Kurt Gustav Wilckens: 100 Jahre nach dem Racheakt

Für einen Mann braucht es keine zwei. Ende der 1980er-Jahre konnte Emilio Uriondo nur mühsam gehen und das Atmen fiel ihm schwer. Das Erscheinungsbild dieses Alten mit dem des anarchistischen Aktivisten zusammenzubringen, der 1928 nach der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti das Attentat gegen die US-Botschaft in Montevideo verübt hatte, ist nicht leicht. In dem Film „El Vindicador“ (Der Rächer) von Osvaldo Bayer und Frieder Wagner (1989) finden sich Hinweise auf die Gründe für den körperlichen Verfall: Uriondo musste viele Jahre im Gefängnis von Ushuaia in Feuerland verbringen. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten war er der einzige Überlebende der kleinen Gruppe, die das Attentat gegen den Oberstleutnant Héctor Varela geplant hatte, den Befehlshaber der Erschießungskommandos in der Provinz Santa Cruz während der Massaker von 1921.

Als sei es immer noch nötig, Identitäten geheim zu halten, erwähnt Uriondo bei seiner Aussage für den Dokumentarfilm nur einen gewissen Vázquez und den Täter der proletarischen Rache: Kurt Gustav Wilckens. Hier zeigt sich die alte anarchistische Verhaltensregel, die Genoss*innen zu schützen … Der Deutsche wollte niemanden in das Attentat verwickeln: „Er sagte, dass es für eine Person nicht zwei Personen bräuchte. Nein, Genosse, du bleibst hier. Für eine Person, nur eine Person“, erinnert sich Uriondo an Wilckens Worte. Und so wurde es vor einem Jahrhundert gemacht, am 27. Januar 1923.

Nach einem kurzen Aufenthalt im Alto Valle in der Provinz Río Negro hatte der junge Deutsche Kurt Wilckens daran gedacht, „mit seinen libertären Freunden“ in die USA zurückzukehren, so Bayers Stimme aus dem Off. Durch die Ausbeutungsbedingungen, die er in Cipolletti vorfand, wurde die Utopie einer „neuen antiautoritären Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe“, die in Patagonien gedeihen sollte, immer weniger greifbar. Als er nach Buenos Aires zurückkehrte, um sich wieder einzuschiffen, hatte Wilckens eine scheinbar zufällige Begegnung mit einem, wie er glaubte, Gleichgesinnten. Doch es war eine Falle: Der spontane Gesprächspartner entpuppte sich als Agent 838 der Politischen Polizei, der den ahnungslosen Wilckens zur Polizeistation 16 im Viertel Constitución brachte. Das damalige Aufenthaltsgesetz erlaubte es der Exekutive, Ausländer*innen auszuweisen, „deren Verhalten die nationale Sicherheit gefährdet oder die öffentliche Ordnung stört“, eine Regelung, die sich vor allem gegen anarchistische Aktivist*innen richtete. Die Ausländerbehörde ordnete seine Ausweisung an, aber die Solidarität war stärker. Den Genossen gelang es, zu beweisen, dass Wilckens seit seiner Ankunft in Argentinien am 29. September 1920 immer gearbeitet hatte. Die Justiz wies die Anordnung zurück und verhängte eine Geldstrafe gegen den Beamten, der die Ausweisung verfügt hatte. Als Geste der Dankbarkeit und Solidarität beschloss Wilckens, in Argentinien zu bleiben und für andere politische Gefangene zu kämpfen. Wie selbstverständlich führte ihn sein Weg zur anarchistischen Gewerkschaft FORA (Federación Obrera Regional Argentina).

Ruhig und schweigsam

Dort traf er Uriondo, der zunächst zurückhaltend war. „Ich lernte ihn im FORA-Büro im Stadtzentrum kennen. Ein sehr ruhiger Mann, der mit kaum jemandem sprach. Er setzte sich immer auf eine Bank und las. Von Delgado, einem anderen Genossen, wusste ich bereits, dass er als Autowäscher arbeitete. (Miguel Arcángel) Roscigna meinte dann, Wilckens sei ein guter Genosse. So kamen wir zusammen.“ Roscigna, eine weitere anarchistische Legende …
„Ich war in der Gewerkschaft der Autowäscher, die damals sehr gut organisiert waren. Er (Wilckens) war auch in dieser Gewerkschaft, er arbeitete als Autowäscher, weil er aus dem Landesinneren kam“, bestätigte Luis Oneto, ein weiterer Zeuge in dem alten Bayer-Wagner-Film. „Er arbeitete in der Soler-Straße, im Stadtteil Palermo Viejo. Ich habe in einer anderen Garage gearbeitet. Seine Schicht begann gegen 12 Uhr nachts. Wir Autowäscher reinigten damals acht Fahrzeuge, er war mit der Arbeit gegen sechs oder sieben Uhr morgens fertig.“

