Pullover ohne Chef

Serkan Gönüş

Maschinenlärm dringt durch eine eiserne Tür im zweiten
Geschoss eines unscheinbaren Industriegebäudes. Mit einem Schlüssel in der Hand
pochen wir gegen eine eiserne Tür. Plakate und Bilder kleben an ihr. Die türkische
Parole „Überall ist Kazova, überall ist Widerstand!“ kündigt bereits
an, dass dies keine normale Fabrik ist. Nach kurzem Warten öffnet uns ein
Arbeiter die Tür, Zigarette in der Hand, und wir dürfen eintreten: In die
Produktionshalle der „Özgur Kazova“ („Freies Kazova“), Textilfabrik
in Selbstverwaltung im Istanbuler Bezirk Eyüp. Unser Gastgeber führt uns ans
andere Ende der mehrere hundert Quadratmeter großen Halle, vorbei an
klackernden alten Webmaschinen, türkisgrünem Garn und halbfertigen Pulloverärmeln.

Ohne Chefs und ohne synthetische Zusätze 

An einem robusten Schreibtisch in der Ecke der Halle nehmen
wir Platz. Serkan, der hier arbeitet, gibt uns eine kurze Einführung in die Geschichte
der Fabrik: Das Unternehmen Kazova ist 65 Jahre alt und zählte zu den
bekanntesten Textilherstellern der Türkei. Vor der Pleite des Eigentümers
produzierte die Kazova-Fabrik für große Ketten wie Zara oder H&M.
„Jetzt werden hier nur noch „Patronsuz Kazak“ produziert“, verkündet
Serkan – Pullover ohne Chef, das Motto der selbstverwalteten Fabrik, das
gleichzeitig so etwas wie deren Eigenmarke ist. Die Besonderheit: Alle Pullover
hier bestehen aus purer Wolle oder Baumwolle, ohne synthetische Zusätze.

„Diese Pullis verkaufen wir für durchschnittlich 60
Lira das Stück. Bei den großen Ketten kostet solche Qualität leicht das Vier-
bis Fünffache.“ Serkan ist sichtlich stolz auf den günstigen Preis.
„Für uns gehört das zur Idee kollektiver Produktion dazu. Wir sind Arbeiter*innen.
Deshalb wollen wir nicht nur selbstbestimmt und ohne Chefs produzieren, wir
wollen auch, dass sich alle Menschen solche Produkte und gute Kleidung leisten
können.“ Eigentlich kein Problem, landen die Gewinne aus den überhöhten
Preisen der Ketten doch gar nicht in der Produktion. Eine große Firma habe Özgür
Kazova angefragt, ob sie Wollpullover für sie herstellen würden. Sofort haben
alle abgelehnt: „Das letzte, was wir wollen, ist den Chefs ihre Profite zu
erwirtschaften!“

Aus dem Geist der Geziproteste

Ob der Lohn denn zum Leben reicht? Derzeit liegt ein
Monatsgehalt in der Özgür Kazova bei gerademal 500 Lira. Serkan winkt ab: Klar
reicht das nicht. Der Familienvater hat drei Kinder zu ernähren, seine Tochter
ist 16 Jahre alt, die Zwillinge 9. Wie es ist, mit wenig Geld zu leben, weiß er.
„Der Chef hat uns ganze vier Monate lang keinen Lohn ausbezahlt!“ Vertrauensgespräche,
Proteste, Streiks – nichts half. So begann 2013, zur Zeit der Geziproteste, die
kämpferische Geschichte der Textilfabrik. Sie hat lebendige Erinnerungen
hinterlassen, Serkans Gesten und sein Elan sind nicht zu bremsen. Bei den
Protesten im Gezipark trafen die Arbeiter*innen der Kazova-Fabrik auch auf gekündigte
Textilarbeiter*innen des Unternehmens HEY. Es kam zu Gesprächen, Kontakten, ein
Austausch entstand: Die Arbeiter*innen von Kazova waren nicht alleine.

Mit der Hilfe vieler Unterstützer*innen und des linken
Anwaltsvereins Çağdaş Hukukçular Derneği („Moderne
Juristenvereinigung“) hatte die Kazova-Belegschaft die Fabrik schließlich übernommen.
Zeitungen aus halb Europa berichteten, die Öffentlichkeit für das Projekt war
groß. Die ersten eigens produzierten Pullover und T-Shirts verkauften sich in wenigen
Tagen. Die Arbeiter*innen nutzten das Geld, um dringende Investitionen in die
Maschinen zu tätigen. Es blieb noch genug übrig, um etwas Lohn auszubezahlen
und Rücklagen zu bilden. Nach fünf Monaten begann der Betrieb, profitabel zu
wirtschaften, die Gehälter stimmten, gute Zeiten standen bevor – wären da nicht
interne Streitigkeiten gewesen, die zur Trennung des Kollektivs geführt haben.

