Selbstverwaltung braucht Herz

Im Rahmen der “Reise für das Leben” war eine Delegation von ca. 180 Zapatistas vom 14. September bis 6. Dezember 2021 in Europa unterwegs, um Bewegungen, Organisationen und Menschen von links und unten kennenzulernen, sich mit ihnen auszutauschen und zu vernetzen. Auch in Deutschland gab es viele Begegnungen. Zwei FAUistas schreiben über ihre Eindrücke.

Die Compas (Kurzform des spanischen Compañeros, Compañeras, dt. in etwa Genoss*innen) hatten zu fünf Themen ihr “kollektives Wort” vorbereitet, das heißt, hier konnten sie repräsentativ für alle Zapatistas sprechen. Da es ihnen vor allem darum ging, einander kennenzulernen, behandelten sie in diesen fünf Kapiteln ihre eigene Geschichte. Aber dabei soll es nicht bleiben. Die Zapatistas haben mehr als klar gemacht: Für sie ist diese Reise kein Spaziergang, kein Selbstzweck und kein Spiel. Im Gegenteil, es war für sie der größte Kraftakt seit ihrem Aufstand 1994. Ihre Erwartung ist, dass diese Reise Früchte trägt, in Form von verbindlicher Organisierung und langfristiger Zusammenarbeit mit keinem geringeren Ziel, als das patriarchale, rassistische, kapitalistische System zu zerstören, bevor es die „Mutter Erde“ und die Menschheit zerstört.

Aus dem Herzen sprechen und zuhören

Wer das Privileg hatte, den Compas bei einer der vielen halböffentlichen Veranstaltungen zuhören zu können, begriff, WIE ernst es ihnen ist. Von indigenen Rebell*innen ihre eigene Geschichte erzählt zu bekommen, zu sehen, wie lebendig die 500 Jahre Widerstand in ihnen sind, wie präsent der Schmerz ihrer Vorfahren, wie stark der Wille zum Kampf trotz aller Rückschläge, wie tief verankert das politische Bewusstsein – das gab eine Menge Hoffnung, Kraft und Inspiration, aber auch ein tiefes Gefühl für die große Verantwortung, die wir haben, und großen Respekt davor, sein Leben dem Kampf zu widmen.

Wer mit den Compas in den Austausch kam, egal zu welchem Thema, hatte damit auch schon die vielleicht wichtigste Erfahrung dieser Begegnung gemacht: richtig zuhören. Urteilsfreies, geduldiges, aktives Zuhören, wirklich verstehen wollen, was die andere Person bewegt – nicht was ich darin hören will. Sehr schnell wurde uns bewusst, wie weit wir davon in unserem Alltag, auch in unserer politischen Praxis entfernt sind. Anfangs hatten wir die Begegnungen mit den Compas wie gewohnt eng getaktet. Ein Treffen von zwei Stunden, dann zur nächsten Gruppe. Das funktionierte überhaupt nicht und es wurde deutlich, wie sehr wir bei so etwas immer nur an der Oberfläche kratzen.
Wenn die Compas selbst zu einem der fünf vorbereiteten Themen sprachen, funktionierte das noch viel weniger. Denn sie redeten „mit dem Herzen“, nicht abstrakt, sondern persönlich, in Form von Geschichten. Das Leid ihrer Großeltern fassten sie nicht einfach als Herrschaft der Großgrundbesitzer mit Leibeigenschaft, Folter und dem Recht der ersten Nacht zusammen. Sie erzählten die ganze Geschichte, mit allen Details … Das kam manchen vielleicht ineffizient vor. Für viele von uns war es im Gegenteil bestärkend und schon die erste praktische Inspiration für unsere eigenen Kämpfe. Denn mit dieser Form „von Herzen zu sprechen und zuzuhören“ wird emotionale Nähe hergestellt. Außerdem schafft sie den Raum, dass alle ihre Gedanken und Gefühle einbringen können – nicht nur die Schnellsten, die Eloquentesten, die Schlauesten oder einfach die Dominanten.

