Gescheiterte Entnazifizierung in der DDR – Rudolf Dörrier

Aus­gangspunkt dieses Antifaschismus war die Reduktion der Ana­lyse der Ur­sachen des (Hitler-) Faschismus allein auf den politisch-ökonomischen Sektor. Jedoch ergab die Verstaatlichung der Großin­dustrie, des Großgrundbesitzes, der Banken und Handelskonzerne nicht die Befreiung der ostdeut­schen Bevölke­rung von rassistischen oder autoritären Überzeugungen, son­dern die Kon­sti­tuierung ei­ner Gesell­schaft, in der Angehörige der ehemaligen fa­schis­tischen Eliten funktio­naler Bestandteil der von Kom­munist*innen dominierten Eliten wurden. Diese Entwick­lung hatte für das ge­sellschaftliche und in­dividuelle Bewusstsein der Ostdeut­schen tief­greifende Folgen. Trotz aktiver Beteiligung am Nazi-System wurden ehemaligen Nazis Karrieren er­möglicht, ohne dass sie poli­tisch oder ju­ristisch zur Ver­antwor­tung gezogen worden wä­ren. Einzelne Bei­spiele von verurteilten Nazis fallen kaum ins Gewicht gegen die große Zahl von un­be­helligt gebliebenen Tätern.

Der 3. Parteitag der SED im Juli 1950 beschloss, die Wurzeln des Fa­schismus wären in der DDR ausge­rottet. Auf der mittle­ren Funktionärs­ebene war die SED auf die ehemaligen Nazis als Teil der Funktionselite ange­wiesen und sie war deshalb be­reit, auch zur Absicherung ihrer Machtansprü­che, ein informelles Bündnis mit ih­nen einzugehen. Hiermit hat sich die SED still­schwei­gend dar­auf ver­ständigt, Rassisten oder Antisemiten wirken zu lassen, ohne sich um de­ren mögliche kriminelle Vergangenheit als Nazis zu kümmern. So funktionierten, unter­halb der obersten Ebene, ehemalige Nazis in leitenden Stellungen, ebenso wie es in Westdeutsch­land der Fall war.[1]Vollnhals, Clemens (Hrsg. in Zusammenarbeit mit Thomas Schlemmer): Entnazifizierung, Politische Säube­rung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991, S. 43-55; vgl. Werkentin, Falco: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, in: Mitter, Armin/Stefan Wolle (Hrsg.): Forschungen zur DDR-Geschichte, Bd. 1, Berlin 1995, S. 168-197. Die wissenschaftlichen Analy­sen über den Prozess der Entnazifizierung für die SBZ/DDR zeigen, daß es die „Stunde Null“ auch dort in Wirklichkeit nicht gab.[2]Rößler, Ruth-Kristin (Hrsg.): Entnazifizierungspolitik der KPD/SED 1945-1948, Dokumente und Materialien, Goldbach, 1994, S. 15f, S. 168, vgl. Otto, Wilfried: Die „Waldheimer Prozesse“ 1950, Historische, politische und juristische Aspekte im Spannungsfeld zwischen Antifaschismus und Stalinismus, Forscher- und Diskussi­onskreis DDR-Geschichte, Hefte zur DDR – Geschichte 12, Berlin 1993, S. 6-7; vgl. Streim, Alfred: Saubere Wehrmacht? Die Verfolgung von Kriegs- und NS-Verbrechen in der Bundesrepublik und in der DDR, in: Han­nes Heer/Klaus Naumann (Hg.): Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944, Hamburg 1995, S. 587-591 Über ehemalige Nazis wurden in der SBZ/DDR keine systematischen Forschungen angestellt.

