Und die Räder steh‘n nicht still…

Bald nach den großen Streikbewegungen um 1968 fand in Frankreich ein Streikexperiment statt, das alles anders machen wollte. Kein passiver Streik, keine Arbeitsniederlegung, keine ritualisierten Abläufe. Und auch heute noch könnte die Geschichte dieses Streiks den Gewerkschaften helfen, neue Taktiken und damit auch neue Anziehungskräfte und neue Sympathien zu erarbeiten. Die Rede ist vom Streik beim französischen Uhrenhersteller „LIP“.

Vorspiel

Bei LIP arbeiteten rund 1.300 Beschäftigte, als der Schweizer Konzern „Ebauches SA“ nach und nach die Mehrheit an dem Unternehmen erlangte. Bald setzten auch schon die ersten Umstrukturierungspläne ein. In der Praxis hieß das: Entlassungen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Die Forderungen der ArbeiterInnen waren klar: keine Entlassung, keine Unternehmenszersplitterung wie sie der neue Großaktionär vorsah.

„Es ist möglich: wir produzieren, wir verkaufen, wir bezahlen uns.”Erster Akt: Die Mobilisierung im Inneren

Zunächst entschieden sich die ArbeiterInnen auf Vollversammlungen für einen „Bummelstreik“. Das Arbeitstempo wurde verlangsamt, es wurde zu ausgiebigen Besuchen des Büros der Gewerkschaft im Betrieb aufgerufen, die ArbeiterInnen entwarfen Plakate um damit Werkhalle, Büros und Flure zu schmücken. Kurzum: Die Fließbandarbeit wurde aus dem Tritt gebracht. Zwar war diese Stufe der Auseinandersetzung überaus unbeliebt bei den KollegInnen, hatten sie schließlich immer Chefs und VorarbeiterInnen im Nacken, doch durch viel Entschlossenheit, wirksame Propaganda und viel Solidarität war diese Aktionsform dennoch ein Erfolg. In drei Wochen Bummelstreik ging die Produktion um rund 90% zurück, der Lohn musste jedoch regulär weiter gezahlt werden. Während dieser Phase wurde die innere Solidarität gefestigt und in ausführlichen Gruppendiskussionen der nächste Schritt vorbereitet.

Zweiter Akt: Popularisierung nach außen

Nun gingen die ArbeiterInnen an die Öffentlichkeit. Der Verkehr um Besançon wurde blockiert, Flugblätter verteilt und das Gespräch mit den AutofahrerInnen gesucht. Des Weiteren wurden Supermärkte, Plätze und Fabriktore anderer Firmen besucht, um die KollegInnen der Zulieferbetriebe darauf aufmerksam zu machen, dass der Kampf bei LIP auch andere Betriebe in der Region etwas angeht. Die Umstrukturierung von LIP hätte schließlich auch die Zulieferer obsolet gemacht. Die Popularisierung wurde immer weiter vorangetrieben, indem die Aktionen zunächst auf die Region und im späteren Verlauf auf ganz Frankreich ausgeweitet wurden. Die kämpfende Belegschaft lässt sich dabei die Propagandaarbeit nicht von der Gewerkschaftszentrale entreißen, sondern nimmt auch diese Aufgabe selbst in die Hand. Umfragen bestätigen den Erfolg der Popularisierungsarbeit. Trotz medialer Falschinformationen und einseitiger Berichterstattung befürwortete ein Großteil der Bevölkerung die Aktionen. Doch Konkursverwalter, Direktion und Investor zeigten sich unbeeindruckt, drohten mit der Einstellung der Lohnzahlungen und verkündeten bei einem Treffen mit Gewerkschaftsdelegierten, jetzt müsse hart durchgegriffen werden. Die ArbeiterInnen sperrten die Verwalter daraufhin kurzerhand ein und fanden in ihren Aktentaschen die schon lange ausgearbeiteten Pläne von „Ebauches SA“. Das Gesamtunternehmen soll aufgelöst werden, 450 Menschen sollten ihren Job verlieren. Das Schweizer Unternehmen ist eigentlich nur an dem Know-How und dem Markennamen „LIP“ interessiert. Daraufhin werden 25.000 Uhren aus den Lagerbeständen des Konzerns in dezentrale Verstecke geschaffen. Die Vollversammlung billigt im Nachhinein die spontane Aktion und entschließt sich zur Besetzung der Fabrik und zum unbefristeten Streik. Die Polizei wird monatelang vergeblich nach den versteckten Bauteilen suchen.

Dritter Akt: Der aktive Streik

Ab dem 20. Juni prangte vor den Fabriktoren ein Transparent: „Das ist möglich. Wir produzieren, wir verkaufen.“ Die ArbeiterInnen hatten die Arbeit wieder aufgenommen, aus den Materialbeständen werden Uhren gefertigt. Doch die Produktion erfolgt in eigener Regie. Das Fließbandtempo wird gedrosselt, die Vollversammlung ist das entscheidende Gremium. Es werden Kommissionen für Produktion, Verkauf, Verwaltung und Lager eingerichtet, das Werk steht BesucherInnen offen, was einen weiteren Popularisierungseffekt nach sich zieht. Die selbst produzierten Uhren werden direkt am Werkstor sowie an Betriebskomitees im ganzen Land verkauft. 62.000 Stück sind es in den ersten zwei Monaten.

