Gewerkschaft von Unten

Quelle: http://www.arabawy.org/photos/DA: Was waren die Ziele der ägyptischen ArbeiterInnenbewegung vor dem 25. Januar 2011?

Die ägyptischen ArbeiterInnen hatten vor der Revolution zahlreiche Forderungen – hauptsächlich sozioökonomischer Natur. Die meisten waren nicht erfüllt worden und wurden im Lauf der sich entwickelnden Revolution wieder aufgegriffen.

Seit dem historischem Streik bei der „Misr Textile Company“ in Mahalla im Dezember 2006 forderten die ägyptischen ArbeiterInnen einen monatlichen Mindestlohn in Höhe von etwa 210 US-Dollar. Angesichts der steigenden Lebenshaltungskosten kam es bezüglich dieses Mindestlohns zu Gerichtsverhandlungen und zahlreichen Protesten. Das Arbeits- und das Finanzministerium diskutieren zurzeit darüber, den Mindestlohn auf etwa 125 US-Dollar festzulegen. Diese Behörden behaupten, dass es nicht genug Geld gibt, um 210 Dollar zu zahlen. In diesem Zusammenhang fordern die ArbeiterInnen auch einen Maximallohn für Verwaltungsbeamte und Manager, der nicht mehr als das Fünfzehnfache des festgelegten Mindestlohns betragen soll. Die Behörden haben bisher aber weder dem einem noch dem anderen zugestimmt.

Gefordert wird auch ein neues Gewerkschaftsgesetz, dass das Recht unabhängige Gewerkschaften zu gründen festlegt, abseits der Kontrolle der Ägyptischen Gewerkschaftsföderation (Egyptian Trade Union Federation – ETUF). Die ETUF ist laut Gesetz der einzige erlaubte Zusammenschluss. Sie ist eine gelbe Gewerkschaft, staatlich kontrolliert und hat die Gewerkschaftsbewegung seit ihrer Entstehung 1957 monopolisiert.

Seit damals hat die ETUF nur zwei Streiks zugestimmt. Alle anderen Streiks waren wilde oder illegale Streiks. Deshalb fordern die ArbeiterInnen auch das Recht auf Streik, das Recht sich zu organisieren und das Recht auf Kollektivverhandlungen.

DA: Kannst du uns einen kurzen Überblick über zivilgesellschaftliche Organisationsformen und ihre Beziehungen zur ArbeiterInnenbewegung geben?

Seit der Revolution können wir die Entstehung zivilgesellschaftlicher Organisationen beobachten, die es vorher so nicht gab. Diese schließen die „Ägyptische Föderation Unabhängiger Gewerkschaften“ (Egyptian Federation of Independent Trade Unions, EFITU), nachbarschaftliche Zusammenschlüsse und Landarbeitergewerkschaften ein.

Die EFITU wurde am 30. Januar 2011 gegründet. Es gibt zurzeit ca. 200 unabhängige Gewerkschaften mit mehr als 500 000 Mitgliedern in ganz Ägypten. Diese unabhängigen Gewerkschaften stehen in den momentan stattfindenden Arbeitskämpfen an vorderster Front.

Die meisten Nachbarschaftskomitees wurden kurz nach Mubaraks Absetzung aufgelöst. Die noch existierenden Komitees finden sich vor allem in den ArbeiterInnenbezirken der großen Städte. Man hört, dass sie die Infrastruktur und Dienstleistungen in ihren Vierteln zu verbessern versuchen. Sie organisieren für ihre arbeitslosen Mitglieder auch Arbeitsmöglichkeiten, geben Flugblätter und andere Veröffentlichungen heraus und koordinieren sich mit anderen Komitees und formen so gemeinsam Stadt-Komitees.

Was die Landarbeiterzusammenschlüsse betrifft, haben diese Organisationsformen vor dem 25. Januar 2011 in Ägypten nicht existiert. Ägypten hat eine lange Gewerkschaftsgeschichte, aber Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen hatten nie eine eigene Gewerkschaft. Heute gibt es diese in allen Provinzen und Zehntausende sind diesen Zusammenschlüssen in letzter Zeit beigetreten.

DA: Wie organisieren sich die neuen unabhängigen Gewerkschaften intern?

Die Aktionen, Wahlen, Diskussionen usw. werden in einer Generalversammlung organisiert. Diese stimmt kollektiv über Angelegenheiten wie Streiks, Proteste etc. ab. Normalerweise sind das Mehrheitsentscheidungen, kein Konsens.

Im Beispiel der Kairoer Verkehrsbetriebe (Greater Cairo‘s Public Transport Authority, PTA) organisierte und führte die unabhängige Gewerkschaft den Streik von über 35 000 Beschäftigten fast drei Wochen lang. Beinahe die Hälfte der Angestellten – inklusive Busfahrer, Schaffner, Mechaniker, Ingenieure und Verwaltungsangestellte – sind der unabhängigen Gewerkschaft beigetreten. Gleichzeitig ist die andere Hälfte noch Mitglied bei der staatlich kontrollierten Gewerkschaft „General Union of Land Transport Workers“ und damit der gelben ETUF angegliedert.

