Am 14. November gab es den ersten länderübergreifenden europäischen politischen Streik. Schwerpunkte waren Spanien, Zypern, Malta, Italien, Portugal, aber auch einige Branchen in Belgien. In Deutschland beschränkte sich der Aktionstag auf Solidaritätskundgebungen, die von linken Gruppen und der FAU initiiert worden waren. Nachdem linke GewerkschafterInnen noch einen Monat vor dem Aktionstag in Offenen Briefen die Vorstände von DGB und Einzelgewerkschaften daran erinnerten, dass der 14. November in den europäischen Gewerkschaftsgremien einvernehmlich unterstützt worden war, sprang auch der Gewerkschaftsapparat auf den Zug auf.
Die linkssozialdemokratische Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte bereits im Mai 2012 in Berlin einen Kongress zum Thema Politischer Streik in Europa veranstaltet und GewerkschafterInnen aus verschiedenen europäischen Ländern eingeladen. Dabei wurde aber schnell deutlich, dass die Renaissance des politischen Streiks aus einer defensiven Position erfolgt. Weil durch die zunehmende internationale Vernetzung der Produktion kaum noch erfolgreiche Fabrikkämpfe zu führen seien, verlagern sich in vielen europäischen Ländern die Arbeitskämpfe auf das politische Terrain, so das Fazit vieler der eingeladenen GewerkschafterInnen.
Der in der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Gewerkschaftspolitik zuständige Referent Florian Wilde hat kürzlich gemeinsam mit den Politologen Jörg Nowak und Alexander Gallas im VSA-Verlag ein Buch mit dem Titel „Politische Streiks im Europa der Krise“ herausgegeben. Wilde skizziert dort den defensiven Kontext, in dem sich die politischen Streiks heute abspielen und der sich diametral von den Zeiten unterscheiden, als Rosa Luxemburg in den Massenstreiks eine Schule zur Vorbereitung der politischen Revolution sah.
„Die zunehmende Zahl von politischen Streiks und Generalstreiks ist zunächst Ausdruck der hochgradig defensiven Stellung, in der sich die Gewerkschaften nach drei von Niederlagen geprägten Dekaden heute befinden […]. Die Gewerkschaften und die gesellschaftliche Linke kämpfen in dieser Situation mit dem Rücken an der Wand. Aus dieser Konstellation ergibt sich sowohl die massive Zunahme politischer Streiks als auch ihr vorrangig defensiver Charakter“, schreibt Wilde.
Vergessene politische Streiks in Deutschland
In einem eigenen Kapitel wird ein kurzer Rückblick auf die politischen Streiks in der BRD gegeben, die heute weitgehend vergessen sind. Ein Grund dafür dürfte sein, dass die politischen Streiks in der Regel nicht so benannt wurden, weil sie ungesetzlich sind und die DGB-Gewerkschaften immer auf dem Legalitätsprinzip beharrten. Mit dieser Position lehnten DGB- und IG-Metall-Vorstände vehement Aufrufe von außerparlamentarischen Gruppen ab, mit den Mitteln des Generalstreiks gegen die Wiederbewaffnung oder die Notstandgesetze zu protestieren. Dieses Legalitätsprinzip bewahrte GewerkschafterInnen nicht vor Kriminalisierung, wie die langjährige IG-Metall-Bevollmächtigte Heidi Scharf am Beispiel des Stuttgarter Frauenstreiktags vom 8. März 1994 erläuterte. Scharf und eine weitere Gewerkschafterin erhielten einen Strafbefehl wegen Rädelsführerschaft, weil sie eine nicht für den Fußgängerübergang vorgesehene Straßenkreuzung überquerten. Lehnten die Gewerkschaftsvorstände Aufrufe zu politischen Streiks bei Themen vehement ab, in denen sie hätten in Konfrontation zur SPD gehen müssen, wie es bei den Notstandsgesetzen und der Wiederbewaffnung der Fall war, so unterstützten sie schon mal politische Arbeitsniederlegungen, wenn auch die SPD davon profitierte.
