“Dann müssen wir ja selbst runterlaufen und uns Essen holen! In der Zeit verlieren wir doch viel Geld!” Das entfuhr dem Mund etlicher Banker in Hong Kong Island, einem der wichtigsten globalen Finanzstandorte, als bis zu 300 Deliveroo-Fahrer*innen Ende März für zwei Tage in den Streik traten. Am 22. und 23. Januar trafen sich die Fahrer, einschließlich der wenigen Fahrerinnen von Deliveroo vor dem Büro Cleverly Street und verweigerten das Ausfahren von Essen.
Sie forderten u.a. ordentliche Beschäftigungsverhältnisse anstelle von Scheinselbstständigkeit, die Beibehaltung des 11-Stunden Tages und die Kostenübernahme von Strafzetteln. Über den Streik wurde bereits berichtet. (siehe dazu z.B.: Hong Kong Workers’ News)
Wir wollen hier versuchen, einige Hintergründe des Streiks und die Arbeitsbedingungen der Fahrer*innen in Hongkong zu beleuchten. Auf der Hauptinsel Hongkong, wo die Wolkenkratzer von Banken, Geschäftszentralen und Handelshäusern dicht gedrängt in den Himmel ragen, arbeiten etwa 500 Fahrer*innen für Deliveroo. In anderen Stadtteilen wie Kowloon arbeiten weniger, denn hier gibt es viel weniger Bürogebäude und vor allem weniger gut- und hochbezahlte Stadtbewohner*innen.
Neben Deliveroo bieten auch Foodpanda, das dem Berliner Konzern Delivery Hero (Foodora) gehört, UberEats und Honest-B Essenslieferdienste an. Foodpanda beherrschte vor ein bis zwei Jahren den Liefermarkt in Hongkong, verlor aber sehr viele Marktanteile an Deliveroo, das jetzt wahrscheinlich zwei Drittel oder mehr der Essenslieferungen besorgt. Während bei Foodpanda alle Fahrer*innen als Angestellte, einschließlich Sozial- und Krankenversicherung, angestellt sind, arbeiten die Fahrer*innen anderer Dienste als Freelancer.
Die größte Gruppe der überwiegend männlichen Fahrer haben einen migrantischen Hintergrund aus Südasien, insbesondere Pakistan und Indien. Viele von ihnen leben entweder schon zehn oder zwanzig Jahre in Hongkong oder sind hier geboren und aufgewachsen; alle oder fast alle von ihnen besitzen eine Hongkonger Staatsbürgerschaft. Sie sprechen oft untereinander Urdu oder Hindu und Englisch und nicht wenige sprechen Kantonesisch. Aber nicht viele dieser Gruppen können Kantonesisch lesen, dies und die fehlende gute Ausbildung erschwert ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt. Oft sind sie Mitte Dreißig bis Mitte oder Ende Vierzig oder älter. Lokale Hongkonger mit ostasiatischem Hintergrund bilden eine Minderheit. Sie sind oft jung, unter Dreißig und sprechen Kantonesisch als Muttersprache und – wenn überhaupt – nur sehr bruchstückhaft Englisch. Auch einige junge Einwanderer aus Festlandchina arbeiten hier.
Die Fahrer*innen mit ostasiatischem Hintergrund haben es zwar sprachlich leichter als ihre Kollegen, aber aufgrund fehlender Ausbildung bzw. Studium bieten sich für sie auf dem sehr verschlossenen Hongkonger Arbeitsmarkt nur einfache, angelernte Beschäftigungsmöglichkeiten. Die beiden Gruppen verbringen die Pausen oft relativ getrennt voneinander, z.B. die einen in einem kleinen Park, die anderen eine Straßenecke weiter auf ihren Motorrollern. Es schien uns aber nicht so, als gäbe es besondere Spannungen oder tiefe Kommunikationsbarrieren zwischen diesen beiden Gruppen.
Der Auslöser für den Streik war die Abschaffung der garantierten elf entlohnten Arbeitsstunden am Tag. Bis dahin garantierte Deliveroo seinen Fahrer*innen 11-Stunden-Tage und zahlte pro Stunde 75 HKD (etwa 8 Euro) pro Stunde, wenn innerhalb der 11 Stunden mindestens 11 Lieferungen besorgt wurden. Ab der zwölften Lieferung gab es 20 HKD (ca. 2,30 Euro) pro Lieferung. Nun sollte die Garantie für 11 Stunden wegfallen und die Fahrer*innen nach Bedarf später bestellt oder früher in den Feierabend geschickt werden. Die bis dahin durchschnittlich über 1000 HKD am Tag sollten also zusammenschmelzen. Für die Fahrer*innen ist der Tagessatz wichtig, das, was sie absolut verdienen können, dafür nehmen sie auch die sehr langen Arbeitstage und Pedelwege in Kauf. Der Wegfall dieser Garantie brachte die Fahrer*innen auf die Straße und ließ beide Gruppen zusammen kommen. Die Initiative ging von Fahrer*innen mit südasiatischem Hintergrund aus, die sich sehr schnell untereinander einigten, im Park nahe des Deliveroo-Büros versammelten und sehr bald andere Fahrer*innen von der Notwenigkeit zu streiken überzeugten.
