Marxistischer Dreisatz

Wenn ich alte marxistische Traktate über die Sowjetunion lese, überkommt mich meist ein mentaler Brechreiz. Das mag dem Privileg geschuldet sein, heute Geschichte aus einer anderen Warte beurteilen zu können. Schließlich hätte man ja selbst, wie ein Großteil der internationalen Arbeiterbewegung, dem Mythos vom „Heimatland aller Werktätigen“ auf den Leim gehen können. Auch manch Anarchistin war davor nicht gefeit. Doch spätestens seit dem 1921 niedergeschlagenen Aufstand von Kronstadt war die Positionierung in der anarchistischen Bewegung eindeutig, wurde genug Wissen über den „Arbeiter- und Bauernstaat“ gestreut. Und nicht zuletzt gab es in den Jahren, ja Jahrzehnten vor der Oktoberrevolution eine Debatte in der Arbeiterbewegung, unter welcher revolutionären Strategie sich diese formieren muss, um eine freie Gesellschaft hervorbringen zu können. Nein, mangelnde Informationen über das Wesen des Bolschewismus können es nicht gewesen sein.

So ist es immer wieder erschütternd festzustellen, zu welchem Luftschloss sich noch Jahre später viele Linke die Sowjetunion ausmalten. Dies gilt auch für den jugoslawischen Kommunisten Anté Ciliga, der 1926 in die Sowjetunion auszog, um fast zehn Jahre später, nach einer leidvollen Odyssee, als Gegner des Leninismus hinauszukommen. Seine Erfahrungen schrieb er 1936 bzw. 1941 in zwei Bänden nieder, die bis in die 1960er zu Diskussionen in der europäischen Linken beitrugen. Noch in den 1970ern veröffentlichten auch spanische Anarchisten Ciligas Abrechnung mit der Sowjetunion. In Deutschland wiederum erschien lediglich 1953 eine stark gekürzte Übersetzung des französischen Originals, die von der Linken weitestgehend ignoriert wurde, sicherlich auch, weil sie im Rahmen einer dezidiert antikommunistischen Buchreihe erschien. Nun haben Jochen Gester und Willi Hajek Ciligas Aufzeichnungen aus dem „Land der verwirrenden Lüge“ wieder herausgegeben und der deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht.

Schattenriss einer Gesellschaft

Die Lektüre des Buches lohnt sich allemal, allein schon wegen der persönlichen Impressionen vom Innenleben der Sowjetunion. Was dabei Ciligas „Feldforschungen“ so besonders macht, ist, dass er die Sowjetunion in ihren verschiedensten Facetten kennenlernen konnte: Er kam sowohl mit einfachen ArbeiterInnen in Berührung wie auch Studenten und der Intelligenzija; er hatte Einblicke in die Bürokratie und war selbst als politischer Kader aktiv. Als Oppositioneller lernte er letztlich die Verbannungsorte, Lager und Gefängnisse von innen kennen, mit ihren Insassen aller Couleur. Auf diese Weise zeichnet Ciliga anhand verschiedener „sozialer und psychologischer Typen“ das Bild einer Klassengesellschaft, die er als „staatskapitalistisch“ bezeichnet. Ein „neue Aristokratie“ aus Bürokraten und Parteifunktionären habe die Privilegien der alten Eliten geerbt, nur um die Arbeitermassen mit den Methoden Machiavellis und Napoleons brutaler zu knechten, als es je im Kapitalismus der Fall gewesen. Immer wieder lässt Ciliga die Hoffnung durchblicken, dass sich die „historische Mission“ der gerade darbenden ArbeiterInnen doch noch erfüllen könnte. Denn: „Eine Klasse ergibt sich nicht, sie kämpft“. Das ist für Ciliga die notwendige Implikation einer Klassengesellschaft.

Zu einer „radikalen Kritik“ nicht nur der „stalinistischen Exzesse“, sondern auch der „leninistischen Vorstellung von Masse und Avantgarde“ soll die Neuauflage des Klassikers den Herausgebern zufolge beitragen. Das tut sie zwar, doch lässt die analytische Tiefe etwas zu wünschen übrig – ein Umstand, der auch der Tatsache geschuldet ist, dass in der Neuauflage erneut zentrale Passagen fehlen, die bereits in der deutschen Erstübersetzung unterschlagen wurden. Dies gilt vor allem für das Kapitel, in dem Ciliga in einer Art kritischem Dreisatz von Stalin über Trotzki zu Lenin gelangt, um endlich auch diesen vom Sockel zu stürzen. Seine Reflexionen bleiben aber auch in gekürzter Wiedergabe stets plausibel.

Lenin auch“ – wer noch?

