Ende des 18. Jahrhunderts entstand der Typus der Arbeiter*innen. Menschen, die in Fabriken, Manufakturen und um deren Betriebsabläufe herum, in vorgeschriebenen Zeittaktungen, unter disziplinierenden Bedingungen, meist äußerst repetitive Handlungen vollzogen und damit produzierten, was der im Entstehen befindliche Kapitalismus so anbieten wollte und konnte. Die Wandlung der Gesellschaften von eher bäuerlichen und (klein-)handwerklichen (Subsistenz-)Ökonomien, hin zu großflächigen Produktionsindustrien mit werktätigen Massen, vollzog sich allerdings nicht von alleine. All das setzte voraus und ging damit einher, dass Wellen der (Land-)Enteignungen und eine politisch wie kulturell vorangetriebene Erosion bestehender sozialer Institutionen[1]Siehe die recht anschaulichen Darlegungen in: Kropotkin, Pjotr: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, Trotzdem Verlagsgenossenschaft, 2011 über Jahrzehnte, teils Jahrhunderte hinweg, die potentielle Armeen der Arbeiter*innen überhaupt erst ermöglichten, erschufen und schließlich gefügig machten.
Am Ende dieser Entwicklungen stand das sogenannte Proletariat und die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft hatte, was sie zum Funktionieren brauchte, jemanden für die buchstäbliche Drecksarbeit. Und ähnlich wie schon in der Antike, mit ihrer speziellen „Schicht“ der Sklav*innen, waren die niederen Arbeiten „Pfui“ und jene die sie verrichteten (verrichten mussten) sowieso – und entsprechend wurden sie in der Gesellschaft gesehen, gelesen, dargestellt und behandelt – und so sahen die Betroffenen sich letztlich zu großen Teilen selbst. Vergleichsweise wertlos, obwohl sie alle Werte schufen.
Ende des 19. Jahrhunderts drehte sich das Blatt. Die Arbeiter*innen entdeckten ihr Selbstbewusstsein. Sie erkannten ihren Wert. Es vollzog sich eine positiv besetzte Selbstidentifikation mit dem Dasein und der Rolle als Proletariat, als arbeitende Bevölkerung. Die Arbeiter*innen-Bewegungen entstanden und mit ihnen eine ganz neue (Sub-)Kultur. Die Gesellschaften begannen sich zu wandeln und ein Stück weit zu humanisieren.
Warum sollte es mit uns Erwerbslosen nicht ähnlich verlaufen? Ich meine, erst wurden die Arbeiter*innen „gemacht“, dann waren sie da und wurden gesellschaftlich abgewertet. Später erkannten sie ihren Selbstwert und darauf aufbauend erkämpften sie sich Rechte, ihren Platz im öffentlichen Diskurs und eine sinnstiftende Identität. Ginge das nicht auch auf arbeitslos? Die ökonomischen und kulturellen Bedingungen unserer Gesellschaft erzeugen offensichtlich Arbeitslosigkeit, als empirische Rolle in der Erwerbsökonomie und gesellschaftliche Zuschreibung gleichermaßen.
Und offensichtlich nicht als kurz auftauchende Ausnahme von der Regel, als vernachlässigbare Abweichung von der sonst durchgängig erwerbstätigen Norm, sondern als Dauer- und Massenphänomen. Mit anderen Worten: Arbeitslosigkeit wird „gemacht“, sie ist unbestreitbar präsent und sie bzw. ihre Träger*innen erfahren nach wie vor gesellschaftliche Abwertung, im Zuge derer sie sich oftmals selbst abwerten. Ist also nicht allmählich die Zeit gekommen, dass wir uns als Betroffene positiv auf uns selbst beziehen? Dass wir die normativen Zuschreibungen unserer gesellschaftlichen Realität kritisch hinterfragen, sie zertrümmern und schließlich neu umdeuten? Dass wir endlich eine Arbeitslosen-Bewegung lostreten? Denn warum sollten wir die Dummen sein? Schreien wir hinaus, mit Selbstbewusstsein, mit Stolz, dass wir gerne arbeitslos sind und dass wir um unseren Wert wissen!
Gut, jetzt könnte dieser Betrachtung entgegenhalten werden: Naja, die Arbeiter*innen hatten damals den Umstand auf ihrer Seite, dass alles, was die Gesellschaft brauchte, ja von ihnen hergestellt und geleistet wurde. Bürgerliche Verwalter und großkapitalistische Müßiggänger konnten sich selbst wie gegenseitig noch so energisch ihrer höheren Weihen versichern – am Ende stellte jemand anderes das Mittagessen auf den Tisch, zimmerte jemand anderes das Bett, in das man sich legte, baute jemand anderes die Straßen, auf denen man lustwandelte und schlussendlich blieb jede administrative Meisterleistung ein bloßes Hirngespinst, wenn niemand da war, sie umzusetzen. Die Arbeiter*innen hatten eben jenen starken Arm, der alles stillstehen ließ, wenn er es nur wollte.
Und wir arbeitslosen Massen? Haben wir allein das (gesellschaftlich so bewertete) Nichts? Nicht wirklich, aber ja, auch das – und vor allem: Warum auch nicht? Bedenken wir, woran uns östliche Philosophien wie der Taoismus allzu gerne erinnern[2]z.B.: Laotse, Tao te king, Kapitel 11:„Die Wirksamkeit des Negativen“, Anaconda Verlag, 2014, oder wozu ein simpler Blick in Welt, wie Universum, ausreichen würde, legte man nur die Scheuklappen des menschlichen Materialismus ab: Wir leben in keiner Welt der Dinge und Geschehnisse, wir leben in einer Welt der Leere, des fast leeren Raumes, in der dann verhältnismäßig zufällig verteilt und lose angeordnet ein paar Dinge herumstehen…liegen…fahren…miteinander in Beziehung treten. Oder für Romantiker formuliert: Was macht einen atem–beraubenden Sternenhimmel so schön, allein die Sterne, oder nicht auch der dunkle, leere Raum zwischen diesen? Und wovon ist eigentlich mehr zu sehen, Sterne, oder blauschwarzer Zwischenraum?