Märchen als Biographie

Einen besonderen Fall der Vertuschung stellt der ehemalige SS-Mann im KZ Sachsenhausen, Rudolf Dörrier, dar. Dörrier wurde am 18. September 1899 in Braunschweig geboren. 1926 lernte er Lily Wassmund kennen, deren Vater in Berlin ein kleiner, jüdischer Un­ternehmer war, der ein pharmazeutisches Ver­sandgeschäft betrieb; so kam Dörrier 1927 zum ersten Mal nach Berlin-Pankow. 1929 erhielt er eine Anstellung als Werbeleiter für technische Literatur beim jüdischen Julius-Springer-Ver­lag und wohnte als Junggeselle in der Hiddensee­straße. Im August 1930 heirateten Rudolf Dörrier und Lily Wassmund und bewohnten eine neue Woh­nung in Berlin-Pankow in der Hiddenseestraße 2. Im März 1933 kam ihre Tochter Vera zu Welt. Die Schwie­gereltern, Mar­garete und Julius Wassmund wurden am 31. Juli 1942 vom Bahnhof Grundwald zum KZ The­resienstadt deportiert, wo Julius Wassmund am 11. Ja­nuar 1943 und seine Frau Margarete am 22. Februar 1943 getötet wurden.[3]Rudolf Dörrier: Eine Familiengeschichte aus den Jahren 1933-1945, in: Jüdisches Leben in Pankow. Eine zeit­geschichtliche Dokumentation. Herausgegeben vom Bund der Antifaschisten Berlin-Pankow e.V., Redaktion Inge Lammel. Reihe Deutsche Vergangenheit – Stätten der Geschichte Berlins, Band 105, S. 100-109. Im Oktober 1939 erhielt Dörrier eine Einberufung zur Wehrmacht und war vom 16. Oktober 1939 bis zum 24. September 1940 Soldat der Wehrmacht. In seinem Aufsatz in dem Band „Jüdi­schen Leben in Pankow“ gibt er an, er sei „Ende Januar 1945 […] von der Truppe ent­lassen“ worden. In Wahrheit wurde er am 19. Januar 1945 von der SS nach Berlin-Pankow entlassen.

Trotz dieses Werdegangs ist Dörrier in Berlin-Pankow auch über seinen Tod hinaus ein bekannter Mann mit öffentlichem Ansehen. Seine Zeit als SS-Untersturmführer in der Wachmannschaft des KZ Sachsenhausen verschweigt er völlig.[4]Auskunft zu einem ehemaligen Angehörigen des KZ Lagerpersonals Sachsenhausen: Rudolf Dörrier. Oranien­burg 21.01.2017. Provenienz des Originals: Russisches Staatliches Militärarchiv, Moskau. Provenienz Signa­tur: 1367/1/110. Provenienz Blatt: 100. AS Signatur: D 1 A/1110. AS-Blatt: 100. Nach den Unterlagen der Gedenkstätte Sachsenhausen trat er am 21. Mai 1944 als Unterschar­führer in die Waffen-SS ein und begann gleichzeitig seine Tätigkeit als Wachposten im KZ Sachsenhausen. Am 19. Januar 1945 wurde er nach Berlin-Pankow entlassen.[5]Ebenda Dörrier erfand danach mehrfach Ge­schichten über diese Zeit, die ihn als unbescholtenen Mann erscheinen ließen. Der „Berliner Monatsschrift – Publikation zur Stadtgeschichte“ gab er im Jahre 2000 ein Inter­view, worin er sich ausführlich über seine Biografie äußerte.[6] Wie es bei Dörrier heißt … Der Pankower Chronist über sein Leben, in: Berlinische Monatsschrift – Publika­tion zur Stadtgeschichte, Heft 7/2000, S. 59-66. Demnach war er vom 17. Juni 1917 bis September 1918 Soldat des kai­serli­chen Heeres und wurde bei Cambrai im Norden Frankreichs von den Engländern gefangen genommen und ab 6. Oktober 1919 kehrte er zurück nach Braunschweig. Vom nach den Nie­der­landen geflohenen deutschen Kaiser fühlte er sich „verraten“ und „damit ging auch meine bür­gerliche Haltung über Bord, und ich wandte mich nach links, ohne damals einer Partei an­zugehören. Ich kann sagen mein Herz schlug links“.[7] Wie es bei Dörrier heißt …, S. 60.