Umberto Correale war 90 Jahre alt, als er mit Osvaldo Bayer sprach, dem Autor von La Patagonia Rebelde (deutsch: Aufstand in Patagonien). Zu den Zeiten von Wilckens war er Hafenarbeiter. „Er war ein Mann mit freundlichem Gesicht. Er strahlte Güte aus. Manchmal hatte ich das Gefühl, er sei Evangelist, eine Art christliche Gestalt. Dieses Gefühl hatte ich bei ihm immer.“ Der Eindruck von Correale war berechtigt: Als die Polizei nach dem Anschlag sein Zimmer durchsuchte, zerstörte sie mit Tritten ein Gemälde von Leo Tolstoi, angeblich um nach versteckten Botschaften oder anderen Hinweisen auf Komplizen zu suchen.

Wilckens kam aus Bad Bramstedt, einem kleinen Ort in Norddeutschland, und hatte den Militärdienst in einer Einheit abgeleistet, die für die Sicherheit des Kaisers zuständig war. Vor dem Ausbruch des ersten Weltkrieges ging er in die USA, wo er mit einer Gruppe von Schweden, Dänen, Norwegern und anderen Deutschen versuchte, ein ungebundenes Leben im Kontakt mit der Natur zu führen. In dieser Zeit beschäftigte er sich offenbar mit dem Werk des großen russischen Romanciers, der laut Bayer für eine Rückkehr zum „frühen Christentum, zur Gewaltlosigkeit und zur Ablehnung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ eintrat.

Dem Einberufungsbefehl in die Armee seines Landes ist er 1914 konsequenterweise nicht gefolgt. Anstatt sein Leben in der Hölle der Schützengräben zu riskieren, wurde Wilckens aufgrund seiner besseren Englischkenntnisse zum Sprecher seiner europäischen Kollegen. Er war Bergarbeiter in Arizona und sprach bei den Versammlungen. Nach einem verlorenen Arbeitskampf wurde er zusammen mit mehr als tausend anderen Arbeitern nach New Mexico verbannt. Als Ausländer aus einem feindlichen Staat wurde er inhaftiert und am Ende des Krieges ausgewiesen. In Hamburg ging er zum Anarchistischen Freibund, der die Zeitschrift „Alarm“ herausgab. Dort erfuhr er von Argentinien und der starken Arbeiterbewegung dort, aber bevor er abreiste, kam es noch zu einer weiteren Geste, die Tolstoi würdig gewesen wäre: Nach dem Tod seiner Mutter verzichtete er zugunsten seiner Brüder auf ein Erbe von 20000 Goldmark. Als die Polizei in sein Zimmer in Buenos Aires eindrang, fand sie dort nur ein paar eher bescheidene Möbel und einige Bücher in deutscher Sprache vor.

Meine Brüder

In dem Film „El Vindicador“ erinnert sich Uriondo an die Momente vor dem Attentat. „Er beschließt, es Varela zu geben, also zieht er alleine los, um es Varela zu geben, unter der Bedingung, dass an der nächsten Straßenecke das Auto von Dositeo und Caballero stehen sollte, um ihn fortzubringen.“ Diese Bedingung hatten die Genossen von Wilckens gesetzt. Die Klarnamen der Komplizen kommen in der Erzählung nicht vor. „Was dann passierte, ist bekannt. Er ging dort hin mit einer Granate, die Vázquez hergestellt hatte, denn Vázquez war derjenige, der das konnte. Er kannte die Mischung und wusste, wie er es machen musste.“

Es gab einen Vorlauf, denn „sie beschlossen, es vorher auszuprobieren. Vázquez wollte, dass er es ausprobiert und sieht. Also gingen wir zur Eisenbahnbrücke: Vázquez, Wilckens und ich. Er warf dann die Granate von der Brücke nach unten. Es war Nacht, also kehrte Wilckens am nächsten Tag zurück, um sich die Wirkung anzusehen. Er war mit dem Resultat zufrieden“, bekundet Uriondo.