Zwischen politischen Symbol und praxisnaher Selbstverwaltung

So richteten die Anwält*innen ein Spendenkonto ein, das sich
schnell füllte. Doch Spenden lehnt Serkan ab: „Wir arbeiten, und mit unser
Arbeit verdienen wir unser Geld. Spenden machen uns abhängig.“ Mit einer ausladenden
Geste unterstreicht er diese Auffassung. Dazu kam, wie Serkan berichtet, dass
die Belegschaft das Konto gar nicht selbst kontrollierte und bisweilen gar
nicht wusste, wofür die Gelder eingesetzt wurden. Von einer Investition in Garn
einer italienischen Kooperative erfuhren die Arbeiter*innen erst, als sie das
Projekt mit ihren Pullovern belieferten. Misstrauen breitete sich aus. Auch die
Positionierung der Kazova-Fabrik zwischen politischen Symbol und praxisnaher
Selbstverwaltung führte zu Konflikten. Die einen lehnten es ab, mit den
„Kapitalisten und Faschisten“ zu reden, von denen die alte Fabrikhalle
noch angemietet war, die anderen suchten nach pragmatischen Lösungen.

Im Jahr 2014 kam es zur unausweichlichen Spaltung des
Kollektivs: Sieben Arbeiter*innen blieben bei dem Projekt „Diren
Kazova“, wie die Fabrik nach den Geziprotesten genannt wurde, fünf gründeten
Özgür Kazova. Erst Mitte 2015 war die Veränderung komplett vollzogen, ein neuer
Produktionsstandort gefunden, Maschinen angeschafft. Nun muss die Özgür Kazova
erst einmal Fuß fassen am Markt. „Unsere Produktion läuft derzeit nicht
mal auf halber Kapazität, zwei Kolleg*innen sind wegen dem finanziellen Druck
schon gegangen“, resümiert Serkan den Ernst der Lage und steckt sich eine
neue Zigarette an. Derzeit sind es neben dem Onlineshop nur knapp ein halbes Dutzend
Läden in Istanbul, Ankara und Izmir, die mit dem Vertrieb helfen.

Ist dieses Konzept zukunftsfähig?

Wir fragen Şükrü, der sieben Jahre als Einkäufer und
Exporteur in der Textilbranche gearbeitet und hunderte Produktionsstätten
besucht hat. Er kennt den umkämpften Markt. Die Maschinen von Özgür Kazova
findet er nostalgisch: „Die sind mindestens 40 Jahre alt. Die großen
Unternehmen sind nicht nur materiell besser ausgestattet. Sie können jeden
Preis unterbieten, weil an den Produktionsstandorten im fernen Osten Löhne und
Arbeitsrechte noch schwächer sind als in der Türkei.“ Şükrü denkt an
Bangladesch, Indien und China. Trotzdem sieht er Perspektiven für Özgür Kazova:
„Viele Leute wollen Projekte wie dieses unterstützen. Die Mehrheit der Menschen
sieht ein, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem an seine Grenzen kommt und
wollen solidarische Alternativen stärken.“

Auch Serkan sieht Perspektiven für den Betrieb. Er ist seit
28 Jahren in der Branche, hat schon mit 14 in den Sommerferien in kleinen Produktionsstätten
in Istanbul gearbeitet. Er nickt und fügt hinzu: „Ich kenne mein Handwerk
und bin stolz auf meine Arbeit.“ Als die Bosse den Lohn verweigert haben,
musste sich Serkan Geld von seiner Familie leihen. Heute sieht es nicht viel
besser aus, aber Serkan gibt nicht auf. „Wir sind stur, weil wir an
unseren Ideen festhalten“, insistiert er – trotz knappem Lohn, den
Auseinandersetzungen mit den ehemaligen Kolleg*innen und den komplexen
rechtlichen Anforderungen an den Betrieb.

Ohne Bosse zu arbeiten ist für ihn eine leidenschaftliche
Aufgabe, und nur so fühlt er sich wohl. Bei der Arbeit weder angeschrien noch kommandiert
zu werden, und auch nicht für das neue Haus oder Auto des Chefs zu arbeiten –
nur so können sich Serkan und seine Kolleg*innen ihre Arbeit vorstellen.
„Dafür lohnt es sich zu kämpfen.“

Fotos von Jan Zombik:
https://drive.google.com/folderview?id=0B3xoOa3SlgyENXVqU0R6Nl8zeDQ&usp=drive_web

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