Rolltreppe abwärts

 

Eines der meistdiskutierten soziologischen Bücher des Jahres 2016 ist Oliver Nachtweys „Die Abstiegsgesellschaft“. Der Soziologe Nachtwey nimmt mit dem Titel Bezug auf Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. Gegen den Beck’schen „Fahrstuhleffekt“, nachdem eben auch für die Menschen „ganz unten“ der Fahrstuhl nach oben fährt, stellt Nachtwey das Bild der abwärts fahrenden Rolltreppe.

Dieses Bild wurde in der Rezeption von Nachtweys Buch oft falsch verstanden, nämlich so, als ob die gesamte Gesellschaft mit dieser Rolltreppe abwärts fährt. Tatsächlich meint Nachtwey etwas anderes: Die Menschen laufen gegen die Fahrtrichtung der Rolltreppe: Wer stehen bleibt, fährt nach unten, wer auf der Position bleiben möchte, die er/sie innehat, muss in Bewegung bleiben und nur wer sich äußerst anstrengt, kann auf dieser Treppe weiter nach oben gelangen.

Genau das ist die „Leistungsgesellschaft“, die Sebastian Friedrich in seinem kleinen Lexikon beschreibt. Und diese Gemeinsamkeit in der Gesellschaftsanalyse wird Oliver Nachtwey dazu bewegt haben, das Vorwort zu dem Lexikon zu schreiben. Friedrichs „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ ist vor allem LeserInnen der „analyse und kritik“ (ak) wohlbekannt, über 26 Monate erschien jeweils ein Schlagwort aus dem Lexikon auf der zweiten Seite der ak. Wer diese Schlagworte gesammelt nachlesen will, kann das jetzt Dank der Edition Assemblage tun. Diejenigen, die das kleine Lexikon schon kennen, werden durch sehr passende Fotografien für den Kauf des Büchleins belohnt.

Quasi sind die ironischen bis teilweise zynischen Alltagsbeschreibungen Friedrichs eine Illustration der Thesen Oliver Nachtweys: Ob nun der „Flow“, die „Hymne“ (gemeint ist die Firmenhymne) oder „Xing“, aber auch Ironie, Liebe und Selbstkritik: Friedrichs Stichworte der Abstiegsgesellschaft zeigen auf, wie uns der Neoliberalismus dazu bringt, immer in Bewegung zu bleiben. Das gilt nicht nur für FDP-nahe „Leistungsträger“, sondern ganz explizit auch für emanzipatorische KritikerInnen dieser Gesellschaft. Man fühlt sich, wie Nachtwey in seinem Vorwort schreibt, oftmals „erwischt“ dabei, wie man auf die eine oder andere Art eben doch auf die Leistungsideologie reingefallen ist. Das zeigt sich etwa bei den Praktiken von NachwuchswissenschaftlerInnen oder bei der in linken Kreisen durchaus beliebten „gewaltfreien Kommunikation“, die ihren Charakter fundamental ändert, wenn sie Teil einer Betriebskultur wird.

Sebastian Friedrichs Büchlein ist keine Analyse, kein Manifest und man könnte entsprechend behaupten, es sei eine weitgehend unnötige Publikation. Aber weit gefehlt, denn obwohl man das eigentlich alles weiß, erfährt man etwas Neues, eben „wie der Neoliberalismus unseren Alltag prägt“. Diese Rückbindung einer Kritik einer ökonomisch-politischen Entwicklung der vergangenen 30 Jahre an den Alltag ist es, die den Reiz des kleinen Lexikons ausmachen: Gerade an solchen kleinen kulturellen Gegenmomenten fehlt es der auch in ihrer Publikationswut viel zu leistungsorientierten, meist akademischen Linken.

Ich empfehle das „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ ganz explizit zur Klolektüre, um sich dort ein paar ruhige Minuten zu gönnen. Und während ich diese Empfehlung niederschreibe, habe ich mich auch selber erwischt: Wer selbst auf dem Klo noch eine, wenn auch amüsante, politische Publikation liest, macht dies doch wahrscheinlich, um jenseits der Klopause im Sinne des Neoliberalismus etwas zu „leisten“. Mist. Ich also auch…

Münster, Edition Assemblage. 90 Seiten, 7,80 €.

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