Die Geschichte ist mehr oder weniger bekannt. Am Morgen des 27. Januar 1923 zündete der Tolstoi-Verehrer die Granate in die Nähe des mörderischen Militärs und er vollendete sein Werk mit vier Revolverschüssen. Mit der Anzahl der Schüsse erinnerte er an die vier Schüsse, die jedes Erschießungskommando zwei Jahre zuvor auf die 1500 Landarbeiter abgegeben hatte. Wilckens konnte jedoch nicht zu dem rettenden Auto fliehen, weil ein kleines Mädchen vorbeikam, das er mit seinem Körper schützte. Er bekam einen Splitter ab, der sein linkes Bein zertrümmerte. Später erzählte er, dass er ohne Betäubung operiert wurde und ihm zehn Zentimeter Knochen entfernt wurden. Medizinische Vorsichtsmaßnahme oder staatliche Rache?

Er wurde von dem Polizisten Nicanor Serrano verhaftet, dem ersten von vielen, die ihn misshandeln sollten. Wilckens antwortete bei den Verhören wortkarg: „Ich habe meine Brüder gerächt. Ich bin der alleinige Täter. Ich habe die Bombe ohne Hilfe gebaut.“ Die Aktion des Rächers wurde in den Versammlungen der Arbeiter*innen begrüßt, und nicht nur in den anarchistischen. Wilckens habe laut Bayer „das Recht des Einzelnen, den Tyrannen zu töten“, ausgeübt. Die Zeitung Pampa Libre titelte: „Gringo-Gaucho: Bruder Wilckens. Die Gauchos der Pampa grüßen dich und sehen in dir ein Beispiel für die Rächer der Armen.“ Als er im Gefängnis ankam, wurde er mit Beifall und Hochrufen empfangen.

Zwei Jahre vorher waren die ersten Nachrichten in Buenos Aires angekommen, welche Verbrechen die Armee, die Paramilitärs der Liga Patriótica, die Großgrundbesitzer und die Chefs der Handelskette La Anónima in Patagonien begangen hatten. Wilckens fehlte in keiner Versammlung und bei keiner Veranstaltung. Entsprechend seiner Persönlichkeit sagte er meist nichts. Nur einmal brach er sein Schweigen und meinte: „Wenn dieser Oberst weiterlebt, wird er wieder ein Massaker anrichten.“

Fünf Monate nach dem Attentat in der Fitz-Roy-Straße starb Wilckens, ermordet von einem Mitglied der Liga Patriótica, der sich in das Gefängnis eingeschlichen hatte, wo er seine Strafe verbüßte. Die FORA antwortete mit einem riesigen Generalstreik. Luis Oneto, jener Autowäscher, erinnert sich: „Das war kein friedlicher Streik, das war ein Aktionsstreik. Die Bäckereiarbeiter, die damals am kämpferischsten und am besten organisiert waren, hielten eine Versammlung in einem Lokal in der Bartolomé-Mitre-Straße ab, denn auf dem Once-Platz hatte es die Polizei verboten. Es kam zu einer gewaltigen Schießerei. Die Gendarmerie griff sie an, das waren alles Berittene mit Gewehren. Es gab Tote und Verletzte.“

Für einen Mann braucht man keine zwei, dachte der Norddeutsche. Um seine große Geste auszulöschen, reichten weder Polizei, noch Richter, Gefängniswärter, Politiker, die willfährige Presse oder das Militär aus. Auch nicht das Schweigen oder die hundert Jahre, die seitdem vergangen sind.

 

Originalartikel: https://enestosdias.com.ar/cronica/wilckens-100-anos-de-vindicta

Übersetzung: Alix Arnold

Der Film El Vindicador ist auf Spanisch und Deutsch auf YouTube zu finden:
https://www.youtube.com/watch?v=RYvPYfe6GGc
https://www.youtube.com/watch?v=_JfeVAvf1hQ

Nachzulesen ist die Geschichte in dem Buch von Osvaldo Bayer: Aufstand in Patagonien, Übersetzung: Boris Schöppner, Trotzdem-Verlagsgenossenschaft, Frankfurt 2010

Beitragsbild: libcom.org

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