So gab es 1972 anlässlich des letztlich gescheiterten Misstrauensvotums der Unionsparteien gegen die Regierung Brandt/Scheel Arbeitsniederlagen in verschiedenen Großfabriken, die von der Gewerkschaftsbasis ausgingen und Unterstützung bis auf die Vorstandsebene fanden. Aber auch die Arbeitsniederlegungen Mitte der 1980er Jahre gegen den heute weitgehend vergessenen „Franke-Erlass“, die eindeutig als politische Streiks zu klassifizieren waren, genossen die Unterstützung von DGB-Vorständen und der SPD. Dabei ging es um eine Verfügung des damaligen Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit, Lohnabhängigen, die während eines Streiks von den Unternehmen ausgesperrt wurden, keine Unterstützungsleistungen mehr zu gewähren.
Hinter Franke stand die konservative-liberale Bundesregierung, die nach dem Vorbild der britischen Thatcher-Regierung auch in Deutschland die Gewerkschaftsmacht einschränken wollte. Dabei ging es aber nicht um eine Beschränkung von Arbeiterselbstorganisation. Getroffen werden sollte vielmehr ein eng mit der SPD verbundener Gewerkschaftsapparat. Die SPD versuchte ihrerseits mit ihrer Kampagne gegen den Franke-Erlass während der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt verloren gegangenes Vertrauen bei Teilen der Gewerkschaftsbasis zurückzugewinnen. Daraus wird deutlich, dass auch die Unterstützung eines politischen Streiks durch die Gewerkschaftsvorstände kein Indiz für eine Linksentwicklung des Apparats sein muss.
Machtkampf im Zeitungsstreik
Es gab aber auch in der bundesdeutschen Geschichte Beispiele für politische Streiks, die sich zum Machtkampf zwischen Teilen der Lohnabhängigen und den Staatsapparaten entwickelten. Dazu gehört der Zeitungsstreik von 1952. Er war Teil des Kampfes der DGB-Gewerkschaften um eine erweitere Mitbestimmung in der frühen BRD. Anfang der 1950er Jahre, als die Restauration der alten Besitz- und Machtverhältnisse in der BRD in vollem Gange war, wollten die Gewerkschaften mit dem Kampf um die Mitbestimmung ihren Anspruch auf die Mitverwaltung im Staat deutlich machen. Doch die politischen Eliten hatten daran kein Interesse, zumindest nicht, solange die Gewerkschaften dazu auch Kampfmittel einsetzen. Gerade mit dem überraschenden, weil unangekündigten Zeitungsstreik begaben sich die Gewerkschaften auf ein politisches Feld, in dem sie praktisch demonstrierten, dass sie die Macht hatten, die Medien zum Schweigen zu bringen, die überwiegend eine Kampagne gegen die Gewerkschaften gefahren hatten. Hier blitzte tatsächlich die Vorstellung der Macht einer Arbeiterklasse auf. 1919 hatten bewaffnete ArbeiterInnen das Berliner Zeitungsviertel besetzt, was die SPD-Führung mit dem Standrecht und dem Einsatz der konterrevolutionären Freikorps beantworte.
1952 hatten die DGB-Gewerkschaften mit ihrem Zeitungsstreik keineswegs eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft im Sinn. Aber sie wollten demonstrieren, dass sie durchaus Druckmittel haben, um ihren Platz als Sozial- und Mitbestimmungspartner durchzusetzen und damit Verhandlungen zu erzwingen. Wer im Spiegel1 jener Tage liest, wie Betriebsräte und GewerkschafterInnen den Versuchen der Bundesregierung, als Antwort auf den Zeitungsstreik ein eigenes Bulletin herauszugeben, enge Grenzen setzten und mehrmals den Titel und die Auflage korrigierten, bekommt tatsächlich den Eindruck, hier gab es in Ansätzen eine Art Gegenmacht. Der Kapitalseite war das sehr bewusst, was sich an der Intervention einiger Verlegerverbände zeigte, die sich gegen die Herausgabe des Bulletins wandten, weil sie die befürchteten, die Gewerkschaften könnten darauf mit einer Streikverlängerung reagieren.