„(…) Entschuldigt, wenn ich ein ums andere Mal auf das Zuhören insistiere. Aber ich schaue nach draußen und höre, wie alle reden wollen – besser noch: schreien wollen – und kein Mensch oder fast kein Mensch, der bereit ist zuzuhören.“[1]https://enlacezapatista.ezln.org.mx/2021/09/08/17-jahre-hinter-sich-die-gruppe-der-milicianas-ixchel-ramona/

Das Geschichtenerzählen und das Zuhören stellten sich zum Beispiel auch als zentral heraus bei der Frage, wie die Compas innerhalb weniger Jahrzehnte so entscheidende Fortschritte im Kampf gegen patriarchale Gewalt erzielen konnten und wie ihr Umgang heute damit aussieht. Dahinter steckt keine elaborierte Analyse des Patriarchats. Sie erinnern sich sehr regelmäßig, etwa bei Versammlungen, an ihre gemeinsamen Grundsätze, also auch den Respekt gegenüber Frauen und Otroas (ihre Bezeichnung für alle Geschlechter außerhalb von Mann und Frau). Auch in den autonomen Schulen ist das von der ersten Klasse an präsent. Dass das keine hohle Phrase bleibt, sondern sich in ihr alltägliches Handeln übersetzt, liegt daran, wie sie mittels Geschichten und dem aktiven Zuhören einen „kollektiven Schmerz“ schaffen, der auch bei den Männern emotionale Nähe und damit ein sehr eigenes Interesse schafft, ihre Compañeras nicht leiden zu sehen.

Das geht einher mit einer Kultur von Kritik und Selbstkritik, in der nicht die Schuld beim Individuum gesucht wird, sondern das Bewusstsein überwiegt, dass wir alle von diesem „schlechten System“ durchdrungen sind und einen gemeinsamen Kampf führen.
Dieses Denken, Fühlen und Handeln im Kollektiv war sehr präsent in allen Begegnungen mit den Zapatistas. Nicht nur in dem, was sie sagten, sondern auch wie sie auftraten und aufeinander Bezug nahmen. Das zu erleben, löste bereits einige Fragen darüber auf, wie der Zapatismus überhaupt so gut funktioniert. Es machte uns einerseits schmerzhaft deutlich, wie individualisiert wir leben. Andererseits gab es einige Inspiration für unsere eigenen Organisationsprozesse. Darauf wollen wir im zweiten Teil etwas näher eingehen.

Netz der Rebellion

Für die Organisation der Reise bildete sich, ausgehend vom Soli-Netzwerk Europa Zapatista, eine europaweite Vernetzung von Organisationen, Gruppen, Kollektiven und regionalen Koordinationen. In Deutschland gab das Ya-Basta-Netz den Anstoß zur Bildung eines bundesweiten Netzwerks aus über 20 regionalen Gruppen und ebenso vielen überregionalen Arbeitsgruppen, das “Netz der Rebellion”. Schon mit dieser Vernetzung hatte die Reise ihren ersten Zweck erfüllt: Dass wir über Grenzen und Gräben hinweg zusammenkommen und uns als Bewegungen von unten und links gemeinsam organisieren. Die FAU beteiligte sich an der Organisierung in den Städten Bonn, Münster, Düsseldorf, Frankfurt a. M., Heidelberg, Hamburg und Hannover sowie in den überregionalen AGs “Neoliberalismus” und “Basisarbeit”.

Die bundesweite Organisation folgte Prinzipien, die zum Zapatismus ebenso wie zum Anarchosyndikalismus gewisse Parallelen aufweisen – Prinzipien, die nicht zuletzt auch dank dieser zwei Bewegungen für viele in der radikalen Linken heute selbstverständlich sind: Die Arbeits- und Regionalgruppen versuchten, konsensorientiert zu arbeiten und schickten Delegierte in den bundesweiten “Koordinierungskreis”. Dort erfolgte nach Möglichkeit nur Austausch und Rücktrag, es wurde diskutiert, aber die Entscheidungen sollten an der “Basis” getroffen werden. Hierarchien wurden möglichst flach gehalten.

