Nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union und der größten Rezession aller Zeiten ist die Lage für viele vor allem prekär beschäftigte Menschen noch unsicherer geworden. Viele emigrierte Menschen kehren Großbritannien den Rücken zu, da ihr Aufenthaltsstatus zunehmend unsicherer wird. Jedoch sind es gerade die zugewanderten Menschen, die Großbritannien, nicht nur im Gesundheits- und Reinigungssektor, am Laufen halten. Seit Jahren ist der Dank: Outsourcing, Ausbeutung und Unterdrückung. Dagegen formiert sich seit sechs Jahren eine Bewegung, die Schlagkraft hat.
Laut dem Trades Union Congress sind knapp 4 Millionen Menschen unsicheren Arbeitsverhältnissen ausgeliefert und somit eine von neun Personen in Großbritannien von Prekarisierung betroffen. [1]https://www.tuc.org.uk/news/1-9-workers-are-insecure-jobs-says-tuc Die United Voices of the World (UVW) ist eine Graswurzelbewegung, die sich vor allem auf diese Menschen konzentriert: Menschen mit geringem Einkommen, migrantische Beschäftigte und die in prekären Bereichen. Die mitgliederbasierte Gewerkschaft organisiert die Durchführung von Kampagnen, vor allem in den von Outsourcing betroffenen Industrien, vorrangig im Reinigungs- und Sicherheitsgewerbe, im Portierbereich und dem Catering. Seither haben sich aber auch viele Beschäftigte anderer Branchen organisiert, zum Beispiel Sexarbeiter:innen (United Sex Workers), Künstler:innen, Sozialarbeiter:innen oder Beschäftigte innerhalb der Wohlfahrtsverbände. Neben der Kampagnenarbeit und der Organisation von Streiks, organisiert die UVW auch Workshops zum Arbeitsrecht und Sprachkurse.
Das vorderste Ziel der Kampagnen ist es, für alle Arbeiter:innen das London Living Wage zu erreichen. (Der Mindestlohn für London liegt bei £10.85 pro Stunde.) Weiterhin setzen sie sich für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und andere Mindeststandards ein, die immer noch nicht selbstverständlich sind. Sie treten für sichere, würdevolle und ertragbare Arbeitsbedingungen in den Betrieben und für Respekt gegenüber den Angestellten ein. Ein wichtiger Aspekt der Arbeit ist es dem Prinzip des Outsourcings entgegenzustehen. Outsourcing als neoliberaler Prozess der Profitsteigerung schafft laut der UVW durch Spezialisierung ein Zweiklassensystem innerhalb der Belegschaft, um einerseits Lohnkosten zu senken und andererseits den Beschäftigten wichtige Rechte zu verweigern.
Aktuelle Konflikte
Ein aktueller Konflikt, in welchem Mitglieder der UVW sich organisieren, findet in einem Altenheim, dem Service to the Aged (Sage) Nursing Home in Nord-London statt. Die Care-Arbeiter:innen fordern nicht nur Respekt, sondern auch eine Angleichung der Standards an die der Beschäftigen des National Health Service (NHS), in Bezug auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und den Jahresurlaub. Momentan liegt der Stundenlohn unter dem Mindestlohn, wie ein Care-Worker vom Sage Nursing Home berichtet. [2]https://www.youtube.com/watch?v=TmacLhUM5mY& Zudem berichten die Beschäftigten davon, dass sie es sich nicht leisten können, krank zu werden und es daher häufig vorkommt, dass sie krank auf Arbeit erscheinen und der Lohn nicht zum Leben in London reicht. Weil sie sich seit Jahren nicht gehört und respektiert fühlen, haben sie sich mit Hilfe der UVW organisiert.
Unter dem Motto „Quality care deserves quality pay“ steht die Hauptforderung nach £12 pro Stunde im Mittelpunkt der Kampagne. Neben Aktionen, wie einer Petition, die mittlerweile über 70.000 Menschen unterschrieben haben, wird zur Beteiligung an einer Briefkampagne, zum Mitmachen und Spenden für den Streik aufgerufen. Denn nach monatelanger Organisation wurden sie dennoch weiterhin von der Geschäftsführung ignoriert. Daher stimmten die Beschäftigten über einen Streik ab, welcher zu 100% befürwortet wurde. Im November 2020 stimmte das Unternehmen dann, nach dieser Androhung eines Streiks, den Verhandlungen mit den Beschäftigten zu, auch wenn sie die UVW bisher nicht als tariffähige Gewerkschaft anerkennen.
