Nachruf auf Igor Hergenröther

Igor wurde als Igor Alexejewitsch Gergenreder in der russischen Stadt Buguruslan – in den südlichen Ausläufern des Urals – als Sohn deportierter Wolgadeutschen geboren. Früh erkrankte er an Kinderlähmung, die seine Gesundheit ein Leben lang beeinträchtigen sollte.

Trotz der Brandmarkung der Familie als Angehörige einer „problematischen“ Minderheit – erschwerend kam hinzu, dass Igors Vater im Russischen Bürgerkrieg auf der Seite der sog. Weißen kämpfte! – durfte Igor nach der Schule an der angesehenen Kasaner Universität Journalistik studieren. Frühe Stationen seines Berufslebens waren u.a. Nowokujbyschewsk (in der Region Samara) und Riga, wo er 1974 einige Zeit als Praktikant verbrachte.

Gemäß einer Anordnung der Sowjetbehörden, wonach sich Russlanddeutsche nicht dauerhaft in den großen Städten niederlassen durften, musste Igor nach dem Studium lange nach einem Zuhause suchen. Als aufmüpfiger Journalist war er zusätzlich suspekt: Er hatte angefangen, zu den schmutzigen Machenschaften der sowjetischen Nuklearindustrie östlich des Urals zu recherchieren. Schließlich gelang es ihm, sich in Kischinau, der Hauptstadt der Moldawischen SSR (heute die Republik Moldau) niederzulassen. Ab 1985 widmete er sich dort auch dem literarischen Schreiben. Es entstanden zahlreiche experimentierfreudige Prosawerke.

In Kischinau lernte Igor seine erste Ehefrau, Tamara, kennen. Zusammen bekamen sie eine Tochter, Nelli. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gerieten die Hergenröthers zunehmend ins Visier der an die Macht gelangten moldauischen Nationalist*innen. Tamara verlor ihre Stelle als Verlagslektorin, auch Igor bekam kaum noch Aufträge. Schriftliche und mündliche Drohungen häuften sich, außerdem wurde einmal auf die Wohnung der Familie geschossen.

Über anarchistische Kontakte in Russland wandte sich Igor an die damalige Osteuropa-Arbeitsgruppe der FAU, die bald Igors Bemühungen um Anerkennung als „Spätaussiedler“ unterstützte. Der angestrebten Ausreise in die Bundesrepublik durften sich Tamara und Nelli als Angehörige anschließen. Die moldauischen Behörden stellten aber Hürden auf, so dass die FAU eine Protestkampagne ins Leben rief – u.a. mit einer Aktion vor dem moldauischen Konsulat in Frankfurt/M. –, um den Druck zu erhöhen. 1994 gelang schließlich die Ausreise.

Nach etlichen Monaten in Übergangswohnheimen in den neuen Bundesländern, während das Einbürgerungsverfahren lief, ließen sich Hergenröthers 1995 in Berlin-Moabit nieder. Igor bezog eine Rente, beteiligte sich einige Jahre lang an der Arbeit der Osteuropa-AG der FAU und widmete sich verstärkt dem Schreiben. In diesen Jahren entstand sein wohl bekanntestes Werk, die autobiographische Novelle „Gebt dem König die Hand“ (Volk und Welt, 1998), die ein Jahr zuvor in verkürzter Form als „Дайте руку королю“ in einer Berliner Literaturzeitschrift erschienen war. Darin verarbeitete Igor seine haarsträubenden Erfahrungen in einer Moskauer Klinik für poliokranke Kinder.

In den Folgejahren veröffentlichte Igor zahlreiche Artikel, Erzählungen und Novellen in russischsprachigen Publikationen in Deutschland und Russland. Seine Texte sind überwiegend fantasievoll und sozialkritisch, enthalten auch viele familienhistorische Bezüge. Igor warnte rechtzeitig vor dem heraufziehenden Putinismus in Russland.

Mitte der 2010er Jahre heiratete Igor erneut. Über seine letzten Lebensjahre ist seinen ehemaligen FAU-Genoss*innen wenig bekannt. Im April 2022 starb er 69-jährig in Berlin.

 

 

Titelbild: © RusDeutsch

 

 

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