Planänderungen, Einreisebeschränkungen und informelle Hierarchien

Das war der Anspruch. Die Praxis sah natürlich wie immer etwas komplizierter aus. Das war zum einen der überwältigenden Aufgabe geschuldet: Die Reiserouten von 180 Zapatistas mussten europaweit koordiniert werden, 65 davon kamen letztendlich nach Deutschland. Eine logistische Herausforderung, der unsere Strukturen kaum gewachsen waren, zumal es ständig zu Planänderungen kam, sich der Termin immer weiter herauszögerte, weil die mexikanische Regierung Reisepässe verweigerte, weil die europäischen Staaten rassistische Einreisebestimmungen haben, weil Corona, … Noch dazu hatte keine der beiden Seiten bis dahin auch nur annähernd etwas Ähnliches umgesetzt. Und nachdem eine Weile ein Plan nach dem anderen verworfen werden musste und nur noch Ungewissheit übrig blieb, ging plötzlich alles ganz schnell: Mit zwei Wochen Vorlauf stand fest, alle Compas würden in Wien landen, wo wir dann in wenigen Tagen die Reiseroute für Deutschland ausarbeiten mussten.

Dass da unsere bescheidene Praxis in Selbstverwaltung an ihre Grenzen kommen würde, war klar. Wie immer bildeten sich informelle Hierarchien, manche Anliegen wurden nicht gehört, Menschen fühlten sich übergangen, es gab Konflikte. An den Konflikten sind wir dran, können sie hoffentlich bearbeiten und daran wachsen, nicht zuletzt dank der oben beschriebenen Erfahrungen aus dem Austausch mit den Compas. Aber auch der Umgang mit Hierarchien scheint uns einer der Punkte zu sein, wo wir aus der Reise und von den Zapatistas eine Menge für unsere eigene Organisation lernen können. Ohne es theoretisch auszuformulieren, leben die Zapatistas in ihren zivilen Strukturen einen sehr machtkritischen Organisationsansatz. Die Macht der autonomen Regierungsgremien wird strukturell begrenzt, indem wichtige Entscheidungen stets an der Basis getroffen werden, Ämter rotieren, praktisch unentlohnt sind und jederzeit umbesetzt werden können, wenn jemand nicht zur Zufriedenheit der Basis arbeitet.

Was wir jedoch kaum kennen, was aber genauso wichtig ist für das Funktionieren der Selbstverwaltung, sind die sieben Prinzipien des “gehorchenden Regierens”, nach denen sich “Autoritäten” (so heißen Amtsträger*innen in der zapatistischen Selbstverwaltung) richten sollen. Diese Prinzipien sind weniger konkret und tragen dem Umstand Rechnung, dass Autoritäten trotz der strukturellen Begrenzungen durchaus Handlungsspielraum und damit eben Macht besitzen, es also auch auf das politische Bewusstsein und die Entscheidungen der jeweiligen Personen ankommt. Während wir hierzulande Hierarchien häufig ausblenden und dann keinen richtigen Umgang damit wissen, wenn sie doch auftreten, sind sich die Zapatistas ihrer sehr bewusst: Sie definieren nicht nur klar, was in der “Macht” einer Autorität steht, sondern geben zusätzlich Prinzipien vor, nach denen sie innerhalb ihres Spielraums zu handeln hat. So werden die Hierarchien transparent und kritisierbar gemacht und sichergestellt, dass sie im Sinne der Basis handeln, eben „gehorchend regieren“.

Nehmen wir z. B. das Prinzip “Bajar y no subir”, in etwa: “Heruntergehen, nicht aufsteigen”. Gemeint ist damit, dass es die Pflicht einer jeden Autorität ist, proaktiv auf die Basis zuzugehen, zu hören, was sie braucht, und Vorschläge solange und verständlich zu erklären, bis alle sie wirklich verstanden haben und sich eine Meinung dazu bilden können. Auf die FAU bezogen hieße das: Ein Beschluss, der von 10 % eines Syndikats verstanden und befürwortet, von weiteren 20 % abgenickt und von den anderen 70 % gar nicht bemerkt wird, weil sie nicht bei der Vollversammlung oder sonst irgendwie an der Diskussion beteiligt sind, geht an den Bedürfnissen der Mitglieder vorbei. Stattdessen müssen sich die Amtsträger*innen dem Tempo der Basis anpassen und notfalls in Einzelgesprächen vom Sinn ihres Vorschlages überzeugen – sowie natürlich den Vorschlag entsprechend der Bedenken und Einwände der Basis anpassen.