Die staatlich kontrollierte Gewerkschaft hat diesen Streik verurteilt und angeprangert, genau wie alle früheren Streiks bei der PTA, während die unabhängige Gewerkschaft den Streik in etwa 25 Garagen in Kairo und Umgebung mitorganisiert hat. Einige Streikführer diskutierten sogar den Streik auszuweiten, indem sie die Busse fahren lassen – ohne Fahrscheine zu verkaufen.

DA: Wie sind Frauen in der Bewegung und in den Gewerkschaften involviert?

Arbeiterinnen waren bei Streiks, Protesten und Besetzungen in vorderster Reihe aktiv. Sie sind oft militanter als ihre Kollegen. Allerdings haben sie diese Position nicht in den Gewerkschaften, es gibt sehr wenige Frauen auf führenden Gewerkschaftsposten.

In den kürzlich gegründeten Landarbeitergewerkschaften und –verbänden gibt es praktisch keine weiblichen Mitglieder. Ländliche und bäuerliche Gesellschaften sind weit konservativer und diskriminierender gegenüber Frauen.

Einige der progressiveren unabhängigen Gewerkschaften versuchen die Rolle der Frauen innerhalb der Organisationen zu stärken, trotzdem ist die Repräsentation von Frauen gering. Frauen haben noch einen steilen Weg und Kampf vor sich, was die Gleichheit am Arbeitsplatz betrifft.

Wir radikalen Linken müssen die Gleichberechtigung von Arbeiterinnen, weiblichen Angestelhlten und Bäuerinnen an ihren jeweiligen Arbeitsplätzen vorantreiben. Wir müssen ebenfalls daran arbeiten, zusammen mit diesen Frauen, gleiche Rechte und Möglichkeiten in der Gewerkschaftsbewegung zu fördern.

DA: Wie siehst du die Entwicklung der ägyptischen ArbeiterInnenbewegung in den nächsten Jahren?

Welches Potential siehst du dabei bezüglich selbstorganisierter Graswurzelgewerkschaften und für Gewerkschaften, in denen sich die ArbeiterInnen nach anarchosyndikalistischen Prinzipien organisieren?

Das Phänomen unabhängiger Gewerkschaften in Ägypten ist extrem vielversprechend. ArbeiterInnen organisieren sich in Fabriken, Firmen und Sektoren, wo es früher keine Gewerkschaften gab – z.B. Fischer, Bauern, Taucher, ArbeiterInnen in Lebensmittelgeschäften und Saisonarbeitskräfte. Andere ArbeiterInnen verlassen en masse die staatlich kontrollierte ETUF und schaffen freie Gewerkschaften.

Es muss jedoch erwähnt werden, dass fast alle dieser Gewerkschaften praktisch orientiert sind, d.h. sie kämpfen ausschließlich für Arbeitsangelegenheiten. Wir hoffen, dass sich diese Gewerkschaften zu radikalen revolutionären Gewerkschaften entwickeln, die sich in soziopolitischen Kämpfen engagieren. Wir hoffen, dass diese unabhängigen Gewerkschaften statt hierarchisch zu sein, demokratischer, repräsentativer, militanter und horizontaler sein werden. Wir hoffen, dass ArbeiterInnen ihre RepräsentantInnen/ Delegierten/ gewählte Führung in die Verantwortung nehmen und Korruption und den Missbrauch von Gewerkschaftsgeldern nicht erlauben werden.

Seit mehr als 10 Jahren organisieren sich in Ägypten unabhängige Gewerkschaften. Mit wilden Streiks und Fabrikbesetzungen wehren sich Arbeiterinnen und Arbeiter gegen Schließungen und schlechte Arbeitsbedingungen. „Irgendwo müssen wir in Ägypten anfangen“, sagt der Anarchosyndikalist Jano Charbel. „Ich glaube, mit dieser unabhängigen Gewerkschaftsbewegung werden auch radikalere Gewerkschaften entstehen, die damit anfangen, die Hierarchien in der Fabrik und die ganze Struktur der Gesellschaft zu hinterfragen. Ich denke – ich hoffe –, dass das zu sozialem Aufruhr führen wird, der wiederum zur sozialen Revolution führt – letztlich zur Übernahme der Produktionsmittel.“

Bereits im Frühjahr 2011 führten zwei „Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ in Kairo ein Gespräch mit dem Journalisten Jano Charbel. Dokumentiert ist dies auf ihrer Internetseite: www.klassenlos.tk

Aktuelle Berichte von Jano Charbel über die Lage in Ägypten finden sich in englischer Sprache auf Charbels Blog: http://she2i2.blogspot.com

Schreibe einen Kommentar