Nipperdey kassiert politisches Streikrecht
Die juristischen Gegenmaßnahmen folgten schnell. Die Verleger klagten gegen die Streiks. Nachdem mehrere Landesarbeitsgerichte den Ausstand für „ungesetzlich und sittenwidrig“ erklärt hatten, befasste sich schließlich das Bundesarbeitsgericht mit dem Fall. Der Gründer der Kölner Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht an der Kölner Universität, Carl Nipperdey, verfasste ein Gutachten, das Streiks nur im Rahmen von Tarifforderungen für zulässig erklärte und schuf damit jenes deutsche Sonderrecht, das als Verbot von politischen Streiks bekannt ist. Als Vorsitzender Richter des Bundesarbeitsgerichtes schrieb Nipperdey 1958 die in dem Gutachten niedergeschriebenen Grundsätze in einem Urteil gegen den von der IG Metall ausgerufenen Streik zum Kampf für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall fest. Er erklärte ihn für ungesetzlich und verurteilte die Gewerkschaft zu einem Schadenersatz von 38 Millionen Mark an die bestreikten Unternehmer.
Wenn auch juristische Autoren Nipperdey als „Anreger für eine Neubegründung des juristischen Denkens“ feierten, so hat sich der Jurist an der Akademie für Deutsches Recht im Nationalsozialismus erste wissenschaftliche Sporen im Kampf gegen die Selbstorganisation der ArbeiterInnen verdient. So schrieb er 1937 in der Fachzeitschrift „Deutsches Arbeitsrecht“ einen Aufsatz unter dem Titel „Die Pflicht des Gefolgsmanns zur Arbeitsleistung“. Aber es wäre sicher falsch, Nipperdey noch in den 1950er und 60er Jahren als Gefolgsmann des Nationalsozialismus zu sehen. Er stand vielmehr in der Tradition konservativer WissenschaftlerInnen, die Klassenkampf und Streiks ablehnten und für eine ständische Gesellschaft eintraten, in denen statt Streik und Widerstand Gefolgschaft und Unterordnung herrschen sollten. Diese Ideologien sind älter als der Nationalsozialismus und mit diesem natürlich nicht verschwunden. Sie haben sich selbst in Teilen der Lohnabhängigen gehalten. Wenn aktuell wieder verstärkt über politischen Streik in Deutschland gesprochen wird, gilt es gerade diesen Vorstellungen den Kampf anzusagen. Es ist daher nicht in erster Linie eine Frage der Gesetze, wie es linke DGB-GewerkschafterInnen wie der hessische IG-Bau-Sekretär Veit Wilhelmy sehen, die eine Kampagne für ein Recht für ein umfassendes Streikrecht begonnen haben und dafür unter einem Wiesbadener Appell2 Unterschriften sammeln. Diese Initiative ist sicher nicht falsch. Der politische Streik wird aber an den Arbeitsstellen und auf der Straße geführt und gewonnen.
Politischer Streik – heute noch aktuell?
Dabei werden sich manche fragen, ob die Frage eines politischen Streiks angesichts der Veränderung der Arbeitsverhältnisse nicht obsolet geworden ist. Schließlich dominieren isolierte Arbeitsplätze und die Großfabriken verschwinden zumindest in Mitteleuropa. Daraus ziehen auch viele anarchistische Gruppen den Schluss, dass heute Kämpfe nur noch außerhalb der Produktionssphäre möglich sind. So heißt es in einem Interview des anarchistischen Kollektivs Crimethinc in der Jungle World 8/2012: „Wir haben es mit Prekarität zu tun. Damit, dass wir keine feste Position mehr in der Wirtschaft haben“. Als Alternative wird die Occupy-Bewegung genannt, die gezeigt habe, dass und wie es möglich ist, solche Kämpfe außerhalb der eigenen Arbeitsplätze zu führen. Ähnlich argumentierte eine studentisch geprägte Berliner Initiative, die kürzlich eine Streikzeitung herausgab. Im Editorial schreiben sie, dass sich die AktivistInnen den Streikbegriff aneignen, „auch in dem Bewußtsein, dass Streik im klassischen Sinn als Arbeiter_innenkampf weder zeitgemäß noch realistisch ist“. Dabei machen beide Gruppen den Fehler, Streiks mit Massenkämpfen in Großfabriken zu verbinden. Sie vergessen dabei, dass unter den heutigen Arbeitsbedingungen Streiks geführt und auch gewonnen werden. Erinnert sei an die Putzleute in den Südstaaten der USA, die der Regisseur Ken Loach in seinen Film Bread and Roses würdigt, oder an die weniger spektakulären Arbeitskämpfe in Callcentern, in Spätverkäufen und anderen Branchen des Niedriglohnsektors. Wer solche Kämpfe ignoriert, braucht über politische Streiks nicht zu reden.