Ein Streik für die Beibehaltung des 11-Stundentages! Diese Forderung wird verständlicher, wenn die Lebensbedingungen vieler Fahrer*innen betrachtet werden. Insbesondere diejenigen mit südasiatischem Hintergrund, mit denen wir gesprochen haben, haben Familien zu versorgen. Die Mieten in Hongkong sind extrem hoch, auf dem privaten Mietmarkt sind verfügbare Wohnungen sehr eng und oft fensterlos und auch die Schulgelder sind sehr teuer.
Ein Fahrer, mit dem wir sprachen, hat vier Kinder und muss für ihre Schulgebühren aufkommen. Er und auch viele seiner Kolleg*innen arbeiten jeden Tag, auch am Wochenende, in 11-Stundenschichten; im Monat macht er nur an ein oder zwei Tagen frei. So kann er ca. 28.000 HKD verdienen, wobei er bis zu 10.000 HKD an Ausgaben für das Fahrzeug, Benzin etc. hat. Bleiben also 18.000 HKD, ca. 2.000 Euro. Das sind sehr viele Arbeitsstunden, aber auch vergleichsweise gutes Geld. Denn viele der Deliveroo-Fahrer waren vorher entweder bei anderen Lieferdiensten beschäftigt oder haben auf dem Bau als Gerüstbauer gearbeitet. Hier sind die Löhne, bzw. die in absoluten Zahlen höchsten Verdienstmöglichkeiten, oft niedriger. Der Gerüstbau ist nicht nur gefährlich, sondern körperlich anstrengender als das Essenausfahren. Vor diesem Hintergrund sind die Lieferdienste keine schlechte Alternative für viele – vorausgesetzt, die Arbeiter*innen können auf garantierte Stundenzahlen setzen. Fällt diese Garantie weg, schwindet auch die Möglichkeit, den Familienunterhalt zu erwirtschaften.
Daher stand für Fahrer*innen die Forderung nach garantierten 11-Stundentagen im Mittelpunkt des Streiks, dies war der gemeinsame Nenner aller Streikenden. Viele Fahrer erzählten uns aber auch von weiteren Forderungen, u.a. dass sie eine formelle Anstellung statt Scheinselbstständigkeit wollen, beschwerten sich “wir sind Freelancer, aber wir haben keine Freiheit”. Auch soll Deliveroo die Versicherungen, Rentenbeiträge und Strafzettel bezahlen. Was auch einige Fahrer*innen geärgert hat, war die Streichung des monatlichen Firmenabendessen, dass Deliveroo vormals organisiert hatte. Alles in allem hat dies das Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen gebracht.
Für die Streikmobilisierung der Gewerkschaft war dies nicht relevant, sie erfuhr davon erst aus den Nachrichten, schickte Vertretende, um vor Ort Mitglieder zu werben und um einen Rechtsbeistand anzubieten. Die Streikverhandlungen wurden hauptsächlich von Sprechern der südasiatischen Gruppe geführt, welche recht früh aktiv wurde. Wer die Verhandlungen genau geführt hat und wie sie mit den übrigen Streikenden abgestimmt wurde, konnten wir nachträglich nicht mehr genau herausfinden. Vorerst hatten die Streikenden gewonnen. Deliveroo musste die Garantie für die 11-Stundentage erneuern. Vorerst, denn im Laufe des April erfuhren wir wiederholt davon, dass diese Garantie aufgeweicht wurde.
Wir werden weiter beobachten, was geschieht. Sicherlich haben die Fahrer*innen durch den Streik ein Mittel gefunden, sich zu wehren – und werden dies so schnell auch nicht vergessen: Fahrer*innen, die uns vom Streik erzählten, hatten stets ein kaum zu übersehendes Leuchten in den Augen und sichtlich Spaß daran, es Deliveroo einmal gezeigt zu haben.
Ein Kommentar zu «Streik bei Deliveroo: Hongkonger Banker in Angst um Verluste»