Wird Ciliga aus der konkreten Erfahrung mit Stalins Regime heraus zunächst in der trotzkistischen Opposition aktiv, wendet er sich schon bald auch von Trotzki ab. Diesem wirft er vor, den Systemcharakter der gesellschaftlichen Probleme zu leugnen, wenn er die Sowjetunion lediglich für einen durch die Politik der stalinistischen Bürokratie „deformierten Arbeiterstaat“ halte. Wer Trotzkis „Verratene Revolution“ gelesen hat, weiß wovon Ciliga spricht. Die Grundlagen des Sowjetsystems verteidigte Trotzki, der selbst die „Militarisierung der Arbeit“ und die sowjettypische Arbeitsfront organisiert hatte, ebenso vehement wie die Politik der Turboindustrialisierung. In Anbetracht dieser sowjetischen Auswüchse, der Millionen Menschen zum Opfer fielen, wirkt Trotzki mit seiner Kritik an wirtschaftspolitischen Details wie ein Korinthenkacker. Nicht umsonst gaben viele trotzkistische Oppositionelle Ruhe, als sie Trotzkis Programm von Stalin verwirklicht sahen. Darauf verweist auch Ciliga, der den Konflikt zwischen Stalin und Trotzki als Fraktionskampf in der herrschenden Elite wertet.

In Konsequenz schwört Ciliga denn auch der heiligen Ikone Lenins ab, denn „die russische Revolution war … ein organisches Ganzes. Und Lenin konnte nicht als daran unbeteiligt angesehen werden.“ Als entscheidende Weichenstellung gilt Ciliga dabei die Phase ab 1919, in der den ArbeiterInnen die in Kollektivproduktion betriebenen Fabriken entrissen und der Bürokratie untergeordnet wurden. Mit dieser Monopolisierung sowohl der politischen als auch der wirtschaftlichen Macht in den Händen des Staats habe Lenin „ein totalitäres und bürokratisches Regiment auf den Thron gesetzt“. Infolge dieser Erkenntnis stellt sich Ciliga auf den Standpunkt der bereits 1922 zerschlagenen „Arbeiteropposition“ (siehe Artikel unten).

So plausibel die Kritik an Lenin als Politiker klingt, als Erklärung für die Entwicklung der Revolution ist sie zu sehr subjektbezogen, wenn sie deren Tragik an der „Entfremdung zwischen ihm [Lenin] und den Massen“ festmacht. Revolutionen haben komplexe Dynamiken, deren Verlauf entscheidend davon abhängt, wie sich die daran beteiligten Bewegungen zuvor formiert haben. Daher der bekannte anarchistische Leitspruch, dass die revolutionäre Organisation der Embryo der neuen Gesellschaft sein muss. Doch die Bewegung um Lenin hatte sich, wie fast die gesamte alte marxistische Bewegung, über autoritär organisierte Parteien mit dem Ziel formiert, die staatliche Macht zu erobern. In dieser revolutionären Strategie spielte ein Sozialismus von unten bzw. der Gewerkschaftssozialismus – wie ihn auch die Arbeiteropposition z.T. wünschte – von vornherein keine Rolle. Wer die russische Tragödie verstehen will, muss in die Zeit zurückgehen, wo diese strategischen Weichen gestellt wurden – und den Mut haben, auch den letzten Heiligen zu entehren.

Holger Marcks

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Anté Ciliga
Im Land der verwirrenden Lüge
Die Buchmacherei, Berlin 2010
Hgg. von Jochen Gester & Willi Hajek
304 Seiten für 12 Euro

Über Anté Ciliga

Ciliga wurde 1892 als Sohn kroatischer Bauern geboren. Nach dem Ersten Weltkrieg trat er der Sozialistischen Partei Kroatiens bei, 1920 schloss er sich der Kommunistischen Partei Jugoslawiens an. 1924 ausgewiesen, wechselte er nach Wien, um letztlich 1926 nach Moskau geschickt zu werden, wo er in der jugoslawischen Sektion der Komintern arbeiten sollte. Dort radikalisierte er sich aufgrund des Umgangs mit der Arbeiterklasse und den Oppositionellen, u.a. den Anarchosyndikalisten, und verbrachte ab 1930 seine Zeit in Gefängnissen und Verbannung. Unter Einsatz seines Lebens gelang es ihm 1935, seine Ausweisung durchzusetzen. In Paris schrieb er daraufhin seine Erinnerungen auf und legte sich mit Trotzki u.a. wegen dessen Rolle bei der Niederschlagung des Kronstädter Aufstands an.

Die weitere Biographie des jugoslawischen Linkskommunisten wird durchaus kontrovers beurteilt, aufgrund seines Wirkens in der Zeit von 1941 bis 1945. Denn nach seinem Entkommen aus der Sowjetunion und seiner Zeit in Westeuropa reiste Ciliga in den kroatischen Vasallenstaat der Achsenmächte, den sog. Ustascha-Staat. Dort landete er zwar – zum Tode verurteilt – 1942 im KZ, kam aber 1943 durch eine Intervention pro-alliierter Kräfte in der Ustascha-Verwaltung frei. Im Folgenden arbeitete er als Journalist für die von der Ustascha kontrollierte Presse, bis er 1944 nach Wien und Berlin reiste, „weil er neugierig war auf die sozialen Verhältnisse in Deutschland zwischen dem SS-Staat und den Massen“, wie Stephen Schwartz in einem der Neuauflage beigefügten Aufsatz schreibt. Dieser Beitrag, der u.a. die dubios wirkende Lebensphase Ciligas zu erklären versucht, „weiß das Leben Ciligas auf eine gerechte Weise zu würdigen“, urteilen zumindest die Herausgeber in ihrem Vorwort. Die LeserInnen mögen selbst über Ciligas Werdegang urteilen; die inhaltliche Bedeutung seiner Aufzeichnungen aus der Sowjetunion bleibt gewiss unberührt davon.

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