Streik um jeden Preis
Anfang Dezember 2020 sollten die Verhandlungen mit den Treuhändern Adrian Jacobs and Stephen Goldberg beginnen. Sie wurden aber untergraben, nachdem die Treuhänder mit weniger als 24 Stunden Vorlaufzeit mehreren gewählten Vertretern das Recht verweigerten, an den Gesprächen teilzunehmen und der UVW mitteilten, dass sie nicht die Absicht hätten, Vergleichsangebote zu machen.[3]https://www.uvwunion.org.uk/en/news/2020/12/key-workers-at-care-home-in-north-london-have-been-left-with-no-choice-but-to-strike-says-uvw-after-negotiations-undermined Dazu sagt Molly de Dios Fisher, eine UVW-Organisatorin und Sachbearbeiterin:
„Unsere Mitglieder wollten einen Streik um jeden Preis vermeiden, aber die Treuhänder haben ihnen keine Wahl gelassen. Sie haben keinen Willen gezeigt, in gutem Glauben zu verhandeln, und es ist ziemlich schwer, wenn diese Milliardäre sagen, dass kein Geld da ist, um einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, während sie im gleichen Atemzug einen gewerkschaftsfeindlichen Rechtsberater mit einem Stundensatz von 354 Pfund einstellen.“[4]Übersetzung nach Berichten der UVW
Der Streik ist zwar erst einmal ausgesetzt, jedoch sind die Beschäftigten bei Sage wütend und wollen jetzt erst recht weiterkämpfen, auch wenn sie das unkooperative Verhalten der Geschäftsführung ernüchtert, oder eben grade deswegen. Dennoch ist der Streik ihr letzter Trumpf, denn sie wissen, was ein Streik bewirken kann.
Streik im St. Marys Hospital
Einen ihrer berühmten Streiks organisierten die UVW im Londoner Stadtteil Paddington (West-London), in welchem sich das St. Marys Hospital befindet, eines der größten Krankenhäuser Londons. Dort haben im Oktober 2019, im Zuge einer Kampagne der United Voices of the World, Streiks gegen das Outsourcing begonnen, die zu einem erfolgreichen Ergebnis führen konnten.
Die Probleme der Beschäftigten begannen 2014, als der multinationale Konzerne Sodexo aus Frankreich, im Zuge einer Ausschreibung, einen 5 Jahres Vertrag mit dem Imperial College Healthcare NHS Trust erhalten hatte. Seither hatte der Konzern die Organisation spezieller Branchen innerhalb des St. Marys Krankenhauses übernommen. So wurden fast alle migrantischen Arbeiter:innen, die vor allem im Bereich der Reinigung, dem Catering und der Sicherheit arbeiteten, sowie die Pförtner:innen über Sodexo angestellt, also outgesourct. Das bedeutete für die Beschäftigten nicht nur die Ausbeutung durch verminderte Löhne oder unbezahlte Überstunden, auch an Feiertagen, oder nur den Mindestsatz an Krankengeld, sondern es bedeutete auch einen schlechten Arbeitsschutz durch zum Beispiel fehlende Schutzimpfungen. Neben der Tatsache, dass sich eine Zweiklassengesellschaft innerhalb des Krankenhauses entwickeln konnte, wurden die Beschäftigten von Sodexo laut Berichten der Angestellten regelmäßig gedemütigt.[5]https://www.uvwunion.org.uk/en/campaigns/st-marys-hospital/
So fingen ungefähr 200 Beschäftigte im Oktober 2019 einen Streik an. Schon nach nur drei Streiktagen wurde ihnen der Mindestlohn (London Living Wage) zugestanden. Damit gaben sie sich aber nicht zufrieden, denn ihre Ziele waren nicht nur, den Mindestlohn zu erreichen, sondern auch wieder direkt beim NHS angestellt zu werden und die gleiche Bezahlung und vor allem wieder die gleichen Rechte wie andere NHS-Mitarbeiter zu genießen. So ging der Streik weiter und wurde zu einem der längsten in der Geschichte des NHS. Mit verschiedenen Aktionen, wie der Besetzung der Krankenhausflure und der letztendlichen Stürmung der Vorstandssitzung der NHS-Manager, konnten sie diese am 9. Streiktag davon überzeugen, dass ihnen die Sache ernst war. Vor allem die Verpflichtung der Arbeiter:innen zu einem unbefristeten Streik, falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden, brachten das Management schließlich an den Verhandlungstisch und führten zu erfolgreichen Verhandlungen zwischen dem Trust und den United Voices of the World. So konnten sie nicht nur dafür sorgen, dass die Verträge mit Sodexo nicht verlängert wurden, sondern auch den Erfolg einer Wiedereingliederung von 1200 Beschäftigten in das Imperial College NHS Trust erreichen.
Weitere Informationen zu den aktuellen Kampagnen findet ihr hier.
Titel- und Beitragsbild: United Voices of the World