Fritz Oerters Lebenserinnerungen

Der Anarchosyndikalist Fritz Oerter stand mit einer Vielzahl namhafter Anarchist:innen in Verbindung wie Gustav Landauer, Rudolf Rocker und Erich Mühsam. Bisher waren seine Schriften und sein bewegtes Leben weniger bekannt. Nun veröffentlicht Leonhard Seidl erstmals Oerters autobiographisches Manuskript.

Zeitliche Einblicke: Sozialismus, SPD und Bayrische Räterepublik

Fritz Oeters Leben war bestimmt durch den Kampf für ein besseres Leben ohne Herrschaft und ohne Gewalt. Sein schriftstellerisches Werk umfasst eine Vielzahl Gedichte, Zeitungsartikel, Bücher zu gesellschaftspolitischen Fragen und Essays; er schrieb unter anderem für den Pionier. Doch mindestens so interessant wie seine schriftstellerischen Hinterlassenschaften dürfte sein bewegtes Leben sein, in dem er sowohl Zeitzeuge als auch Mitwirkender bedeutender historischer Ereignisse war.
Früh bekannte sich Oerter zum Sozialismus, wurde gewerkschaftlich aktiv und war im Fachverband für Lithographie. Die circa 150 Seiten der Lebenserinnerungen fassen seine frühen Jahre in Staubingen und Fürth zusammen, erzählen von dem Bürgerlicher-werden der SPD, seiner kurzen Zeit in den USA und dem (Mit)begründen mehrerer revolutionärer Gruppierungen. Sein Bruder Sepp übte sich im Schmuggeln von anarchistischer Literatur nach Deutschland (unter anderem die »Autonomie«) und Oerter half bei der Verbreitung. Schließlich kam es bei einer Versammlung in Mainz, bei der Sepp eine spontane Rede hielt, in der er Lebensmitteldiebstahl bei Hunger legitimierte, zur Festnahme der beiden Geschwister. Oerter wurde zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Anschaulich schildert er diese in einem längeren Teil der Lebenserinnerungen – seine verschiedenen Arbeitsposten und das Vermissen seiner Frau und beiden Kinder, den Schmerz darüber, sie finanziell nicht unterstützen zu können. Neben seinem politischen Wirken gibt das Werk immer wieder Einblick in seine familiären Verhältnisse, dem harten finanziellen Kampf ums Überleben, dem Suchen nach Anstellungen und bietet damit aufschlussreiche Einblicke in die damalige Zeit.

Circa 1902 enden die fragmentarischen Lebenserinnerungen. Sie konnten aufgrund der Arbeit von Oerters Enkel, Alfred Hierer, bewahrt werden. Dieser bemüht sich seit einem Jahrzehnt das Werk Oerters zu sammeln und zu publizieren. Erst 2020 tauchten die autobiographischen Schriften auf, die Leonhard Seidl nun herausgibt. Neben dem Manuskript umfassen die »Lebenslinien« ein polizeiliches Personalblatt von Oerter und eine Weiterzeichnung seines Lebens von Seidl. Diese ist besonders gelungen durch das häufige Zu-Wort-kommen Oerters. Seidl präsentiert übersichtlich eine Auswahl an Artikeln, Gedichten, Tagebucheinträgen und weiteren autobiographischen Schriften von Oerter. Besonders spannend sind hier die Zusammenfassungen und ausgesuchten Textstellen Oeters zu seiner Beteiligung an der Bayrischen Räterepublik zusammen mit Gustav Landauer und Ernst Toller.

Radikale Menschenfreundlichkeit in Zeiten der Propaganda der Tat

Oerter erlebte das ‚Bekannt-werden des Anarchismusʼ durch die Propaganda der Tat und die Berichterstattung über sie mit. Er beschreibt, dass er sich zwar zunächst von Gewaltakten wie dem Berkman Attentat imponieren ließ, hebt jedoch zu Beginn seiner Reflexion hervor, dass er erkannte, wie kontraproduktiv in seinen Augen dieses Strategie ist:

Wenn ich aber späterhin den Erfolg solcher Taten betrachte, so mußte ich schon feststellen, daß dem großen Opfer der Erfolg nicht entsprach. Die Anarchisten wurden von der bürgerlichen Presse, welche die öffentliche Meinung fabriziert, als die scheußligsten [sic] Verbrecher hingestellt und die ahnungslosen Leser dieser Presse gewonnen über den Anarchismus und seine Propagandisten die verkehrtesten Vorstellungen. […] Abgesehen von den Verfolgungen und den furchtbaren Strafen, denen sich der Terrorist aussetzt, wird er auch noch als der abscheulichste Mensch hingestellt und beschimpft, während dem Attackierten plötzlich ein Glorienschein um den Kopf wächst. Alle seine schlimmen Eigenschaften verschwinden und wütete er gegen sein Volk auch wie ein Berserker, man denkt nicht mehr daran, sieht in ihm nur das Opfer und bedauert ihn noch, während man den, der den Mörder vieler Ermordeter tötete, auf die Guillotine schickt.[1]S. 67 f.

Ähnliche Textpassagen durchziehen das Werk und machen es in Anbetracht der derzeitigen anarchistischen Beteiligung am Ukraine-Krieg zu einem empfehlenswerten Gegenbeispiel eines radikalen und trotzdem gewaltlosen Lebensstils. Nach Oerter ist das Erreichen der sozialistischen Gesellschaft nur durch eine massenhafte Bewegung (wie zum Beispiel bei einem Generalstreik) zu verwirklichen.

So friedlich seine Einstellung ist, so entsetzlich ist sein Lebensende. Oerter wurde 1934 von der SA verhaftet und seine Leihbücherei in Fürth geplündert. Ein Jahr später starb er an einer Lungenentzündung – wahrscheinlich als Folge der Haftbedingungen und vermutlichen Misshandlung.

Sein Leben war geprägt von einer radikalen Menschenfreundlichenkeit, vom Engagement gegen Krieg, Kapitalismus und Nationalismus. Er strebte nach einer gewaltfreien, nach einer herrschaftsfreien Welt, nach nichts weniger als der Befreiung aller Menschen.[2]S. 224.

 

Oerter, Fritz: Lebenslinien. Hrsg. v. Leonhard F. Seidl. Berlin: Verbrecher Verlag, 2022.
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Bildnachweis: Rechte bei DA

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