Auch während der selbstorganisierten Produktion wird viel Zeit und Aufwand in die Popularisierungskommission gesteckt. Die wöchentliche Streikzeitung „LIP-unité“ wird gegründet und steigert ihre Auflage von anfänglich rund 5.000 auf bald 50.000 Exemplare. Des Weiteren wird ein Manifest veröffentlicht. „Das kämpfende LIP wendet sich an alle Arbeiter“ erreicht eine Auflage von einer Million Exemplaren. Und natürlich finden regelmäßig Informationsveranstaltungen, Demonstrationen und Solidaritätsaktionen im ganzen Land statt.Am 2. August kommt es zur ersten „paie ouvrière“. Die Arbeiter zahlen sich aus dem Erlös der verkauften Uhren ihren ersten Lohn in Selbstverwaltung aus. Dafür wird das Geld aus der versteckten sogenannten „Kriegskasse“ in das LIP-Werk gebracht und in der Nacht vor der Auszahlung werden die Lohntüten befüllt. Insgesamt 2,1 Millionen Francs zahlen sich die ArbeiterInnen aus. Das Banner vor den Toren wird um einen Satz erweitert: „On se paie!“ „Wir bezahlen uns.“ Am 14. August besetzt die paramilitärische „Gendarmerie mobile“ das Werk. Es folgen Solidaritätsstreiks und Demonstrationen, die teils in gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei enden. Der Staat wurde nervöser, wurden schließlich von den Streikenden die bürgerlichen Eigentums- und Verfügungsrechte an den Produktionsmitteln außer Kraft gesetzt. So bauten die ArbeiterInnen sich nach der Vertreibung vom Werksgelände einige Untergrund-Ateliers ein, wo weiterhin die Fertigung der Uhren besorgt wurde und unterstrichen damit „…dass LIP dort ist, wo die Arbeiter sind“, wie es einer der Streikenden formulierte.Am 29. September 1973 beteiligten sich 100.000 Menschen bei strömendem Regen am „Marsch auf Besançon“, was den Gipfel der LIP-Solidaritätsbewegung markierte. Unterdessen werden die Bedingungen für die ArbeiterInnen immer schwieriger. Die Lohnauszahlungen müssen klandestin und dezentral stattfinden, die Überwachung wird immer stärker. Im Dezember 1974 schließlich wurde der Konflikt vorerst1 beigelegt. Ein neues Management stellte alle ArbeiterInnen wieder ein, der Streik war beendet.

Veröffentlichung des Packpapierverlag Osnabrück zu LIP

Der „grève active“ als Strategie?

Sehr interessant sind die verschiedenen Auffassungen bezüglich der Taktik des aktiven Streiks. Die beteiligten Gewerkschaften waren die kommunistische CGT und die sozialdemokratische CFDT. Öffentlich unterstützten beide den Streik recht vorbehaltlos, um die hohe Akzeptanz für den Arbeitskampf in der Öffentlichkeit nicht zu gefährden. Dennoch gab es über die gesamte Dauer des Kampfes Versuche der Gewerkschaftszentralen, auf einen Kompromiss zu drängen. Nach einem halben Jahr Streik verlangte die CGT sogar die Wiederaufnahme der Arbeit zu den Bedingungen des von der Regierung ausgearbeiteten Lösungsvorschlags. Ganz davon abgesehen, dass dieser Lösungsvorschlag der Regierung von der LIP-Chefetage in die Feder diktiert wurde, sah es die Belegschaft überhaupt nicht ein, kleinbeizugeben. Entsprechend wurde der CGT-Vorstoß auf der Vollversammlung abgelehnt, die CGT kündigte die Aktionseinheit mit der CFDT auf. Dies war nicht der erste Streik nach 1986, in dem sich extreme Unterschiede in den Interessen und Vorstellungen zwischen CGT-Führung und CGT-Basis auftaten. Besonders bedeckt hielten sich aber beide Gewerkschaften damit, aus dem Kampf strategische Schlüsse für künftige Aktionen zu ziehen. Die Gewerkschaften auf der einen Seite hielten den Streik in dieser Form nur aufgrund der besonderen Bedingungen im Betrieb für machbar. Damit lagen sie teilweise im Widerspruch zu ihren eigenen Kadern innerhalb der LIP-Belegschaft. Denn die ArbeiterInnen auf der anderen Seite hielten das Konzept durchaus für im breiteren Rahmen anwendbar. Zwar war den ArbeiterInnen klar, dass die selbstorganisierte Fortführung der Produktion nur ein Teil ihres Arbeitskampfes war, ein selbstverwalteter Betrieb im Kapitalismus also nicht die von den ArbeiterInnen angestrebte Lösung war. Doch schrieben sie in ihrem Manifest:

„Die hiesige Aktion lässt sich nicht auf der Stelle auf alle Betriebe übertragen, dennoch kann unsere Methode, wenn sie den örtlichen Bedingungen angepasst wird, in hunderten von Betrieben Anwendung finden. […] Dieser Kampf beweist, dass eine andere Gesellschaft möglich ist, eine Gesellschaft der Gleichheit, in der die Arbeiter ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen werden.“Der Streik erfolgte auf Basis der Erfahrungen der Arbeitskämpfe aus der 1968er Bewegung. Doch weder bei dieser bekannten radikalen Erhebung noch bei der vergleichbar starken Streikbewegung 1969 in Italien kam es vor, dass nahezu eine komplette Belegschaft dieser Größe den Weg in die Illegalität wählte um für ihre Interessen zu kämpfen. Viele Aspekte dieses Streiks sollten für uns nicht nur eine historische Randnotiz sein, sondern können auch in strategische Überlegungen für künftige Arbeitskämpfe einfließen.

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