Also, nur als kleiner Denkanstoß, wenn der leere Raum, sprich die Abwesenheit von Dingen und Geschehnissen, seine Berechtigung, ja seine Notwendigkeit hat, letztlich konstitutiv für alle Existenz wirkt, warum denn nicht auch die Abwesenheit von Tätigkeiten? Und allermindestens die Abwesenheit von (Lohn-)Arbeit? Denn es ist ja gar nicht einmal so, dass erwerbslose Menschen nichts tun würden. Irgendetwas macht Mensch ja immer, selbst Faulenzerei muss irgendwie betrieben werden. Von der ganzen Palette unbezahlter Tätigkeiten, seien sie reproduktiv, ehrenamtlich, politisch, kreativ-künstlerisch, pflegerisch, zwischenmenschlich-beziehungshalber, oder selbstfürsorglich, ganz zu schweigen. Tätigkeiten, die ja mindestens ebenso unabdingbar für unsere Existenz und das Fortbestehen unserer Gesellschaft sind wie die schnöde Erwerbsarbeit.
Will heißen, die Dominanz des klassischen Arbeitsbegriffs war ohnehin schon immer eine quasi-neurotische Fixierung auf einen vielfach überhöhten Teilaspekt individueller wie gesellschaftlicher Realität. Als bestünde die zentrale Aufgabe eines Menschen in der Verrichtung seines Jobs. Als erschöpfe sich zwischen 9to5 die Fülle und der Wert einer Existenz. Zumal, wenn wir ein Viertel der Woche arbeiten gehen, ein Viertel der Woche schlafen und in der übrigen Hälfte alles andere machen, warum sollte dann eigentlich ausgerechnet die Arbeit das „Main-Event“ sein? Und selbst Biertrinken und Netflix suchten gehören gewissermaßen zu den gehaltvolleren Tätigkeiten, zumindest, eine kapitalistische Perspektive müsste das anerkennen können. Denn ohne vermaledeiten Konsum nutzt alles noch so fleißige Produzieren herzlich wenig.
Berufen wir uns also auf all das, was wir jenseits eines, ob nun vorhandenen oder abwesenden, Arbeitsplatzes sind. Egal ob produktiv, kontemplativ, zwischenmenschlich oder schlicht müßig bis stinkendfaul, ob höchst politisch, oder ergreifend konsumorientiert, ob kreativ oder wiederkäuend, ob nun Care oder don´t care. Weder beginnt der Mensch bei seiner (Erwerbs-)Arbeit noch hört er dort auf! Und die östliche Philosophie und das (fast) leere Universum im Blick: Es ist die Schönheit des Nichts, die das Etwas überhaupt erst zur Geltung bringt. Kurzum: Werden wir glückliche Arbeitslose um letztlich zu begreifen, wir sind nicht erwerbslos oder erwerbstätig, wir sind lebendig und willenstätig, ob mit oder ohne Job. Alles andere ist arbeitsfetischistischer Nonsens, auf den wir getrost verzichten können und sollten.
Also fröhlich voran! Organisieren wir uns, gründen wir Glückliche-Arbeitslose-Aktions-(oder Aktionslos)-Gruppen, tauschen wir uns aus, setzen wir uns zur Wehr! Verlassen wir die glücklosen Sphären der individualisierten Schuldzuschreibungen und vermeintlichen Einzelschicksale! Deuten wir mit unseren Mittelfingern auf die systemischen Bedingungen hin! Fordern wir Solidarität ein, oder verlassen alle Orte, Verbünde, Organisationen und Gemeinschaften, die uns diese verwehren wollen – oder noch schlimmer, im Austausch für ihre Solidarität, Fleiß, Entbehrung, Gehorsam, Opferstatus und Arbeitswillen von uns verlangen!
Wir arbeiten nicht, weil es offenkundig keinen Grund dafür gibt, es gibt keine Arbeit. Es mag viel zu tun geben, mehr als uns allen lieb sein kann, wie es auch viel zu lassen gäbe, aber offenkundig nicht genug (Erwerbs-)Arbeit für alle. Das haben wir nicht zu verantworten, also baden wir es – zumindest moralisch, wenn schon nicht ökonomisch – auch nicht mehr länger aus! Wir arbeiten nicht, aber genießen die Zeit, die aus ihr entwachsene Freiheit, den weniger herrsch-süchtigen Bezug zu unserer Mitwelt – und vielleicht sollten viel mehr Menschen damit anfangen, wenn wir uns so anschauen, wohin es die Welt gebracht hat: Massenburnout, ökologischer Kollaps, elektrische Fusselrasierer.
In diesem Sinne: Werden wir erwerbslos! Werden wir glücklich!
‚Glückliche Arbeitslose‘ in der Überschrift bezieht sich auf die Analogie zum Namen der einst in Berlin aktiven Gruppe um Guillaume Paoli – siehe Paoli, Guillaume, „Mehr Zuckerbrot, weniger Peitsche“, Edition TIAMAT Verlag Klaus Bittermann, 2002.
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