Aber es braucht viele.

Die mediale Bundesrepublik hat die vergangenen Monate viel über Bürgergeldempfänger:innen und Sanktionen gepoltert. Erschreckend große Anteile der Debatte schienen vor allem mit gefühlten Wahrheiten, wenn nicht gleich blindem Populismus unterfüttert. Der richtige Moment für eine ausführlichere und zwar ebenfalls auch Partei nehmende Einordnung des Themas – nur mal eben von der anderen Seite. Und das ganz ohne Fakten verdrehen zu müssen.

„Es braucht nicht viel“[1]Steinhaus,Helena/Cornelsen,Claudia (2023): „Es braucht nicht Viel – Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen“, S.Fischer Verlage. von Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen, stellt eine Art politischen und auch jüngst-historischen „Reiseführer“ durch die Untiefen und Absurditäten des Bürgerhartz-Regime dar. Inhaltlich gut aufbereitet und in lockerem und verständlichen Ton erzählt, höchst informativ und im besten Sinne aufklärerisch, bilden die Autorinnen die harten Realitäten und verpassten Chancen der Bürgergeld-Reform ab. Dabei vergessen sie auch nicht, wertvolle Seitenpfade durch die Vorgeschichte „der größten Sozialreform der letzten 20 Jahre“ zu beleuchten – Agenda 2010 und HartzIV – oder auf den grundsätzlichen Konflikt zwischen Arm und Reich in unserer Gesellschaft einzugehen. Mitunter durchaus witzig, auch wenn einem an nicht wenigen Stellen das Lachen im Halse stecken zu bleiben droht, führen sie durch Fake-News-Kampagnen, frei erfundene und künstlich gestutzte Berechnungsgrundlagen für Bürgergeld-Regelsätze, das bedrohliche Beamtenkauderwelsch der Jobcenter und das dreiste Ignorieren von wissenschaftlichen Studien durch Politik und Institutionen. Alles im Namen der bürgerlichen Selbstvergewisserung einer vermeintlichen Leistungsethik, hinter der sich nicht viel mehr als ein gepushter Niedriglohnsektor und eine gedrosselte Lohnforderungserwartung in mittleren Einkommensgruppen verbirgt.

Mit viel Empathie und solidarischem Schulterschluss erzählt das Buch von einzelnen Schicksalen betroffener Menschen, ohne je dabei die Verbindung zum Systemischen zu verlieren. Zwischen den Kapiteln kommen Betroffene auch selbst zu Wort. Mit Sätzen wie „Ich hätte was beitragen können zu dieser Gesellschaft. Aber ich habe das Gefühl, das ist gar nicht gewollt.“[2]Ebd. S.16 oder „Ich erhalte weder Leistungen vom Jobcenter, noch bin ich versichert, obwohl alle Unterlagen von mir vorliegen. Jetzt soll ich sanktioniert werden. Wofür und vor allem 10% von was, von Nichts?“[3]Ebd. S.124 pendeln diese Einschübe zwischen Empowerment und Armutsvoyeurismus. Sie führen jedoch fraglos eindrücklich die realen Erfahrungen und Kämpfe hinter den zuweilen abstrakten politischen Debatten um 6,-€ mehr, oder 24,-€ weniger vor Augen.[4]https://www.freitag.de/autoren/janina-luett/fdp-fordert-kuerzung-beim-buergergeld-fuer-armutsbetroffene-sind-24-euro-viel-geld

Daneben, sozusagen als begleitender roter Faden durch die verschiedenen Facetten unseres strafenden und nur bedingt auskömmlichen Sozialstaates, wird die Entstehungsgeschichte des Vereins Sanktionsfrei e.V. wiedergegeben. In liebevoll erzählten Anekdoten erfahren geneigte Leser:innen von der Gründung, den Schwierigkeiten und Erfolgen einer Initiative, die aus einer fixen Idee heraus, mit viel Mut zum Aktionismus, auch ein wenig Naivität und einer gehörigen Portion Glück ins Leben gerufen wurde. Und das alles um nicht weniger, als den Kampf für die ebenso oft zitierte wie niedergetrampelte Unantastbarkeit der menschlichen Würde im Bürgerhartz aufzunehmen. Oder zumindest dem unwürdigen Sanktionsregime in der Grundsicherung ein Schnippchen zu schlagen. Denn die Idee ist einfach wie bestechend genial: Sanktionsfrei e.V. gleicht für Betroffene Sanktionen und andere Mängel des Bürgergeldbezuges aus und federt somit einen besonders harten Teil der euphemistisch benannten Grundsicherung ab, die von Amtswegen veranlasste Unterschreitung des Existenzminimums.

Zusammenfassend eine lesenswerte Einführung in den alltäglichen Terror des aktuell bestehenden Grundsicherungssystems. Betroffene werden sich in vielen Erzählungen wiederfinden. Menschen, die sich noch nicht näher mit den Themen HartzIV, Bürgergeld und Jobcenter beschäftigt haben, stellt die Lektüre von „Es braucht nicht viel“ eine gut lesbare Ersteinsicht ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zur Seite. In der politischen Einordnung kann kritisch hinterfragt werden, ob die erklärte Zielsetzung eines demokratischen, fairen und armutsfesten Sozialstaates nicht zu kurz greift, weil sie den grundlegenden Widerspruch kapitalistischer Verhältnisse nicht ins Auge fasst – bis hin zu der Tatsache, dass ein solcher Sozialstaat im Kapitalismus schlicht ein Paradox darstellen würde. Gleichzeitig ließe sich auch unter bestehenden Verhältnissen ein sozialerer Staat durchaus denken und wäre sicher erstrebenswert. In dieser Hinsicht kann Steinhaus und Cornelsen nur beigepflichtet werden. Und die abschließenden Aufforderungen zu Empathie und Aktivismus, verweisen bereits in eine aus anarchosyndikalistischer Perspektive klar anschlussfähige Richtung: Sich organisieren, Solidarität mit Betroffenen zeigen, wo möglich bereits privat umverteilen, den Finger wieder und wieder in die klaffende Wunde legen. Letztlich schließt der Text mit einer Ermahnung zur notwendigen Reform des bestehenden Sozialstaates, die uns allen ins mentale Poesiealbum geschrieben sein sollte: „Dafür braucht es nicht viel. Aber es braucht viele.“[5]Steinhaus/Cornelsen(2023): S.238

 

Steinhaus,Helena/Cornelsen,Claudia (2023): Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen. S. Fischer Verlage, 256 Seiten, ISBN: 978-3-10-397557-4

 

Beitragsbild: Copyright des Covers: bei S. Fischer Verlage, (Bild-Hintergrund-Zusammenstellung von der DA)

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