Als Anarchokapitalist inszeniert sich der designierte argentinische Präsident Javier Milei. Doch in Wirklichkeit will er vor allem den Sozialstaat zurückbauen. Leute wie er hassen am Staat alles, was die Profitinteressen des Kapitals schmälern könnte. Dass sind Umweltgesetze genauso wie Sozialprogramme oder Maßnahmen gegen Rassismus und Patriarchat. Das hat mit Anarchismus nichts, viel aber mit den Thesen der Ultrakapitalistin Ayn Rand zu tun. Daher hatte Milei auch im zweiten Wahlgang die Unterstützung eines großen Teils der argentinischen Rechten und relevanter Fraktionen des Kapitals und des Großgrundbesitzes. Sie mussten vor über 20 Jahren tatsächlich um ihre Macht zittern und so ist die Wahl von Milei auch eine Revanche der herrschenden Klasse.
Denn die Rechten erinnern sich besser, als viele Linke. Die haben größtenteils vergessen, dass Argentinien vor mehr als 20 Jahren für kurze Zeit auf der Agenda der außerparlamentarischen Bewegungen auftauchte. Denn damals schien in dem Land eine Gesellschaft zu entstehen, in der die armen Menschen, Lohnabhängige, Erwerbslose und Landarbeiter*innen selber über ihr Leben im Stadtteil und in der Fabrik bestimmen. Es war ab 2001 die Zeit, als in Argentinien das Banken- und Finanzsystem zusammengebrochen war. Die Krise führte nicht nur zu Massendemonstrationen. Drei soziale Bewegungen prägten die Zeit nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in Argentinien im Dezember 2001: Die Arbeitslosenbewegung, die Stadtteilversammlungen (Assambleas) und die zeitweise über 200 selbstverwalteten Fabriken. Menschen versammelten sich in den Stadtteilen, um über die Angelegenheiten, die sie betraf gemeinsam zu entscheiden. Selbstorganisierte Erwerbslosengruppen, die Piqueteros, blockierten große Straßen, um für ihr Rechte zu kämpfen.
Sin Patron – Arbeiten ohne Chef
Doch vor allem die besetzten und selbstverwalteten Fabriken in Argentinien fanden viel Interesse auch auf Veranstaltungen der FAU. Über die Kachelfabrik Zanon drehten Susanne Dzeik und Kirsten Wagenschein den Film „Mate, Ton und Produktion – Zanon eine Fabrik unter Arbeiterkontrolle“[1]Der Film kann auf labournet.tv vollständig gestreamt werden: https://de.labournet.tv/video/5913/mate-ton-und-produktion, der auch zeigte, wie im Rahmen dieser Besetzungen die Solidarität zwischen Arbeiter*innen und Bewohner*innen ärmerer Stadtteile gewachsen ist. 2015 schrieb Daniel Kulla in der Wochenzeitung Freitag: „Vor 14 Jahren haben Zanón-Arbeiter die Fabrik besetzt, um sich gegen ständige Entlassungen, tödliche Arbeitsbedingungen, Aussperrung und letztlich die Schließung ihres Betriebs zu wehren. Sie streikten den berüchtigten Alteigentümer Luis Zanón in die Flucht und übernahmen den Betrieb als Kooperative.“ Kulla schrieb die Einführung zu dem Buch „Sin Patrón. Herrenlos. Arbeiten ohne Chefs. Instandbesetzte Betriebe in Belegschaftskontrolle. Das argentinische Modell: besetzen, Widerstand leisten“, das 2015 im Verlag AG Spak herausgekommen ist. Doch das Interesse an den emanzipatorischen Aufbrüchen in Argentinien war bei der Linken in Deutschland schnell verflogen . Sie wandten sich neuen Landstrichen zu. Manchmal konnte man noch lesen, dass die Stadtteilversammlungen schrumpften und ein Teil der Erwerbslosenbewegung sich von der peronistischen Bewegung, Art argentinischer Sozialdemokratie, vereinnahmen ließ.
Und dann wird im November 2023 bekannt, dass in Argentinien, in dem 2001 die Ansage an alle Politiker*innen lautete: „Sie sollen verschwinden“, ein Rechtspopulist die Wahlen gewonnen hat. Vielleicht ist diese Nachricht für Manche Anlass zu fragen, wie es mit Fabriken unter Arbeiter*innenkontrolle heute in Argentinien bestellt ist und welche emanzipatorischen sozialen Bewegungen es aktuell noch in dem Land gibt, die weiter an den Forderungen festhalten, für die in den Jahren 2001-2003 Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Da wäre auch interessant zu erfahren, wie sie darüber diskutieren, dass auch manche, die damals auf die Straße gegangen sind, heute einen Milei gewählt haben.
Titelbild von Wildcat Beilage zur #68
Es waren auch Zanon Arbeiter, die 2012 als eingeladene Gäste des Festivals der direkten Demokratie in Thessaloniki, den Ausschlag gaben, dass die Arbeiter:innen der damals nur besetzten Fabrik Bio.Me begannen zur Produktion in Eigenregie überzugehen.