Das stellt uns aber vor ein grundlegendes Problem: Diese Arbeit beansprucht sehr viel Zeit und Energie. Daher ist bei den Zapatistas klar: Wer Arbeit für die Organisation übernimmt, wird in dem Maße unterstützt, wie sie*er es benötigt. Dass sie dabei nicht in unserem Sinne entlohnt werden, haben wir bis zur Reise als Gemeinsamkeit mit dem Anarchosyndikalismus missverstanden, in dem es ja keine bezahlten Funktionär*innen gibt. Es hat aber vielmehr mit dem Kontext zu tun: Die Zapatistas leben in einer kleinbäuerlichen, überwiegend in Subsistenzwirtschaft lebenden Gesellschaft, wo Geld im Alltag eine viel geringere Rolle spielt und sehr viel schwerer zu bekommen ist. Wer in die gute Regierung gewählt wird, wird sehr wohl in den Arbeiten unterstützt, die am ehesten unserer Erwerbsarbeit entsprechen, etwa indem das Feld bearbeitet oder im Haushalt geholfen wird. Allerdings kommen Anarchosyndikalismus und Zapatismus in einem entscheidenden Punkt wieder zusammen: Ein Amt in der Selbstverwaltung bringt weder Macht noch Geld.

Dennoch ergibt sich für uns in Bezug auf die FAU und andere Organisationen mit verbindlicher Mitgliedschaft (wieder einmal) die Frage: Sollten wir uns kollektive Formen überlegen, unsere Amtsträger*innen zu unterstützen, um sie von ihrer Lohn- oder sonstigen Arbeit zu entlasten? Wie soll sonst bei immer komplexeren Strukturen der Überblick behalten und am besten auch noch aktiv auf die Mitglieder zugegangen werden? Es würde auch die Chance erhöhen, dass Leute solche Ämter übernehmen können, die sonst eher nicht die Energie dafür haben: Eltern, diskriminierte Menschen, prekär Beschäftigte. Um die zeitlichen und/oder finanziellen Ressourcen für diese Unterstützung zu schaffen, scheint uns die kollektive Arbeit ein vielversprechender Weg: In einer Kooperative können Menschen freier ihre Zeit einteilen, um nebenher bspw. einen „politisches Amt“ zu bekleiden, die Kooperative könnte auch aus ihren Einnahmen etwas beitragen. Und schließlich müssen wir ja irgendwo die kollektive Arbeit lernen, bevor wir die Produktionsmittel übernehmen.

Der berechtigten Sorge, dass sich bei bezahlten Posten Machtdynamiken und Eigeninteressen entwickeln, könnte begegnet werden: Klar beschränkte Befugnisse und begrenzte Amtszeiten haben wir in der FAU schon – vielleicht würden sich dann auch leichter Nachfolger*innen für Ämter finden lassen. Die Unterstützung sollte auch nur eine Entlastung sein, nicht einen neuen „Job“ schaffen. Sie müsste ja nicht einmal notwendigerweise finanzieller Natur sein. Zudem könnten wir wie die Zapatistas, aber an unseren Kontext angepasst, Prinzipien entwickeln, nach denen Amtsträger*innen zu handeln haben. Bei den Zapatistas stellt sich übrigens niemand selbst zur Wahl – das Kollektiv wählt aus, wem es als nächstes welche Verantwortung anvertrauen will.

Das waren einige Anregungen, die wir aus dem Austausch mit den Compas mitgenommen haben. Wir könnten noch sehr viel mehr schreiben. Noch steht nicht fest, wohin es mit dem „Netz der Rebellion“, also der Organisierung, die sich für die Reise gebildet hat, weiter gehen wird. Momentan sind wir alle am Auswerten und werden sicherlich noch so manchen Gedanken in unsere Strukturen tragen, um ihn dort zu diskutieren. In den nächsten Monaten werden wir auch praktisch unsere Solidarität unter Beweis stellen müssen, wenn es darum geht, das Megaprojekt „Tren Maya“ zu stoppen, an dem u. a. die DB beteiligt ist.

Am 12. Oktober 2022 wollen die Compas Zapatistas und der nationale Indigenenkongress (CNI) unsere Gedanken hören zu der Frage: „Wie weiter?“

Titelbild: © Ya Basta Netz

Ein Kommentar zu «Selbstverwaltung braucht Herz»

  1. Danke für den Artikel. Ich bin sehr interessiert an den sieben Prinzipien. Leider wurde nur ein Beispiel aufgeführt. Könnt ihr mir mehr zu den weiteren Prinzipien zukommen lassen?
    Gruß aus Taiwan,
    Martin

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