
Unheimlich relevant.
Ich gehöre zu dem Kollektiv, das seit über einem halben Jahrzehnt mit dem Königskartenspiel forscht.
Wer so ein Zeug schreibt, hat kaum das Buch gelesen, oder es nicht verstanden. es geht genau um das Aufbrechen von Rollenverhalten, und Rollen spielt mensch. Da spielt mensch König.
Um vom eigentlichen Thema abzulenken, könnte man auch drüber diskutieren, ob es dann nicht genderkorrekt „das Führer*Innen Experiment“ heißen muss. Und ob man das nun mit Sternchen oder mit Doppelpunkt schreibt, das I groß oder klein.
Viel eher scheint es mir dem Beitragenden da wohl um die Werbung für die eigene Webseite zu gehen. Dann mache ich das jetzt auch mal.
Schiller unterscheidet in seiner Philosophie von Stoff- und Formtrieb zwischen Substanziellem und Oberflächlichem.
Die Sinnhaftigkeit einer „korrekteren“ Benennung würde ich -zumal angesichts der Aussage „die Welt brennt“- eindeutig dem Oberflächlichen zuordnen.
Worum es bei diesem Beitrag gehen soll, und welchen Bezug er auf den Inhalt der Rezension, außer dem auf ein einzelnes Wort, haben soll, mir wird es jedenfalls nicht klar.
Insofern markiere ich das mal als Diskursverschiebung und vermute eine versteckte Agenda.
Danke für diese Zusammenfassung. Das Buch ist für mich das relevanteste gewesen, dass ich kürzlich gelesen habe und es scheint mir es wird noch einige Jahre mein Leben wesentlich bestimmen. Wir wagen eines der angeregten Experimente „als ein politischer Akt“. Und: Ich nehme den Günter ernst und frage mich nach einem Name für das, was wir tun wollen. Otto Normal hält Spiele für Zeitvertreib und Gemeinschaftsbildung für hippi. Ich brauche ganz dringend einen fassbaren Begriff.