Im Interview mit der Berliner Monatsschrift stellt Dörrier es so dar, dass er „von 1929 bis 1945“ im Springer-Verlag tätig gewesen sei. Ende Mai 1945 erhielt er in Berlin-Pankow eine Anstellung als Stellvertreter des Amtsleiters im neu gegründeten Amt für Büchereiwesen.

Getarnt als Antifaschist

Vom 23. Oktober bis zum 1. November 1947 wurde im Rathaus in Pankow vor einem sowjeti­schen Militärgericht gegen den ehemaligen Lager­kommandanten des KZ Sachsenhausen sowie gegen „15 schwer belastete Angehörige des Be­wachungskommandos“ verhandelt, wobei die „meisten der Henker“ eine lebenslängliche Haftstrafe erhielten, die sie im Gulag Workuta ver­brachten.[8]Rudolf Dörrier: Pankow. Chronik eines Berliner Stadtbezirks, S. 132. Für Dör­rier bestand durch diese Gerichtsverhandlung potentiell die Gefahr, als Teil der SS-Wachmann­schaft entdeckt zu werden. Wie er diese Klippe umschifft hatte, geht aus den vorlie­genden Un­terlagen nicht hervor. Von 1947 bis 1965 war er Leiter der Bibliotheken im Bezirk Berlin-Pankow. Nach der Zwangs­vereinigung der SPD mit der KPD, war Dörrier Mitglied der SED geworden und wurde somit als „Antifaschist“ wahrgenommen. Bis 1990 leitete er die von ihm gegründete „Ortschronik Pankow“, zunächst mit Ausstellungen im Rathaus Pan­kow und ab 1974 in der Heynstraße 8. In der DDR erhielt er vom Kulturbund die „Johannes-R.-Becher-Medaille“ in Gold – seine Frau Lily Dörrier, sie arbeitete ehrenamt­lich, erhielt die „Johannes-R.-Becher-Medaille“ in Sil­ber. Zu seinem 100. Geburtstag erhielt er die „Ehrenmedaille für Verdienste um den Be­zirk Pan­kow“ und am 31. März 2000 erhielt er, für seine Verdienste, das Bundesverdienstkreuz am Bande, dass ihm im Rathaus Pankow von der Bezirksbürgermeisterin Giesela Grunwald (PDS), überreicht wurde. Der Tagesspiegel attestierte Dörrier am 28. März 2000, dass seine „Suche nach der historischen Wahrheit […] über Pankows Grenzen hinaus anerkannt“ worden wäre.

Am 7. Dezember 2002 verstarb Rudolf Dörrier im Krankenhaus Maria Heimsuchung und wurde im Ehrenhain vom Pankower Friedhof III begraben. An seinem Wohnhaus in der Hid­denseestraße 9 wurden zwei Erinnerungstafeln angebracht. Im Jahr 2004 erhielt die „Ru­dolf-Dörrier-Grundschule“ diesen Namen, nachdem sich ein Schülerprojekt mit seinem Leben und Wirken befasst und ihn noch zu Lebzeiten kennengelernt hatte.

Seine Zeit als SS-Mann blieb öffentlich bis zum Jahr 2017 ein gut gehütetes Geheimnis; die HA IX des MfS hatte spätestens ab Anfang der 1970er Jahre Kenntnis von seiner Zeit als SS-Mann im KZ Sachsenhausen. Die Antwort auf die Frage, ob und wie das MfS sich gegenüber Dörrier verhalten hatte, bleibt (vorerst) unbeantwortet.

 

Zur neuen Studie von Harry Waibel ‘Die braune Saat. Antisemitismus und Neonazismus in der DDR’ geht es hier.

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